Briefspiel:Hoher Besuch/König-Khadan-Platz

Aus Liebliches-Feld.net
Zur Navigation springenZur Suche springen
Übersicht   Hintergrund   Prolog   Magistratspalast   König-Khadan-Platz   Theater   Rahjatempel   Magierturm   Garten   Palaststürmer   Epilog   Karte    
Beteiligte (irdisch)
Familie Menaris klein.png Athanasius
Familie Brahl klein.png Brahl
Haus Calven klein.png Calven
Familie ya Malachis.png Cassian
Haus ya Papilio.png Gishtan re Kust
Haus Carson klein.png OrsinoCarson

Shenilo, König-Khadan-Platz, früher Abend des 17. Boron 1037 BF

Der Platz, der den Namen des ersten Königs des Lieblichen Feldes trug, wimmelte bereits von Menschen, als der Magier sich vorsichtig um Durchgang bittend seinen Weg bahnte. Überall verkauften Händler mit Bauchladen Backwaren, Zuckerrüben oder andere kleinere Stärkungen an die wartenden Menschen und efferd- und rahjawärts hatten örtliche Wirte – er vermutete den Silbernen Adler und die Vinsalter Stube – Holzverschläge aufgebaut, um den Durst der Menschen zu stillen. Auch wenn die Porta Pertakia noch immer verschlossen war, hatte sich der Platz mit allerlei Bürgern aus dem Geronsviertel, Cordovano und den anderen Stadtvierteln rasch gefüllt. Alle warteten sie nun darauf, dass durch den roten Vorhang des Balkons die obersten Patrizier von Pertakis und Shenilo traten, um erste Ergebnisse ihrer Verhandlungen zu verkünden. Die Stimmung war gespannt, aber noch nicht angespannt, wie der Magus glaubte, aber das konnte sich mit Dauer der Wartezeit – oder den Reden der beiden Gransignores – ändern. Zwischen der Ostseite des Magistratspalastes und dem Tempel der Svelinya im Norden beziehungsweise der Taverne "Zum Silbernen Adler" im Süden hatten Drachenreiter Aufstellung bezogen, sodass die einzigen Zugänge zum Platz über die Signora-Selinya-Allee im Nordosten und Süden führten. Die Blätter der Bäume raschelten rötlich in schwachem Wind unter dem frühabendlichen Blick des Praiosauges.

Haldoryn Ingvalidion, Lehrmeister des Institutes, stöhnte und krümmte sich einen Augenblick hustend, als ein breitschultriger Mann sich rüde an ihm vorbeischob und sich einen Weg ans westliche Ende des Platzes bahnte. Der Magier wollte dem Trampel schon hinterherrufen, als ihn ein Geräusch stutzen ließ, das unter seinem Husten beinahe untergegangen wäre: Da war ein metallisches Klirren, das den Rempler des Mannes begleitet hatte und jetzt noch schwach, im Trubel des Platzes rasch untergehend, zu vernehmen war. Haldoryns Züge erstarrten schlagartig als er die Silhouette des Mannes scharf musterte. Er nahm seinen Stab voran, verschaffte sich etwas Spielraum und rieb sich über die Schläfen. Haldoryn seufzte erleichtert, als sein Blick schärfer wurde, während der Lärm des Platzes nun dumpfer zu werden schien.

Er hielt nach dem Mann Ausschau und glaubte ihn schon von der Menge verschluckt, als er ihn endlich wiederfand. Mit einer grimmig dreinblickenden Frau mit Bauchladen redend, stand der Mann einige Handvoll Schritt entfernt bei der Büste des ehemaligen Stadtherrn Cordovan. Durch die Menschen hindurchspähend, nickte Haldoryn unmerklich, als er die Oberkörper der beiden musterte. Kettenhemden.

Jetzt griff der Mann zwischen die Zuckerrüben, die im Bauchladen der Frau aufgestapelt waren und holte einen mit Leder umwickelten Gegenstand hervor, der so lange wie ein Unterarm war. Die Herrin der Ratten soll mich niederstrecken und Peraine mir ihre Gnade entziehen, wenn das keine Waffe war. Der Nostrianer warf einen letzten Blick auf die Gesichter der beiden. Nicht Porta Pertakia. Haldoryn unterdrückte einen heftigen Huster und blickte sich suchend um. Er musste seine Freunde finden. Es hatte begonnen.

In einem alten Stall an der Mauer zwischen Porta Pertakia und dem Geronsviertel

Der Schlüssel passte. Nichts anderes hatte Gobo Presser erwartet. Er nickte seinem Vetter Ras anerkennend zu. "Gehilfe? Am Arsch!", fasste er seinen Respekt in seiner Sprache angemessene Worte.

Er schob mit Hilfe einer vierschrötigen Lastenträgerin die wuchtige Tür aus schenkeldicken Bohlen auf. "Beeilt euch!", mahnte er dieses Grüppchen Unzufriedener, die trotz aller Hindernisse denen da oben ihre Meinung zurufen wollten. Eilig zwängte einer nach dem anderen sich durch den entstandenen Spalt, auf der anderen Seite von einem Stapel alter Fässer verborgen.

Gobo schob den Letzten förmlich hindurch, winkte dann Ras mitzukommen. Der blickte betreten zu Boden und schüttelte den Kopf. Der Ältere verzog das Gesicht: "Schiss?" "Ne. Ja. Kann mir nicht erlauben, ein paar Tage im Loch zu sitzen, falls die Leute des Hauptmanns uns schnappen. Der Meister duldet keine Fehltage." Gobo spuckte auf den Boden, um zu zeigen, was er von dem "feinen" Schlüsselmacher hielt.

Aber Ras hatte Recht, sagte er sich dann. Aus dem konnte noch was werden. Er hatte bei einem wichtigen Mann einen Gefallen gut. Vielleicht würde jenes Fürsprache Rascalio eine Lehrstelle eröffnen. Und einen Handwerksgesellen statt eines bloßen geschickten Handlangers könnte die Familie Presser gut gebrauchen.

Gobo boxte Ras gegen die Schulter: "Feigling. Aber wir werden Carson und Ilsandro und den anderen auch ohne dich bescheidstoßen, was wir davon halten, dass die hohen Damen und Herren Shenilos uns kleine Leute an die Pertakken vertickern wollen. Hau ab!", sagte er freundlich.

Die Vierschrötige hatte inzwischen eine Krucke geschultert, in der eine Lage frischer Äpfel den Rest verdeckte, matschig und weich. Trotzdem packte sie kräftig mit an, als Gobo den Durchgang zuzog. Wackeres Weib. Hinter die würde er sich stellen, falls die Garde die Knüppel ziehen sollte. "Auf zum Khadansplatz!", gab er das Signal zum Aufbruch, "und verteilt euch gut. Es sind sicher noch andere unserer Meinung da, die bloß zum Mitmachen gebracht werden wollen."

Zurück auf dem Platz

Auf dem König-Khadan-Platz bewegte sich der rote Vorhang des Balkons. Eine brummelnde Unruhe lag über den Menschen, manche riefen, einige sprachen, viele tuschelten. Die Köpfe der meisten Bürger Shenilos und der anderen Anwesenden waren daher nach Westen gerichtet, so dass es ein kleiner Junge war, der als erster den Vogel sah.

