Briefspiel:Hoher Besuch/Epilog

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Der Letzte Gang des Maru

Sheniloer Geronsweg nahe Navalet, kurz nach Sonnenaufgang am Morgen des 18. Boron 1037 BF

Früher als sonst hatten sich die Devotionalienhändler heute am Rand des Geronsweges eingefunden. Die Straße war so voll, wie sonst nur selten, und schon gar nicht zu dieser Tageszeit. Auch Alricio Battelliere hatte seinen Stand dort aufgebaut. Nicht nur um an diesem Tag ein ordentliches Geschäft zu machen und der Prozession beizuwohnen, sondern auch um Neuigkeiten und Gerüchte über den Verlauf der letzten Tage zu sammeln. Die Menschen waren nicht nur aus dem nahen Côntris gekommen. Selbst aus Pertakis, Gilforn und Chetan hatten sie sich schon früh aufgemacht um zum Geronsweg zu pilgern. Mancherorts hörte man bisweilen noch “Welskoepfe”, “Narrenkaeppler” oder gar “Pertakerschweine”, aber da die Pertakiser gekommen waren um selbst eines großen ponterranischen Toten die Ehre zu erweisen, getraute sich keiner den Boronsfrieden zu stören.
Bereits am Vorabend hatte sich die Kunde darüber verbreitet, was sich in Shenilo zugetragen hatte. Viele Bewohner von Navalet oder Côntris waren selbst zugegen gewesen, oder hatten es von Verwandten oder Freunden gehört, welche selbst zugegen gewesen waren oder jemanden kannten, der alles mit eigenen Augen gesehen hatte. “Mit eigenen Augen sah ich’s, und sah ich’s nicht mit eigenen Augen, so glaubte ich’s nicht,” sagte da einer während das Gedränge um Alricio Battellieres Stand immer größer wurde. “Dem ya Ilsandro haben sie das Gesicht heruntergerissen. Bei lebendigem Leibe gehäutet,” sagte ein altes Mütterchen. “Hast du’s gehört? Signore di Côntris soll dem Ilsandro noch während der Verhandlung das Gesicht heruntergerissen haben, weil er so unverschämte Forderungen gestellt hat.” “Nein, nicht der Ilsandro, der lebt doch noch. Die di Pertakir hat es erwischt, aber Signore El Maru hat versucht beiden das Leben zu retten.” “Was den Pertakern?”
Am gestrigen Tag hatten sich die Signoras und Signores der Ponterra versammelt um den Handelsstreit zwischen den Städten und Shenilo und Pertakis vor dem Auge der Öffentlichkeit beizulegen. Einer der Verhandlungsführer war zur Überraschung einiger auch der steinalte, und von vielen bereits totgeglaubte Signor Lysadion di Côntris gewesen. Gegen Abend sei es dann in der ganzen Stadt zu Aufruhr und Ausschreitungen gekommen. In Teilen der Stadt habe es sogar gebrannt und die unbekannten Aufwiegler hätten den Magistratspalast erstürmt. Dort soll der greise und über alles beliebte Alt-Herr von Côntris unter ungeklärten Ursachen zu Tode gekommen sein. Was sich jedoch genau zugetragen hatte, davon gab es ungefähr genau so viel Geschichten, wie Personen die sich auf der Straße nahe Navalet eingefunden hatten. “Die Pertaker haben Unholde und Soldknechte in die Stadt geschleust, und die ganze Sache angezettelt – das ist so sicher wie das ‘Das Wohl!’ in der Swafnirkirche,” sagte ein besonders Weltgewandter.
Schon alleine darüber, ob Signor Lysadion wirklich im Magistratspalast umgekommen war, darüber gab es gute Zweifel. Einigen Berichten ehemaliger Diener im Spiegelschloss, war Lysadion bereits sieben Jahre zuvor in folge eines Schlagflusses gestorben. Doch wer hatte der Landstadt Shenilo dann im vergangenen Jahr als Erster Rat gedient? “Die Zauberin Rahjineza hat mit ihrem Blendwerk ein Trugbild des Herrn Lysadion geschaffen um die Pertaker hinters Licht zu führen,” munkelte einer. “Iwo, der wahre Maru wurde doch schon lange von einem Gestaltwandler ersetzt. Wo doch das ganze Schloss zu Côntris vom Vielgestaltigen Blender verflucht ist. Ich habe da schon so einige Geschichten gehört. Nicht umsonst sagt man sich das in der Nähe des Schlosses das Grab von Grifo dem Greifer liegen soll…”
