Briefspiel:Der Krieg der Farben/Zwölf Jahre

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Weiße.png Geschichten am Rand des Kriegs der Farben Rote.png
Datiert auf: 7. Travia 1041 BF Schauplatz: Katakomben der Tafelbergfestung zu Urbet Entstehungszeitraum: Frühjahr 2018
Protagonisten: Auricanius von Urbet und Reon Croenar ya Torese Autoren/Beteiligte: Haus Urbet.png Gonfaloniere

Zwölf Jahre

„Ehrlich, Ehrwürden, was soll das hier? Denkt ihr, ich habe das Grab Lutisanas noch nie gesehen?“
Der Baron von Aldan war des Rätselns, was der jüngere Praios-Geweihte ihm zeigen wollte, allmählich müde. Nicht, dass er dringend andere Sachen zu erledigen hätte … naja, er hätte schon, aber könnte es ja doch nicht. Nicht solange die Zelle hier in der Tafelbergfestung seine erzwungene Unterkunft blieb.
„Gemach, gemach, Baron“, erwiderte der Geweihte, „ich hoffte, dass ihr euch mittlerweile ein wenig in Geduld geübt hättet … und außerdem sind wir gleich da.“
Reon seufzte. Irgendwie wurde er aus diesem Ausflug mit dem Geweihten nicht schlau. Erst hatte der sich mit ihm über gemeinsame Jugendtage unterhalten, beteuert, wie sehr er in ihm ein Vorbild sah, dem er nacheifern wollte, dessen Stärke und Geradlinigkeit er bewunderte. Und seinen älteren Bruder, mit dem Reon viel mehr zu tun hatte, dabei mit keinem Wort erwähnt. Dann hatte er über die Bedeutung der Geschehnisse von Arivor philosophiert. In den Katakomben hier unter dem Grabtempel war er schließlich fast ganz verstummt. Das hatte ihm, Reon, Zeit für andere Gedanken gelassen: Ob er den Geweihten, der ihn ganz alleine, zudem ungefesselt, durch die Festung führte, etwa nicht einfach überwältigen und einen Fluchtversuch wagen sollte. Er konnte nicht einmal sagen, was ihn mehr davon abhielt: Die Achtung vor der Geweihtenrobe seines Begleiters oder aber die Ungewissheit darüber, welche Sicherheitsvorkehrungen Auricanius möglicherweise doch getroffen hatte. So folgte er dem Urbeter weiter durch die Katakomben, vorbei am prachtvollen Grab der Heiligen, durch einen Nebenkorridor, dann einen kaum beleuchteten Vorraum … bis in eine Grabkammer, die er tatsächlich noch nie zuvor betreten hatte.
Ein Dutzend halb heruntergebrannte Kerzen auf langen eisernen Ständern flankierte einen meisterlich behauenen, aber ansonsten schmucklosen Sarkophag. Der darin Bestattete schien obenauf noch einmal in Stein gehauen zu sein, in alter ritterlicher Pose mit dem Schwert in beiden Händen. Noch bevor Reon das fein nachgemeißelte Gesicht sah, wusste er, wessen Grab dies hier war.
„Zwölf Jahre, Baron. Es sind fast zwölf Jahre vergangen“, fing der Geweihte wieder zu sprechen an. „Wenn ich mir das vor Augen führe, will ich es manchmal gar nicht glauben. Er war 21, als er Valvassor wurde, auch mit der Stimme eurer MutterBoron sei ihrer Seele gnädig – gewählt. Er wurde 25 Jahre alt.“
Der Geweihte machte eine Pause, als müsse er einen Kloß im Hals loswerden. Reon stand stumm daneben.
„Zwölf Jahre … und es kommt mir manchmal so vor, als wär’s vorgestern gewesen, dass ich ihn zuletzt scherzen hörte. Was hätte aus ihm werden können, wenn manche Dinge anders gelaufen wären?“
„Viele Dinge“, wandte Reon mit trockener Stimme ein.
Der Geweihte sah ihn einen Augenblick an. „Viele Dinge vielleicht.“ Er nickte zustimmend. „Aber Baron, wisst ihr, woran ich auch in den vergangenen zwölf Jahren nie gezweifelt habe?“
Reon sah Auricanius fragend an.
„Dass er gute Absichten hatte.“ Der Geweihte machte wieder eine Pause, ehe er fortfuhr. „Er musste so viel schneller erwachsen werden als ihr, als ich. Und dennoch hat er die geliebt, mit denen er aufgewachsen ist. Odina, mich, selbst Yandriga, auch wenn er es bei ihr nicht mehr zeigen konnte. Aber vor allem euch! Dass die Wahl damals diesen Keil zwischen euch schob, das hat er, glaube ich, mit am stärksten bereut.“
Beide Männer verharrten eine ganze Weile schweigend.
„Wisst ihr eigentlich“, fing wieder Auricanius an, „dass wir ihn umbetten mussten?“
Reon sah sein Gegenüber nun erstaunt an.
„Tatsächlich war er erst in Urbasi bestattet worden, weil’s eben seine letzte Heimat war. Als uns die Salsavûr nach der Feuernacht aus der Stadt trieben, wollten wir ihn aber nicht unter den verbrannten Trümmern zurücklassen. Wir mussten seinen Sarg unter vielen anderen Toten hierher schmuggeln. Das ist jetzt auch schon sechs Jahre her.“
Wieder schwiegen beide.
„Sechs Jahre. Zwölf Jahre. Alles verlorene Jahre, in denen unsere Häuser zusammen hätten stehen sollen, ja müssen.“ Der Geweihte sprach nun mit stärkerer Stimme. „Dass euch Domaldo in seiner Arroganz vor einem Jahr abgewiesen hat, als ihr hierher kamt, das war nicht unser Werk, Baron. Dafür können wir nichts. Er schien zum damaligen Zeitpunkt die gegenüber dem da Brasi vernünftigere Variante zu sein. Die Antwort der Gerondrata, wenn man so will. Wir wussten nicht einmal, dass ihr noch lebt, als er hier gewählt wurde. Deshalb gaben wir ihm damals unser Wort, ihn zu unterstützen. Hätten wir uns damals ein paar Wochen später entschieden … dann wahrscheinlich für euch. Für Traviano. Für Jahrhunderte der friedlichen Nachbarschaft. Deshalb flehe ich euch an, lasst uns dieses Blutvergießen zwischen unseren Familien beenden … und eine gemeinsame, nachbarschaftliche, freundschaftliche Zukunft gestalten. Eine Zukunft, die längst Gegenwart sein könnte, wenn manche … vielleicht viele … Dinge damals anders gelaufen wären …“