Er zupfte an der Schmiedeschürze seines Vaters. „Da...ein Vogel...Vater...er brennt!“ Es dauerte eine Zeit bis, der ledergesichtige Schmied machte den Anfang, bis sich Gesichter in Richtung des östlichen Himmels wandten. Von dort flog tatsächlich etwas rötlich Gefiedertes heran, Rauch und Flammen hinter sich herziehend.

Ein graubärtiger Zwerg mit Lederkappe und gefettetem Schnurrbart, der in der Nähe der Gedenksäule gestanden hatte, wandte sich ebenfalls um. „Der Alagrimm! Angrosch steh uns bei!“, rief er dann aus.

Ein in wohlhabende Stoffe gewandeter Mann mit leichtem Bauchansatz schüttelte heftig den Kopf, als er sich durch die Menge schob, Pergament in den Händen. „Nein, ein Feuervogel! Fürwahr, so beschreiben ihn die Schriften der Heiligen Harika!“

Eine Frau mit einem herabhängenden Auge blickte in den Himmel, spuckte etwas unschön Gefärbtes auf das Pflaster und gluckste dann. „Das ist kein Feuervogel...das ist ein brennender Papagei!“

Als das Tier zwischen den Rotbuchen der Purpurallee verschwand öffnete sich der Vorhang des Balkons des Magistratspalastes und die beiden Gransignores samt weiteren Würdenträgern traten hervor. Fast alle auf dem König-Khadan-Platz beachteten den brennenden Vogel recht bald nicht mehr. Nur der Schmiedesohn ließ sich nicht von noch so vielen Titeln beirren und blickte seinen Vater mit fragender Miene an. „Hat nicht der alte Defrus so einen Papa-Dings?“ Der Vater zuckte die Schultern und lauschte, was vom Balkon zu hören war.

Balkonereignisse

Die Aufregung um den brennenden Papagei hatte sich trotz der Seltenheit eines solchen Ereignisses in den yaquirischen Gestaden bald gelegt: Immerhin hatte sich auf dem Balkon des Magistratspalastes mittlerweile etwas getan. Die bisher lauten Gespräche unten auf dem Platz machten einem erregten Getuschel Platz, als die Doppeltür von zwei livrierten Dienstleuten geöffnet wurde. Nebeneinander traten die Gransignores von Shenilo und Pertakis, danach die weiteren Verhandlungsführer in luftiger Höhe hinaus vor die Menge. Nur Wenigen fiel auf, dass Maestra Jobornu nicht unter den Auftretenden war.

„Obst, frisches Obst! Chababische Melonen, yaquirische Nusspflaumen, Ruthorer Äpfel! Das Stück Melone nur 5 Kreuzer, kommt, Leute, kauft!“, gellte die Stimme eines hageren Händlers ebenso heiser wie ungerührt durch die Menschenmassen. Ein Knabe mit einer großen Kiepe und einigen wohlgefüllten Säcken schlurfte missmutig hinter ihm her. Obgleich er kein Wort sagte, merkte man seinem Gesichtsausdruck an, dass er mit jedem Schritt seinen Dienstherren, sein Schicksal und die ganze Stadt verfluchte.


Lange hatte das Volk auf dem Khadansplatz warten müssen. Sonderblätter des Hesindeblattes hatte jene, die lesen konnten, über das Treffen und den politischen Hintergrund unterrichtet, aber die meisten hatte die Mundpropaganda hergeführt. Wohl jeder dritte Bürger Shenilos und viele Gäste aus dem Umland waren zusammengeströmt, um zu hören, was ihre Herren zu verkünden hatten.

Die Heroldin der Drachenstadt, Signora Jatane di Côntris, hatte ihre blau-goldene Amtstracht angelegt. Die gewaltige Fanfare, die allein für die höchsten Festtage reserviert war, stand zu ihrer Seite.

Auch der Obsthändler sah mittlerweile zum Balkon hoch. Er schien sein Hand- und Mundwerk völlig vergessen zu haben, als der Knabe ihn am Rockzipfel zog.

„Was ist das denn für eine Tröte, Vater?“

„Hm? Ach, die… die feinen Leute sagen Trompete dazu. Siehst Du, Mago, die Trompete ist so groß, dass ein Diener sie halten muss, wenn die Heroldin darauf spielt. Schau, da steht er schon. Das ist der Mann mit dem Drachen auf dem Hemd. Gleich geht es los!“

Augenblicke später gellte die als profanes Instrument verunglimpfte, herrschaftliche Fanfare ohrenbetäubend über den Platz, woraufhin Gransignor Alessandro vortrat. Offensichtlich hatte er vor, hier zu sprechen. Er rückte kurz den pelzverbrämten Kragen seines übergeworfenen Brokatmantels zurecht, während die Heroldin verkündete: „Volk von Shenilo und der ganzen Ponterra! Im Namen der Eintracht, die Traviens und Tsas Geschenk ist...“

Abermals zupfte der Knabe seinen Vater am Arm.

„Vater?“

Unwirsch wandt sich der Angesprochene zu seinem Sohn: „Was ist denn nun noch?“

„Die machen ein großes Puppentheater!“

„Was redest Du? Was für Puppen?“

„Na, die da!“

Als der Händler sich in die Richtung umdrehte, in die der Kleine zeigte, blieb ihm der Mund offen stehen. Vom Dach der noblen Taverne zum Silbernen Adler, direkt am Platz gelegen, hing eine mannsgroße Strohpuppe.
Als er näher hinsah, bemerkte er mit Schrecken, dass die Puppe nicht nur am Dachfirst aufgehängt, sondern vielmehr mit einem groben Strick um den Hals an einer Hellebarde gehenkt worden war.

Die Figur trug einen simpel genähten Wappenrock, auf dem ein schwarzer Fisch auf weißem Grund unter drei roten Kronen abgebildet war. Man musste keine tiefen Kenntnisse der Heraldik haben, um zu erkennen, dass dies das Wappen der Familie di Pertakir war. Wer sich noch nicht umgewandt hatte, konnte erkennen, dass Saggia di Pertakirs Gesicht ebenso kreidebleich wie wutverzerrt war.

„Was ist das für ein Fisch, Vater?“ In diesem Moment brach auf dem Platz Unruhe aus.

Unruhe

"Buh!", rief Goboneo Presser, laut genug, dass die Umstehenden sein Missfallen hören, aufgreifen und weitertragen konnten. "Fort mit den Pertakken! Wir lassen uns nicht verkaufen!"

Ilsandro sollte nur wagen, Unverschämtheiten von sich zu geben! Die Stimmen um Gobo herum wurden lauter.

Auf der Bühne

"Oho, das wird nun aber interessant! Seht die Puppe dort oben!" Der Jüngling mit den wilden brauen Locken zeigte aufgeregt zum Dach des Silbernen Adlers. Sein Gefährte folgte mit seinem Blick dem ausgestreckten Arm und wurde im nächsten Moment bleich. "Wenn die hohen Herren das sehen, möchte ich nicht in ihrer Nähe stehen. Signor Carson wird außer sich sein!" Beide starrten einen langen Moment auf die gehenkte Puppe, die leicht im Wind hin und her baumelte, wie ein Türgebinde im Perainemond.