Abrupt wurde das Geschnatter der Schaulustigen unterbrochen, als sie der Prozession gewahr wurden, welche sich in aller Stille aus Richtung Shenilo genähert hatte. Die eigentliche Prozession war sehr klein. Vorran ging der Borongeweihte von Côntris, der Diener des Raben Barolo von Schelf. Ihm folgten zwei Rappen mit einem schwarzen Zweispänner, dem Catafalco. Kaum passierte die Totenkutsche die ersten Reihen der Landbevölkerung brach ein Weinen und Wehklagen aus. Gerade die älteren unter den Zuschauern vergossen wahre Tränen der Trauer und des Schmerzes. Das Gerüst des Wagens war mit schwarzen Tüchern verhüllt und verdeckte so den Blick auf den Toten. Dies war insofern seltsam, da es eigentlich üblich war die Toten vor dem Begräbnis öffentlich aufzubahren. “Muss wohl ein scheußlicher Anblick sein,” flüsterte ein bekannter Devotionalienhaendler in Alricios Richtung, “ich habe gehört, er hat ganze zwölf Aufrührer zu Boron geschickt, bevor er selbst zu verschieden ist. Als sie den Saal mit den Toten geöffnet haben, haben sie den Consiliere Umbracor rufen müssen – nicht um die Leichen wegzuschaffen, sondern zur Seelsorge für die armen Schweine die die ganze Sache sauber machen durften.” Der Bekannte zwinkerte Alricio zu. “Bei den meisten der Aufwiegler wissen sie immer noch nicht wer sie sind.”
Hinter dem Zweispänner folgten ganz in Schwarz gekleidet der engste Kreis des Hauses di Côntris. Zuvorderst Asmodena di Côntris, Vogtin von Sarcomella, gefolgt von Jatane di Côntris, der Heroldin von Shenilo, und schließlich das junge Baronspaar von Côntris, Rondriana und Dartan. Darauf folgte überraschenderweise der lange verschmähte Francidio di Côntris mit seiner Familie, und ganz zuletzt in einen Trauerschleier gehüllt und sichtlich bestürzt, die schöne Gloriana di Côntris. “Sie soll mit den Aufwieglern unter einer Decke stecken”, kommentierte Alricios Bekanntschaft, “deshalb der Schleier. Sie weiß genau was sie erwartet. Zu Schade, sollte ihr schöner Kopf nach Bethana aufs Schafott wandern.”
Zu dem Trauerzug, der dem großen Toten die letzte Ehre erwies, zählten auch einige der höchsten Vertreter des Hauses ya Papilio. Seit Generationen ist die Ministerialenfamilie eng mit dem Haus di Côntris verbunden und leistet dem alten Adelshaus treue Dienste.
Gestützt von seiner Tochter Sharane und einem Gehstock schritt der kranke Patriarch, Cavalliere Caron ya Papilio, als erster hinter den Verwandten Lysadions. Gleich dahinter folgte der Resident des Hauses zu Shenilo, Horasio Madarin, an diesem Tag dem Anlass entsprechend ungewohnt ernst. An seinem Arm führte er seine Mutter, Damosella Atroklea, die sonst selten in die Öffentlichkeit tritt. Dann folgten weitere Würdenträger der Ponterra, unter anderem der Gransignore von Shenilo und Schwiegervater des Barons von Côntris, Orsino Carson und der Gransignore von Pertakis Alessandro ya Ilsandro sowie die Baronin von Arinken Guiliana di Matienna. Schließlich kamen der Baron ya Ramaúd, Gishtan re Kust, dem vor einem Götterlauf der Verstorbene als Erster Rat nachgefolgt war, und seine schwangere Gemahlin. Signora Rahjada ya Papilio hätten viele Trauergäste wohl übersehen, hätte sie nicht ein auffälliges Kleid getragen: Ganz in Weiß war dieses, vom Saum bis zur Haube, das ihr braunes Haar verbarg, und altertümlich geschnitten. „Ramaúder Trauertracht“, erfuhr man später: In der alten Hafenstadt gelte Weiß als Farbe des Todes.

“Ein Spitzhut!”
“Sprich keinen Unfug, der Hut ist nichtmal spitz. Aber ein Magus wird’s wohl sein, bei dem Stab!”
Die Anwesenheit eines Magus bewirkte verwirrtes und aufgeregtes Gemurmel. “Hoffentlich soll der diese Scharlatanin aus dem Blautann ersetzen. Ich kann das Gezeter ihres Vogels nicht mehr hören!”
“Stimmt – aber das Vieh sieht auch nicht wirklich freundlich aus!” Oben auf dem Stabe des Magiers hatte sich in diesem Augenblick ein Vogel niedergelassen, der die Sprechenden mit starrem Blick zu mustern schien.
“Ich habe gehört, dass es in Shenilo Magier gibt, die bunte Vögel züchten, und sie für Nachrichten und sowas benutzen.”
“Du sprichst schon wieder Unfug. Das Vieh ist schwarz!”
Nur wenige erkannten in dem Magus den Patriarchen der Sheniloer Familie Menaris, Kvalor, der sich überraschenderweise dem Zuge ebenfalls angeschlossen hatte. Die Krähe, von der die beiden Beobachter gesprochen hatten, krächzte vernehmliche und flog von dannen, in die Côntrisischen Hügel hinein.
Zugegen waren schließlich auch Ilsandor von Hauerndes und ein Teil seiner Offiziere. Die Anwesenheit der Darpatengarde sorgte für allerlei Gesprächsstoff am Wegesrande. “Seht, selbst das fremde Waffenvolk liebte unseren Signore!”
“Sie liebten seine Gold meinst du wohl! Der Baron hat doch Lysadions halbes Schloss verscherbeln müssen, um diese Halbsabschneider zu bestechen!”
Cusimo di Ulfaran nahm ebenfalls an dem Trauerzug für den Maru teil.
Gänzlich in schwarzen Brokat gehüllt ging er auf seinen Stock gestützt, gefolgt von seinem Diener Horatio, der ein grosses und schwer wirkendes Blumenarangement in Form eines Boronrades trug. An Cusimos linken Arm führte er seine Frau Kylvana, die ihr Haar zu einer kunstvoll gestalteten Hochsteckfrisut trug und wie ihr Mann in schwarzen Brokat gehüllt war. Vor allem Cusimo sah man an, dass ihn der Tod Lysadions sehr mitzunehmen schien und einige der älteren Bewohner von Côntris erinnerten sich, dass der Schwertmeister vor Jahren für längere Zeit im Spiegelschloss residierte und bei Lysadion in Lohn und Brot stand, doch einzig seine Frau wusste, dass sich der Schwertmeister schwere Vorwürfe machte weil er Lysadion nicht retten oder zumindest helfen konnte.
Ohne den Maru, so wusste Cusimo, gäbe es keine Freundschaft zwischen ihm und dem jungen Baron Dartan und auch sein neues Heim, der Albornshof, wäre nicht in seinen Besitz gelangt. Cusimo blickte an die Spitze des Zuges zu seinem jungen Freund. Er würde ihm nach angemessener Zeit wieder einen Besuch abstatten und versuchen sein Leid zu lindern. Doch vorher galt es Odina Jobornu zu finden und ihrer gerechten Strafe zu zuführen.
Langsam bewegte sich die Prozession auf der Kronstraße gen Côntris. “Der Signore wird in den Krypten der Familie im Tsatempel der Landstadt beigesetzt. Schon eine seltsame Idee einen Toten im Tsatempel zu bestatten, aber vielleicht schuldet der Signor der Juvenissima noch etwas. Sollte er auf jeden Fall für ein solch langes und erfülltes Leben. Möge die junge Göttin sich seiner treuen Seele annehmen,” kommentierte ein Beistehender. “Das ist doch nur alles Scharade”, meinte ein anderer. “Jeder weiß doch, dass die Gräber der di Côntris alle leer sind. Wer sich dunkler Magie bedient um sein Leben zu verlängern, der findet in keinem Tempel der Götter Frieden.” Schnell brach ein hektisches Gerangel an Alricios Stand aus.
Etwas Nützliches wird hier wohl keiner mehr erfahren. Der Mann war schon eine Märchengestalt, lange bevor er gestorben ist. Zwischen Wahrheit und Mythos wird da schon bald keiner mehr unterscheiden können, dachte Alricio Battelliere und machte sich daran wenigstens die Lysadion-Devotionalien an den Mann zu bringen. Sein Vorgänger hatte sie schon vor dreißig Götterläufen herstellen lassen, eine Investition die sich für ihn nie ausgezahlt hatte, denn er hatte vor fast zwei Jahrzehnten selbst die Reise über das Nirgendmeer angetreten. Dafür würde Alricio jetzt das fünffache des angedachten Preises verlangen.