"Ist Euer Vater eigentlich hier, Signor Garifoni?"

"Nein, er ist auf Imdallyo. Signor Carson hielt es für unnötig, ihn zu seiner Bedeckung hier zu haben. Möglicherweise ein fataler Irrtum..." "Oh, ich denke, um den müssen wir uns keine Sorgen machen, aber ob Signor Ilsandro diese Stadt unbeschadet verlassen kann...?"

"Dann mögen uns die Zwölfe beistehen. Wie kann man nur so unbedacht und eselsgleich handeln. Was glauben die eigentlich, was ihnen das bringen wird? Wenn's wieder Krieg gibt, werden die Schreihälse und Witzbolde in die erste Reihe gestellt und dürfen ausprobieren, ob die Pertakker seit dem letzten Mal ihre Ballisten gut gepflegt haben." Mit einem spöttischen Lächeln wanderte der Blick des jungen Garifoni hinauf zum Balkon, wo sich eben die Verhandlungsführer versammelt hatten. Auch sie hatten die Puppe und die wachsende Unruhe auf dem Platz bemerkt. "Das kann noch sehr ungemütlich werden hier unten, auch für uns, mein Freund." "Oder für die dort oben. Der Platz ist ganz schön voll und ich glaube nicht, dass viele hier große Sympathie für die werten Gäste dort oben hegen."

"Cui bono? Was soll das alles? Gestern das Theaterstück, heute diese Posse! Wenn die Verhandlungen scheitern, wird's ja wohl kaum besser für Shenilo. So eine Kurzsicht. Diese Respektlosigkeit wird ganz Shenilo den Pertakkern zahlen müssen, in Gold und Silber!" "Die Würfel liegen auf dem Spielbrett. Mal sehen, wer sie zuerst ergreift."

"Ihr redet, als wäre das hier auch nur ein Theaterstück und wir wären die Zuschauer"

"Vielleicht ist es genau das..."

"Aber wird sind hier nicht Zuschauer, sondern stehen mitten auf der Bühne!"

Logenplätze

Cusimo blickte vom Balkon hinab auf die Menge auf dem Platz. Obwohl er "nur" in der zweiten Reihe stand, konnte er sich doch eines Schauers nicht erwehren, der ihm über den Rücken lief. So viele Menschen, die nur darauf warten zu erfahren, was nun entschlossen wurde, ging es ihm durch den Kopf.

Es dauerte einige Augenblicke, bis er realisierte, dass die Aufmerksamkeit des Volkes nicht auf dem Balkon des Magistratspalastes ruhte, sondern auf der Südseite des Platzes. Auch wenn er noch nicht lange in Shenilo lebte, erkannte er das Wappen der di Pertakir. Für einen kurzen Augenblick keimte Schadenfreude in ihm auf. Tja, anscheinend halten die Sheniloer genauso viel von der alten Vettel wie umgekehrt, dachte er mit einer gewissen Genugtuung, sah er doch, wie sich das Gesicht Saggia di Pertakirs vor Wut verzog. Doch diese Schadenfreude verging relativ schnell, als Cusimo merkte, dass eine Unruhe auf dem Platz auszubrechen drohte. Es brauchte bei diesem Thema anscheinend noch weniger Anstoß als er dachte, um die Menschen der Hesindestadt aufzuwiegeln. Cusimo machte einen halben Schritt vor, sodass er nun direkt hinter dem Gransignor Carson und Lysadion di Côntris stand. Zum Einen konnte er nun die Menschenmenge, die unter ihnen wogte, besser im Blick behalten und zum Anderen hatte er nun die Möglichkeit im Falle, dass Wurfgeschosse eingesetzt werden sollten, schnell genug zu reagieren, um die vor ihm Stehenden zu schützen.

Leise sprach er in Richtung Orsinos: "Vielleicht wäre es ratsam sich zunächst noch einmal zurückzuziehen und zu warten, bis sich die Situation beruhigt hat, meint Ihr nicht auch, Gransignor?"

Orsino wandte sich zu Cusimo und prüfte, ob der Lärm laut genug war, dass niemand sonst seine Worte hören konnte: "Das werde ich nicht tun, werter Cusimo. Shenilo ist doch eine Stadt des Lernens. Ich will heute lernen, wie dumm der Popolo Shenilos wirklich ist. Wenn sie wieder einen Krieg wollen, nun denn... Mir scheint, die lautesten Schreihälse sind aus Porta Pertakia. Diesmal wird nicht wieder Gilforn den Schlag abfangen, der letzlich - ja, ich weiß, ich habe diesen Schlag ebenso ausgelöst - Shenilo galt. Und wir werden mit aller Kraft Shenilos Mauern verteidigen, wenn die Pertakiser anrücken. Was vor den Mauern ist, wird dann wohl nieder-gebrannt. Aber der Pöbel kann ja mit Strohpuppen auf die Angreifer werfen."

Orsino machte eine Pause, blickte dann hinunter auf die aufgebrachte Menge und erhob abermals, diesmal deutlich lauter, das Wort: "Das macht mir keine Angst, werter Cusimo, die letzten Male, dass ich von einem solchen Balkon zu einer Volksmenge sprach, war diese deutlich feindseliger und zumeist galt ihr Zorn ganz persönlich mir." Er sah dabei geradewegs nach vorn, kein Blick traf den neben ihm stehenden Alessandro. Aber Orsino war sich sicher, dass dieser die Anspielung verstanden hatte. Die letzten Male, Mehrzahl, also nicht nur Clameth, sondern auch davor...

Er sollte sich ruhig seiner Sicherheit nicht zu gewiss sein, hier in Shenilo.

Derweil in der Menge

"Dennoch werde ich hierbleiben. Ich denke, Signor Carson wird sich dafür interessieren, wer hier die Rädelsführer sind, und seine Dankbarkeit kann ich immer gebrauchen und Ihr noch mehr. Mein Freund, ich stamme ja nicht von hier, seid so gut und nennt mir die Namen derjenigen, die am lautesten brüllen. Der dort vorn, kennt ihr den?" Bernario deutete auf einen wütend schreienden Mann, der einige neben ihm stehende Personen aufforderte, mit in seine Schmährufe einzustimmen. "Ja, den kenne ich..."

Im Haus der Lieblichen

Selten nur spiegelte sich Belenos Frömmigkeit dergestalt in stillen Gebeten und gemeinschaftlicher Andacht wider wie heute. Noch dazu plagte den Gastgeber der Leidenschaft eine innere Unruhe, fürchtete er doch Zwietracht und gar Gewalt in der an diesem Tage schon einmal aufgebrachten Menge vor den Toren seines Tempels - falls die Worte der pertakischen Delegation und seines sheniloer Gegenparts nicht deren unzufriedenen Zuhörern gefielen. Dieser Hass auf die Pertakken wird nur weiteren Schaden gebären, dachte der Rahjageweihte im Stillen, unbeirrt und unbewusst seines eigenen abfälligen Begriffs.