Einige Zeit später, im Nasuleum derer von Côntris

Der Diener des Raben Barolo wischte sich den Staub an seiner Kutte ab. Dann blickte er mit zufriedenem Nicken auf den nun sauberen steinernen Sarg des verstorbenen Signore Lysadion hinab. Erst etwas später erkannte er kopftschüttelnd seinen Fehler und versuchte nun, den Staub wieder von seiner Kutte zu klopfen. Boron hatte die Signores aus dem Hause di Côntris wahrhaft gesegnet - oder er sorgt sich doch immer recht...nachlässig um ihren Flug übers Nirgendmeer. Barolo schmunzelte. Bei allen spirituellen Implikationen bedeutete das doch immer einige Beweglichkeit des Denkens und Planens. Denn so etwas wie sorgfältige und vorbereitete Planung des Totenkultes war, wenn man für denjenigen des Hauses di Côntris zuständig war, schier unmöglich. Dafür lebten die Signores zu unvorhersehbar lange! Er war seinem Vorgänger noch immer dafür dankbar, dass er auf die Idee mit den hölzernen Masken gekommen war. War es der gute Boranello oder gar die greise Marbiona gewesen? Versonnen dachte er eine Weile darüber nach. Jedenfalls musste man seither keinen Steinmetzmeister mehr bemühen, wenn das Gesicht auf dem Sarkophag mal wieder nicht zu jenem Signore passte, den der Herre Boron abberufen hatte, sondern ein anderes Mitglied des Hauses verstorben war. Aber gegen Staub konnte man wohl nichts unternehmen.
Endlich blickte er sich noch einmal prüfend im Nasuleum um. Dankenswerterweise kam es so selten vor, dass ein amtierender Signore starb, dass der eigentliche Transport und die Anordnung seines Sarkophages nicht in großer Eile zu geschehen hatten, sondern er sich im Gegenteil bereits Jahre zuvor erste Gedanken zu machen begonnen hatte. Freilich hatte er diese mittlerweile längst wieder verworfen. Barolo zuckte die Schultern. Sei's drum, es war gut so, wie es war. Ein weiterer, weiser Vorgänger hatte einst den Vorschlag unterbreitet, dass nur amtierende Signori einen Platz im oberen Teil des Nasuleums erhielten, während sonstige Mitglieder des Hauses die breite Stiege hinab in den tieferen - und vor allem geräumigeren - Teil des Gebäudes getragen werden konnten.
Er wollte sich schon wieder zum Gehen wenden, um sich wieder seinen anderen Pflichten zu widmen, bevor der Sarkophag hinabtransportiert werden würde, als ihm etwas auffiel. Die Maske des dritten Herrn von Côntris fehlte! Barolo begann unter seiner Kutte zu schwitzen. Es war nicht so, dass er häufig hierrunterkam. Eine umfängliche Pflege der Sarkophage - es waren schließlich überhaupt nur vier seit dem Unabhängigkeitskrieg! - war nicht vonnöten und besonders angenehm war die Luft hier unten auch nicht. Die Maske mochte also schon seit längerem fehlen. Barolo beschloss, dem Schnitzmeister, der die Maske des Signore Lysadion anfertigen würde, noch einige Dukaten mehr zuzustecken. Es galt, dem jungen Baron eine wirklich vortreffliche Arbeit vorzusetzen, bevor er ihn von seiner Entdeckung unterrichtete...

Mitgefangen, mitgehangen

Burg Yaquirstein, 19. Boron 1037 BF

Der Räuber Gismondo gehörte ebenfalls zu den Aufrühern im Magistratspalast

Rondrian Vistelli fluchte und wedelte mit einer Hand. Der Vogel krächzte, spreizte die Flügel und verließ den schmalen Luftschlitz in der Mauer der Garnison, in dem er noch eben gesessen hatte. Die Gefangenen erhielten ohnehin wenig mehr als Licht und Luft durch diese Öffnungen, aber weder mochte er ihre Beschwerden über Vogelkot hören, noch war es ein besonders schöner Anblick wenn die allzu hungrige Gefangenen sich eine zusätzliche Speise holten. Auch in Shenilo gab es unter den Schreiberlingen manchen, der so etwas gerne benutzte, um der Garde "ultramontane" Praktiken vorzuhalten.
Der Hauptmann der Leondrisgarde betrat die Garnison auf Burg Yaquirstein und blickte sich im düster gewordenen Licht suchend um. Er hatte die vergangenen Stunden noch einmal nach seiner Frau gesucht, aber auch hier oben, beim einstigen Hort der Draconiter war sie nicht zu finden gewesen. Müdigkeit und Sorge hatten sein Gesicht gezeichnet. Mit einem Ächzen erhob sich eine Gestalt, die auf einem Hocker gesessen hatte. Der Mann hatte eine hässliche Schramme an der Stirn und humpelte. "Hauptmann, gut, dass Ihr da seid!" Rondrian schürzte die Lippen. "Das ist meine Aufgabe, nicht?" Der junge Gardist stockte, ließ sich aber nicht weiter von Rondrians Bemerkung aufhalten, sondern eilte voraus, hinunter zu den Zellen. "Der Kerl wollte nur mit Euch sprechen, Hauptmann. Sagt, er hätte mit Eurer Familie schon zu tun gehabt." Rondrian runzelte die Stirn. "Wie sagtet Ihr noch, war der Name dieses Aufrührers?" "Serpolet, Hauptmann, Gismondo Serpolet." Rondrian stutzte. "Serpolet...so nannte sich der Räuberführer, der Anno 1033 BF meine Schwägerin Rahjane entführt hat. Hat der Mann nur eine Hand?" Der Gardist zögerte nicht lange, sondern nickte. "Dann weist mir den Weg zur Zelle und dann bringt mir den Zwerg, das müssen wir prüfen." "Den Zwerg..?" "Ja, diesen Aram. Er war damals bei der Gruppe, die Signora Rahjane befreite." Der Gardist nickte und eilte schließlich wieder die Treppen hinauf.
Der Aufrührer saß auf einem Bündel stroh und stocherte mit seinem Armstumpf darin herum. Als Rondrian vor ihn trat, blickte Serpolet nicht auf. Der Hauptmann versetzte dem Mann einen Tritt. Serpolet stöhnte und hob den Kopf. Verständnislose Augen trafen den Blick des Hauptmanns. Ein dünnes Rinnsal Speichel hatte den Bart des Mannes verklebt. Aus dem wunden Armstumpf tropfte es rot in das Stroh.
Rondrian Vistelli erkannte in diesem Augenblick bereits, was er erst Stunden später auf Pergament kritzelte. "Maleficant kann nicht mehr befragt werden. Verwicklungen von Gruppierungen, die nicht zum städtischen Popolo der Viertel extra muros gehören möglich, aber hier nicht zu überprüfen."