Kaum war der ihm entfleuchte Seufzer verklungen, wurden die verwundert auf ihn gerichteten Blicke der verbliebenen Gläubigen bereits wieder Richtung Portal gezogen. Es war so weit, das Lärmen auf dem Platze zu dieser Stunde konnte nur die lang erwartete Verkündigung der Verhandlungsergebnisse bedeuten. Beleno gönnte sich einen weiteren Seufzer, bevor er sich erhob und den ausnahmsweise verschlossenen Torflügeln des Tempels zuwandte. Wie eine Prozession folgten ihm die weiteren Diener und Gläubigen der Liebholden. Noch unsicherer schloss ein junges Liebespaar die kleine Gruppe ab. Dann stieß der Hochgeweihte die Türen auf.

Die Herrin der Abendröte vermochte die dunklen Schatten der hereinbrechenden Nacht nicht mehr aus dem nur nach oben hin offenen Tempel zu vertreiben, doch den weiten König-Khadan-Platz ringsum flutete sie noch mit eben jenem Lichte. Das half jedoch nicht dabei, die ihr so leidige Zwietracht aus den Gemütern seiner Besucher zu vertreiben. Schnell glaubte Beleno den Stein des Anstoßes ausfindig gemacht zu haben: Die Vordersten der beiden ringenden Drachenhäupter der Ponterra - Pertakis und Shenilo - blickten von ihrem hohen Balkon auf die Menschenmenge hinab. Was hatten sie verkündet, dass Popolo wie Bürgerliche Schmährufe in ihre Richtung entsandten?

Erst als faule Eier und stinkende Abfälle auf Pertakiser Elitereiter, Stadtgardisten und Sheniloer Drachenreiter gleichermaßen prasselten, entdeckte der Geweihte die baumelnde Strohpuppe der Pertakir am Dachfirst des Silbernen Adlers. Deswegen also sprachen die Gransignores nicht, versuchten nicht sich Gehör zu verschaffen, um die Lage zu beruhigen! Doch konnte man überhaupt unbemerkt auf das Dach der wohlbekannten Taverne klettern mit solch brisantem Gepäck? Oder war der Wirt gar eingeweiht? Falls das stimmen sollte, mussten städtische Patrizier hinter der Tat stecken - zu wichtig waren deren häufigen Versammlungen und Tanzabende für den Besitzer des Hauses. Sicher wollte einer eben dieser Patrizier die Stimmung im Volk für sich nutzen, wenn das Ergebnis der Verhandlungen ihm missfiel. Ein Spiel mit dem Feuer, dachte Beleno, während er sprachlos auf den Tumult zu Füßen des marmornen Tempels blickte.

Gartenbesucher

Nur kurze Zeit, nachdem ein brennender Vogel im Garten des Palazzo di Matienna zu Boden gestürzt war, machten sich drei Gestalten, ein Krieger, ein Jüngling und eine nun nicht mehr alla Aureliana gekleidete Dame auf den Weg von ebenjenem Palazzo zum König-Khadan-Platz. Besonders schnell kamen sie nicht voran, da der Jüngling im Hirtengewand immer wieder anhielt, um Häuser, Menschen oder auch nur in die Gosse geworfenen Unrat zu betrachten.

„Was machst du die ganze Zeit?“ fragte der Krieger, während er einen Apfel kaute, den er aus dem Palazzo hatte mitgehen lassen.

„Ich studiere.“ antworte der Jüngling in Gedanken versunken. Er schien einer Gruppe Diurnisten zuzuhören, die ebenfalls auf dem Weg zum Khadanplatz war.


Unterdessen hatte der Krieger seinen Apfel verschlungen und einen Nussverkäufer ausfindig gemacht, bei dem er sich anschickte, einen Beutel Walnüsse zu kaufen. Als er nach seiner Geldkatze suchte, fragte er den Verkäufer „Brennt es hier irgendwo?“

Der Magierturm brennt, habe ich gehört, bei Efferd, hoffentlich...“

„Dann ist ja alles in Ordnung.“ entgegnete der Krieger erleichtert und unterbrach den Verkäufer.

„Ist weit genug vom Palazzo entfernt.“ erklärte er seiner Begleiterin. Der Nussverkäufer wirkte etwas irritiert.


Der Jüngling widmete seine Aufmerksamkeit inzwischen einem Shenilesen, der in dem immer dichter werdenden Wald aus Beinen seinen abhanden gekommenen Besitzer suchte.

„Machst du keine Notizen?“ fragte der Krieger.

„Ein fester Geist macht seine Notizen im Kopf.“

Der Krieger nickte sehr heftig, während er versuchte, eine der Walnüsse zu öffnen.

„Was siehst du?“ fragte seine Begleiterin den Jüngling.

„Die Menschen sind aufgewühlt... wütend...“

„Ist es ein gerechter Zorn, oder die sinnlose Wut wilder Tiere?“

„So weit bin ich noch nicht.“ beschwichtigte der Jüngling. „Ich hätte jedenfalls in einer Hesindestadt mehr Vernunft erwartet.“

„Vernunft, Anstand, Zivilisation, nichts Neues.“

„Deswegen habe ich meinen kleinen Freund hier dabei.“

Der Krieger lüftete seinen Umhang an der Seite, wodurch ein mächtiger Streitkolben kurz zum Vorschein kam. Der Jüngling hatte inzwischen sein Augenmerk auf den Eingang des Rahjatempel gerichtet.

„Schaust du auch in ihre... Köpfe hinein?“ fragte die Begleiterin des Kriegers.

„Wenn sie aufplatzen, schon.“ Bei diesen Worten knackte der Krieger eine Walnuss mit bloßer Hand.

„Ich meine Prospero hier, mein Lieber.“ Sie deutete auf den Jüngling, der ganz fasziniert den lauter werdenden Buh-rufen lauschte.

„Weißt du, ich denke, wir sollten ihn ungestört machen lassen... äh...“ Der Krieger kratzte sich am Kopf „...was auch immer er macht.“ flüsterte der Krieger seiner Begleiterin ins Ohr. „Wie es aussieht, betreten sie den Balkon.“

„Hoffen wir, dass deine werte Schwester Erfolg hatte, sonst...“ Seine Begleiterin ergriff sanft die linke Hand des Kriegers mit ihrer rechten.

„Sonst was?“ entfuhr es verwundert dem Krieger.

„Pssst, mein lieber, sie fangen an!“

Alter Zorn

Der Eisensetzer

Die Waffe hatte einfach auf dem Boden gelegen, der Gurt abgerissen, als mehrere Hände den Reiter davon abhalten wollten, sich zu seinen Gefährten zu gesellen. Das doppelte Dutzend von Theaterbesuchern war auf die Signora-Selinya-Allee ausgeschwärmt und dann nur wenig langsamer geworden, als die ersten Drachenreiter in Sicht kamen, die den Zugang von der Allee zum Khadansplatz absperren sollten. Die westwärtigen Türen und Häuser Braniboras' waren verschlossen, argwöhnische und feindselige Blicke trafen die Vorbeieilenden. Es wurden hölzerne Armlehnen aus dem Theater geschwenkt und mancher riss nun Steine aus dem Pflaster, um sich gegen die Reiter zu bewaffnen, die sich ob der Überzahl der sich eilig nähernden Männer und Frauen - mit noch dazu unbekanntem Ziel - unsicher anblickten.
Fardenin Siltalenis wusste ohnehin selbst nicht genau, wohin sie strebten. Die Frechheiten des Stückes hatten ihn erzürnt, hatte er doch viele gute Dukaten durch die ausbleibenden Pilger verloren, die sonst Heiligenkalender, farbige Votivdrucke und gar manche Choralkopie bei ihm erstanden hatten. Und: War es nicht gerechter Zorn, den Andorma, Zardan und die anderen teilten? Es war ihm mithin nicht schwer gefallen, ein paar Worte ins Rund zu werfen. Dann war der Tumult losgegangen. Fardenin hatte sich selbst armschwenkend und Parolen rufend inmitten einer Handvoll wütender Gesichter wiedergefunden - wenn sie seinen Zorn teilten, musste er doch gerecht sein!
Nein, er hatte seine Tochter an die Brahl verloren und hatte geschwiegen, er drohte seine Druckerei an die Pertakker zu verlieren und hatte geschwiegen - jetzt wollte sich der Feigling Alessandro auf dem Khadanplatz feiern lassen? Er würde nicht mehr schweigen.
Also hatte er nach dem Reiterhammer gegriffen, als er über ihn gestolpert war. Und nun standen die Drachenreiter vor ihnen, ihrerseits die Hände an den Waffengriffen, die nervös tänzelnden Pferde mühsam beruhigend. Einen Augenblick zögerte Fardenin in seinem Lauf. Es waren Söhne und Töchter der Stadt und des Umlandes - und sie sollten die Köpfe hinhalten ? War das recht?
Dann trat linkerhand, halb verdeckt von einem Pferdeleib und dem Federbusch des Reiters darauf, der Geweihte auf die Treppe des Rahjen-Tempels.
"Brahl! Stirb!" Fardenin hob den Hammer.
Neben und vor ihm nahmen die Anderen sein zweites Wort als Kampfruf auf und drängten auf die Reiter los. Fardenin sprang hinterher.

Der Eisenschwinger

"Signor, schaut dort vorn!" Unwillig wandte Gianbaldo den Kopf, diese Situation geriet zusehends außer Kontrolle.
Man sollte all die ganzen salbadernden Nandusjünger einmal verpflichten, einer solchen Szenerie beizuwohnen, der besoffene und hirnverbrannte Pöbel, aufgehetzt von denen, die etwas schlauer sind, richtet seine geistlose Wut gegen irgendetwas, das man ihm gewiesen hat oder das seinen Neid erregt. Von wegen Vernunft und Selbstbestimmung. Würdeloses Durcheinander...
Eine weitere Gruppe zornigen Volkes näherte sich mit improvisierten Waffen dem Platz. Sollen sie doch! Am Ende gehen die ganzen Verrückten sich noch gegenseitig ans Leder, das gäbe ein hübsches Spektakel, auch wenn es vor den Augen der Pertakiser sicher kein so gutes Licht auf Shenilo werfen würde. Nun ja, die werden das von zuhause auch kennen. Gianbaldo entspannte sich ein wenig, die Befehle waren recht eindeutig. Solange niemand versuchen würde, den Palast anzugreifen...
"Brahl! Stirb!" ... Hatte er richtig gehört? Sein Blick schweifte über den Platz und blieb an einem Mann hängen, der eine Gruppe dieses schreienden Pöbels anzuführen schien. Er folgte der Blickrichtung des Mannes zum Svelinya-Tempel, vor dem er Beleno Brahl sehen konnte. Seine Miene verzog sich abrupt und er straffte die Zügel seines Pferdes...

Der Eisenverächter

Und es wurde nur noch schlimmer! Fauler Fisch und faule Eier reichten dem übelsten Gesindel der Stadt nicht, sie gierten nach Blut! Hatte die Garde nicht die Porta Pertakia geschlossen, um diese Schläger rauszuhalten? Erschüttert blickte Beleno auf den heraufziehenden Sturm herab, die Wogen heißer Wut brachen sich in Gewalt an den Drachenkriegern hoch zu Ross. Hatte der Kerl da etwa einen Hammer!?
Erschrocken stellte der Hochgeweihte fest, dass der Mann mit dem mordlüsternden Blick, wütendem Geschrei und sicher gestohlenen Rabenschnabel geradewegs auf ihn zu hielt - ihn! Panisch stolperte er rückwärts, fast brachte ihn sein Gewand zu Fall. Die Gläubigen wichen mit ihm zurück, doch der Angreifer war schneller: Kein Drachenreiter, kein Gardist und kein noch so fester Glaube an die Liebliche konnten Beleno schützen. Nie zuvor hatte der Geweihte einen solchen Schmerz erlebt. Der Hammer hatte sein Bein zertrümmert!
Doch das war dem Halunken nicht genug! Rahja bewahre! Die Göttin hatte seinem Angreifer ein Bein gestellt, so schien es, war er doch durch den eigenen Schlag aus dem Gleichgewicht geraten und zu Boden gegangen. In hilfloser Panik packte der wohlgenährte Rahjendiener, was er zu greifen bekam: eine junge Frau links, ein kräftiger Kerl rechts. Er sah die erschrockenen Gesichter des jungen Paares, aber er kannte kein Mitleid, nur Angst, nur heillose Panik. Schon riss er die beiden nach vorne, schob sich hinter sie, eilte - von einer Akoluthin gestützt - mit anderen in den sicheren Tempel. Erst als die Tore vor seinen Augen geschlossen wurden, sah er zurück. Alle Gläubigen schienen es geschafft zu haben, nur eine junge Shenilerin lag mit schreckgeweiteten Augen auf den Stufen zum Tempel. Ihr Blick galt ihrem Geliebten. Mit gezogener Waffe hatte sich dieser dem irren Hammerschwinger in den Weg gestellt. Was nur habe ich getan!?, dachte Beleno entsetzt über sein eigenes Tun, als sich die Tore des Tempels schlossen und gnädig seinen Blick versperrten.

Vom Wirken und Versagen von Hesindes Gaben

"Drachenreiter! Wir müssen den Tempel schützen! Ihr beiden, kommt mit mir..."
Gianbaldo preschte ohne zu Zögern nach vorne, laut rufend und seine Waffe schwingend, um sich Platz durch die Menge zu verschaffen. Die Menschen auf dem Platz blickten entsetzt und verängstigt auf den urplötzlich heranstürmenden Reiter. Die wenigsten hatten gehört, was Gianbaldo gehört hatte, und noch weniger hatten verstanden, was er verstanden hatte. Entsetzen und Furcht trieb die Vordersten, die bisher noch Abstand zu den Reitern gehalten und abgewartet hatten, auseinander, Gianbaldo kam problemlos voran. Erst jetzt folgten ihm zwei der Drachenreiter, die sich zunächst sammeln mussten, aufgrund des unerwarteten Ziels ihres Angriffs.
Nach einigen Schritt wurde die Menge dichter, an ein schnelles Ausweichen war nicht mehr zu denken. Gianbaldo verlangsamte sein Pferd dennoch nicht und die Hufe trafen unglückliche Bürger, die nicht schnell genug zur Seite springen konnten. Entsetzen und Panik ergriffen die Umstehenden. Als eine Frau mittleren Alters, die eben noch lautstark Pertakis verflucht hatte, den geharnischten Reiter nicht früh genug bemerkte und vor dem Pferd verharrte, wich der Drachenreiter dieser zwar gekonnt aus, schlug die Frau jedoch zornig mit der stumpfen Seite seines Rabenschnabels zu Boden. Ein anderer Unglücklicher konnte zwar dem Leutnant ausweichen, wurde anschließend jedoch von einem der nachrückenden Drachenreiter erwischt und zu Boden geschleudert, wo ihn die Hufe seines Pferdes trafen.
Gianbaldo schaute in alle Richtungen, um den Mann wiederzufinden, den er gehört hatte, doch es gelang ihm nicht sofort. Als er sein Pferd ein wenig zügelte, begannen die ersten Wütenden um ihn herum, ihre Flucht abzubrechen, sich umzuwenden und nicht wenige erhoben mitgebrachte Stöcke oder Knüppel...