Shenilo, Ende Boron 1037 BF

Anstelle ihres sonst fast sprichwörtlich gutgelaunten Lächelns zeigt Sharanes Miene eingefrorenen Grimm. Der Schrecken über Zerstörung und Blutvergießen selbst im Magistratspalast ist der friedlichen Frau noch immer ins Gesicht geschrieben. Ebenso zeigt dieses aber ihre Entschlossenheit, ohne Ansehen die Schuldigen abzuurteilen und ihrem Amt als Justitiarin gerecht zu werden.
Vor sind in einer Reihe die gefangenen Rädelsführer versammelt, auf Knien, in Ketten und von der Leondrisgarde bewacht. Mancher blickt ihr trotzig entgegen, mancher hat den Kopf ohne Hoffnung gesenkt. Nur einer streckt ihr Hilfe suchend die gefesselten Hände entgegen: Gobo Presser!“, erkennt die Cavalliera den grobschlächtigen Mann. Er ist mit eigenem und fremdem, getrocknetem Blut beschmiert, sein rechtes Auge zugeschwollen, die Kleidung zerfetzt.
„Ich war's nicht“, sagt er flehentlich. „Ihr müsst mir helfen, Herrin.“
„Du warst dabei“, erwidert sie schlicht. „Deine Familie… hat ihren Ruf. Umso weniger kann ich es zulassen, dass einer der Presser die Faust gegen die Herrschaften in Shenilo erhebt, oder deren Gäste.“
„Aber ich habe nicht als Erster… nicht mit Absicht… mich nur verteidigt“, speit Goboneo seine Ausflüchte aus. Doch Sharane schneidet ihm ungewöhnlich schroff das Wort ab: „Du hattest kein Recht, auf dem Platz zu sein, im Palast. Du hast andere durch die Mauer geschleust und aufgehetzt. Du hast Bedienstete und Signori angegriffen, verletzt, vielleicht getötet. Für alles gibt es Zeugen.“
Gobos Gesicht wird zur Fratze. Er hebt noch einmal die Hände, wie um diese Beschuldigungen abzuwehren: „Da waren… Fremde… Ich habe sie nicht gekannt. Sie haben uns in den Palast geführt!“
Sharane runzelt die Stirn. Etwas in der Art hat sie bereits gehört. Aber es wird nichts ändern: „Über dich wird zu Gericht gesessen werden. Da ich die Justitiarin bin, kann dein Fürsprecher nicht aus meinem Haus kommen.“
Damit dreht sie sich von Presser weg. Eine Wächterin zerrt den Gefangenen auf die Knie zurück. Sharane hat genug Prozesse begleitet oder geleitet, Urteile mit beraten und gefällt, um zu wissen, was Gobo bevorsteht: Schon morgen wird er hängen – ein warnendes Beispiel. Die Papilio können und dürfen ihn nicht schützen. Selbst Yaboc muss das einsehen.
Doch damit werden ihre Verpflichtungen nicht enden: Die Papilios müssen darauf hinwirken, dass die eigentlichen Anstifter der Ausschreitungen gefasst und gerichtet werden. Das erfordert das Auskommen mit Pertakis, das erfordert es, Patron der Presser zu sein.