Derweil auf dem Balkon

"Signor, was machen die Drachenreiter dort unten?" Orsino wandte den Kopf und sah, wie drei Reiter sich aus der Formation, die den Magistrat abschirmte, gelöst hatten und eine nahezu gerade Linie durch die Menge auf dem Khadansplatz zogen, hinter sich Verletzte und Gestürzte zurücklassend.
"Ist das dort vorn nicht euer Neffe?" Die Menge auf dem Platz geriet in Bewegung und Aufruhr. Laute Rufe erschallten, doch ihr Inhalt ging im allgemeinen Geschrei unter. Die Menschen auf dem Platz rannten durcheinander, manche von den Reitern weg, andere flohen gar vom Platz. Andere begannen nach kurzer Zeit, auf die Reiter zuzulaufen, die sich offenbar auf den Tempel der Rahja zubewegten.

"Was hat er vor?"

Im Strom der Leiber

Sie war eingekeilt zwischen den Leibern der aufgebrachten Theaterbesucher. In die Nase stieg ihr der Geruch nach Parfüm und Schweiß gleichermaßen. Wohin drängelte die Menge nur? Navina reckte den Hals, um erkennen zu können wohin die Masse strömte. Ihr war, als würde sie weiter vorne den sich öffnenden Himmel zwischen den Häusern erkennen. Das musste der König Khadan Platz sein.
Oh wunderbar! Auf der Weite des Platzes würde sich die Menge verstreuen und sie wäre wieder frei ihrer Wege zu gehen. Navina atmete auf, nicht mehr lange und ihre missliche Lage würde enden.
Dann hörte sie den Ruf: „Stirb!“ und sah wie sich die Fäuste der Vornewegstürmenden erhoben, angetan mit Stuhlbeinen, Steinen aber auch einem gefährlich aussehenden Hammer. „Wahnsinn!“, flüsterte Navina und versuchte erneut sich gegen die Nachdrängelnden zu stemmen. Es ging nicht. Unerbittlich wurde sie weitergerissen hin zu den Stufen des Tempels, auf denen das erste Blut floss. Wie in einem Fokus nahm die Gelehrte das entsetzte Gesicht einer jungen Frau wahr, kurz bevor sich die Tempelpforte vor ihrer Nase schloss. Ein Stein traf das junge Ding und sie verschwand aus Navinas Blickfeld. „Rahjas Schutz der Schwachen.“, durchzuckte es zynisch ihren Geist.
Neuerliche Rufe brandeten von der Seite an sie heran. „Die Drachengarde!“ „Die Pertakkenfreunde!“ Tatsächlich konnte sie Reiter mit auffallenden grünen Helmbüschen sehen, die sich unbarmherzig ihren Weg durch die Menge bahnten, grob in ihre Richtung. Eine Welle der Panik durchfuhr Navina als sie sah wie eine Frau getroffen zu Boden stürzte und unter den Füßen der Menge verschwand. „Welch Wahnsinn!“, dachte sie erneut und dann: „Ich muss hier weg!“
Endlich erwachte die Gelehrte aus ihrer Starre und begann nun ihrerseits zu schubsen und zu schieben im Versuch aus dem Pulk zu entkommen.

Ein Retter in der Not

Horatio hatte sich aus dem schlimmsten Gedränge auf dem Platz und in Richtung des Rahjatempels zurückgezgen, in der irrigen Meinung, dass es vor dem Hause der schönen Göttin wohl ruhiger sein müsste als in der aufgebrachten Menge. Er war erschrocken, dass die Stimmung hier noch aufgepeitschter war und hier die ersten schon nach dem Blut anderer schrien. Die Tatsache, dass nun drei Berittene in den Pulk vorstiessen, machte die ganze Situation nicht im Geringsten besser.
Langsam aber sicher verlor Horatio die Übersicht, denn obwohl er mit seinen knapp zwei Schritten Körpergröße und dem breiten Kreuz die meisten Menschen hier überragte, konnte er doch nicht verhindern von der Masse mitgerissen zu werden.
Er began sich durch die Masse zu kämpfen, denn ohne einen Fausthieb hier und einen Stoß dort, gab es kein Durchkommen mehr und näherte sich zumindest etwas ruhigeren Bereichen auf dem Platz. Ein kurzer Blick zum Balkon zeigte Horatio, dass es seinem Herrn und Freund Cusimo um einiges besser ging als ihm, auch wenn er, selbst auf diese Entfernung, den sorgenvollen Gesichtsausdruck des Schwertmeisters erkennen konnte.
Horatio hatte schon fast den Rand der Ausschreitungen erreicht, als er aus den Augenwinkeln eine Frau sah, die in ihrer Gelehrtenrobe so gar nicht in das Bild der Randalierer passte und scheinbar so wie er auch versuchte aus dem Aufruhr zu entkommen, was ihr allerdings nicht zu gelingen schien.
Horatio verdrehte kurz die Augen, atmete tief durch und verfluchte seine Prinzipien bevor er sich wieder in die Menge warf und zu der Gelehrten durchkämpfte. Bei ihr angekommen musste er schreien, damit sie ihn hören konnte. "KOMMT MIT MIR SIGNORA, ICH HOLE EUCH HIER RAUS!"

Rüde stieß sie einem Mann in einer groben Joppe ihren Ellenbogen ins Kreuz, um sich Platz zu schaffen, aber der Handwerker wich nicht. Im Gegenteil, er hielt gegen und Navina wurde ihrerseits gegen eine vollbusige Frau gedrückt, die ihr unartikuliert, aber gellend laut ins Ohr kreischte. Zwischen all den Leibern verlor sie die Übersicht. Unweit konnte sie die Hinterhand eines Pferdes erkennen, aber da wollte sie ganz sicher nicht hin. Leider befleißigte sich die Menge keiner einheitlichen Richtung sondern wogte unkoordiniert hin und her. Tapfer kämpfte Navina ihre aufsteigende Panik nieder und unternahm einen erneuten Versuch der Masse zu entkommen.
Sie trat auf etwas Weiches, Glitschiges und wäre fast ausgerutscht. Eine Hand an ihrem Oberarm hielt sie auf den Füßen. Navina blickte sich nach ihrem Helfer um und musste den Kopf in den Nacken legen, denn der junge Mann war hünenhaft groß. „Kommt …. Signora… euch hier raus!“ hörte sie ihn durch das Geschrei der Menge brüllen. Dankbarkeit und Erleichterung, das ihr jemand half durchfluteten sie und schlugen sich auch in Navinas Mine nieder als sie zum Zeichen ihres Verstehens nickte. „Vielen, Vielen Dank! Signor! Ich…“ hob sie an, aber der Mann winkte ab. „Später!“ Damit drehte er sich um und begann durch die Menge zu pflügen. Er war dabei weit effektiver als Navina und erleichtert heftete die Gelehrte sich an seine Fersen.

Horatio brauchte diesmal um einiges länger um sich einen Weg durch die Masse zu bahnen. Nicht nur schienen die Leute noch aufgebrachter zu sein, auch musste er diesmal dafür sorgen, dass die Lücke die entstand lange genug bestehen blieb, um auch Navina das Entkommen zu sichern. Als die beiden es endlich aus dem Pulk geschafft hatten, blieb Horatio an der Seitenmauer des Tempels stehen. Er war am Ende seiner Kräfte und lehnte sich an den kühlen Stein, während der Schweiß ihm den Rücken hinunter rann, was ihn leicht frösteln lies. Er atmete noch immer stossweise als er das Wort an Navina richtete. "Was hat Euch bloß geritten Euch in diese Menschenansammlung zu begen Signora? Ihr hattet Glück, dass ich Euch gesehen habe, sondt wäret Ihr noch zertrampelt worden!" Horatio wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn. "Bitte verzeiht meine Manieren. Mein Name ist Horatio. Ich hoffe Ihr seid unverletzt Signora?"

Türöffner und Augenblicke

Die Frau mit den eigentümlich hervorstechenden Augen hatte ein Messer mit zwei Griffen in der Hand. Gewöhnlich wurde es wohl für andere Zwecke benutzt, aber jetzt zog es einen hässlichen Striemen über den Oberarm des Gardisten, der ein halbes Dutzend halb wütender, halb ängstlicher Menschen vom Magistratspalast fernzuhalten suchte. Als danach die Faust eines buckligen Mannes seinen Kiefer traf, sank der Gardist zu Boden. Die Frau reckte das Kinn in Richtung einer der nicht wenigen, kleinen Seitentüren des Palastes, die sich einige Zeit zuvor geöffnet hatte. Der Bucklige nahm dem Gardisten sein Breschmesser ab – seine wulstigen Oberarme mochten die Waffe tatsächlich schwingen können – und eilte in die ihm gewiesene Richtung. Die Frau mit dem eigentümlichen Messer nahm einen der umherlaufenden Männer am Kragen und spauzte ihm ein „Willst dem Ilsandro ans Leder? Dann da hinein!“ ins Gesicht. Der Mann, der eine dreckige Schürze und einen blonden Kinnbart trug, blickte sie einen Augenblick verwirrt an, dann verfinsterten sich seine Züge und er nickte. Ein paar Jüngeren um ihn herum zurufend, eilte er in die gewiesene Richtung.

Gobo war von dem brutalen Vorgehen der Fremden zugleich erschreckt wie erregt: Er selbst hätte gegen den Büttel nur Stahl gezogen, wenn der ihm ans Leder gewollt hätte. Aber endlich geschah hier mal was!
Der Schwung der Tat und die Verheißung der geöffneten Seitentüre trieb ihn zusammen mit zwei Handvoll bekannter und unbekannter Gesichter auf den Palast zu. Rein! Wann hatten die einfachen Leute von der Straße sonst mal eine Möglichkeit, in die Räume des Magistrats zu schauen, wo ihr Schicksal bestimmt wurde - und sich vielleicht dort einen kleinen Teil des Wohlstands der Stadt zu nehmen?

In einigem Abstand folgte ihnen die Frau mit den Quellaugen der Schar, warf aber zur Sicherheit noch einen Blick zurück. Der Khadansplatz war immer noch in Unruhe, an der Tempelpforte sah sie ein Handgemenge einiger Reiter mit einer weit größeren Zahl von Shenilern. Dann fiel ihr Blick auf eine Frau an der Seitenwand des Tempels, die sich mit einem breitschultrigen Mann unterhielt – und jetzt in ihre Richtung spähte. Die Frau packte ihr Gerbermesser fester und spuckte aus. Dann begann sie zu laufen – in Richtung Tempel.

Schnauzbärtige Retter

Erschöpft aber erleichtert lehnte sich Navina gegen den kühlen Stein. Das Gedränge war beängstigend gewesen. Mehrmals hatte sie haltsuchend nach dem Gürtel des hilfreichen Kavaliers gegriffen, der wie ein Rammbock unbeirrbar einen Weg für sie beide gepflügt hatte.
Für einen kurzen Moment schloss sie die Augen und atmete tief durch, um ihr inneres Beben in den Griff zu bekommen. Mit zitternder Hand strich sie sich einige Haarsträhnen hinters Ohr und stellte dabei fest, dass sich ihre Frisur in Auflösung befand. Auch ihre Garderobe hatte gelitten. Ein langer Riss verunstaltete den Rock und von ihrem Ärmel fehlte die Borte. „Nun, so etwas bezeichnet man wohl als derangiert.“ Klassifizierte sie gedanklich ihren Zustand und musste über ihre eigene Nüchternheit in dieser Situation fast lachen. Allerdings bewahrte sie die Standpauke ihres Retters davor in wohl hysterisch anmutendes Gekicher auszubrechen. Statt dessen sah sie ihn in einer Mischung aus Schuldbewusstsein und Dankbarkeit an und erwiderte: “Euer Ausbruch ist in Anbetracht der Prekarität der Lage völlig gerechtfertigt. Au Contraire ihr habt Recht, es war pure Gedankenlosigkeit meinerseits mich von der Masse mitreißen zu lassen, die aus dem Theater stürmte. Thersion hat mich noch gewarnt, aber da war ein alter Herr, der strauchelte…. Zu meinem Bedauern musste ich, einmal in den mobile vulgus geraten feststellen, dass ich ihm nicht mehr zu entkommen vermochte. Signor, ich bin euch wirklich zu tiefst dankbar für eure Hilfe.“
Wieder schob sich die verlegene Dame eine Strähne blonden Haars aus dem Gesicht und ließ den Blick über die Menge schweifen, einzelne Gesichter wahllos streifend. Ein Mann mit dunklen Locken, eine semmelblonde Magd, eine Frau mit auffallenden Glupschaugen, welche Navina zu durchbohren schienen. Schnell richtete diese Ihren Blick wieder auf das viel freundlichere Gesicht Horatios. „Verzeiht, ich suche gerade etwas nach meiner Contenance… Ya Malachis ist mein Name, Navina ya Malachis. Ich bin nicht von hier und nur wegen des Theaters in der Stadt.“
Ein Röcheln in ihrem Rücken unterbrach Navina und noch während sie sich umblickte stolperte eine Frau zwischen sie und Horatio. Ein Messer ragte aus ihrer Seite, ihre Augen – übergroß – starrten wütend. Ihre Waffe begrub sie unter sich.
Ein Mann mit buschigem Schnauzer trat vor. Seine Linke war blutig, er hatte mehrere Schrammen im Gesicht und sein Wams war vom Kragen bis zum Bauchnabel aufgerissen – aber er grinste Navina zähnebleckend an. „Da seid ihr ja. Meister Gedra schickt mich.“ Erst dann maß er den Breitschultrigen mit einem Blick und zog sein Messer mit unangenehmem Geräusch wieder aus der Seite der Toten.

"Isonzo?!" ächzte unterdessen die schockierte Dame.

Auf der Suche nach Prospero

Alborn wurde von einer dreckigen, pummeligen Frau angerempelt, die er unsanft mit der Schulter zurück in die Menge stieß. Die Unruhe nahm spürbar zu und die Frau hatte so gerochen, als sei sie aus Porta Pertakia. Hieß es nicht, das Tor sei verschlossen worden, um wenigstens den schlimmsten Abschaum vom Magistratspalast fernzuhalten? Er bemerkte, wie Omonia gebannt in Richtung des Rahjatempels blickte. „Welch Barbarei!“, entfuhr es ihr und auch Alborn glaubte nicht so recht, was er dort sah. Hatte da eben jemand versucht, den Geweihten zu erschlagen? Jetzt griffen die Drachenreiter ein und es ging richtig zur Sache. Alborn knackte eine weitere Walnuss.

„Prospero, hast du das gesehen?“ Er schaute zur Seite, wo er aber nur den verwirrten Blick eines Shenilers fand. “Nanu, wo ist er denn hin?“ fragte er seine Begleiterin. „Hattest du ihn nicht an der Hand?“ entgegnete sie verwundert. „Ihn anfassen, damit mir Pilze aus der Hand wachsen?“ Alborn schüttelte sich bei diesem Gedanken. Es musste doch einen Grund geben, warum Prospero als unantastbar galt.

„Wir müssen ihn finden, nicht dass ihm noch etwas passiert.“

„Was du nicht sagst, los, hier lang!“ Omonia machte sich in Richtung der Gedenksäule auf. Sicher ein Ort mit guter Aussicht, auch wenn schon andere auf diese Idee gekommen waren. Alborn wollte ihr folgen, wurde jedoch von einer Hand auf seiner Schulter zurückgehalten. Er bemerkte den Sheniler, der neben ihm in der Menge gestanden hatte und immer noch etwas verwirrt ausschaute. Der Mann unerkennbaren Alters zog seinen Hut. „Ich möchte die Herrschaften nur ungern stören, aber woher wisst ihr, dass ich Prospero heiße? Sind wir uns bereits begegnet?“ Nun war Alborn verwirrt, nicht nur, weil der Mann so ungewohnt höflich war. „Was redet ihr da, Signor, ihr seid nicht Prospero.“ Alborn sah im Augenwinkel, wie Omonia in der Menge verschwand, ohne sich nach ihm umzudrehen.

„Oh doch, Signor, vielleicht liegt es daran, dass ich seit drei Jahren keinen Schnurrbart mehr trage?“ Alborn hatte keine Zeit zu verlieren, doch irgendetwas an diesem seltsamen Mann ließ ihn innehalten. Nur einen Schritt von ihm entfernt gingen zwei Jungspunde mit Stuhlbeinen aufeinander los. Ein knapp an seinem Kopf vorbeifliegender Weinkelch ließ ihn seine kurzfristige Starre abschütteln.

„Ich bedaure, keine Zeit für eure Scherze zu haben, Signor. Ich bitte vielmals, dies zu pardonieren und wünsche noch einen fabulösen Tag“, Alborn verbeugte sich leicht und schickte den so lästigen wie höflichen Mann mit einem Faustschlag zu Boden, um nach einem Satz über dessen Leib hinweg sich einen Weg durch die Menge zu bahnen.

Blutige Ordnung

Das Gedränge um Gianbaldo, der Mühe hatte, seine kleine Gruppe einigermaßen zusammenzuhalten und in Richtung Tempel zu lenken, wogte immer wieder auseinander und dann wieder gegen die Pferde. Unbeteiligte versuchten angsterfüllt der Gefahr zu entkommen; manche hatten gar Kinder auf dem Arm. Eine junge Frau stützte einen alten Mann, der wohl nur hier war, um die Reden der hohen Herren noch zu erleben, bevor Boron ihn zu sich befiehlt. Andererseits drängten kräftige und zornige Personen, bewaffnet mit Werkzeugen und Knüppeln, aber auch mit Klingen und anderen einfachen Waffen. Steine und anderes flogen. Beschimpfungen und Flüche hallten über den Platz. Auch Gianbaldo fluchte, jedoch nicht laut. Er suchte nach dem einfachsten Weg zum Tempel.
Dort sah er, wie ein Hammer erhoben wurde, ganz dicht am Eingang, ganz dicht an Beleno Brahl. Der Hammer sauste herab, Gedränge, unübersichtlich, Schreie, Bewegung, Unklarheit. Dann sah er Brahls breiten Kopf durch einen Spalt in das Tempelportal huschen. Offenbar unverletzt. Er signalisierte den Reitern an seiner Seite, vorzurücken und ließ sein Pferd steigen. Die wirbelnden Hufe trafen eine Frau am Kopf, so dass sie blutig zusammenbrach. Doch die aufgebrachten und entsetzten Menschen vor ihm wichen nun zurück, schnell ließ er sein Pferd voranstürmen, die anderen folgten seiner Gasse. Schnell war der Tempel erreicht, auch dort gab es ein Gerangel. Offenbar hatte der Hammerschwinger andere Bürger verwundet und wurde nun seinerseits bedrängt. Er erkannte den Übeltäter, der von einigen Getreuen umringt wurde. Als sie den Gardereiter sahen hoben sie erst drohend ihre improvisierten Waffen, dann aber wichen sie furchtsam zurück, sodass Gianbaldo bis zu dem Mann mit dem Hammer, der ihm den Rücken zuwandte, vordringen konnte und diesen - der Tempel war verschlossen, Brahl nicht zu sehen - ohne Zögern oder Anrufen niederritt. Blutüberströmt stürzte er zu Boden, der Hammer fiel aus seiner Hand, ein überraschter Blick traf den Drachenreiter über ihm. Doch dann spürte dieser, wie sein Pferd strauchelte. Mit einem Wutgebrüll hatte ein Gefährte des Niedergerittenen sein langes Messer in den Hinterlauf von Gianbaldos Pferd gerammt, nur um kurz darauf von einem der nachrückenden Drachenreiter umgeworfen und im Fallen von dessen Rabenschnabel gefällt zu werden. Carson gelang es, sich von seinem stürzenden Pferd auf einen der Umstehenden zu werfen und so einen Sturz abzufangen. Er rappelte sich auf und sah, wie hinter ihm sein Pferd zusammenbrach und den Hammerschläger unter sich begrub.
Drei weitere Drachenreiter erreichten, bedrängt und von kleineren Hieben getroffen, den Leutnant und bildeten auf ihren Pferden einen Halbkreis vor dem Portal des Tempels. Der aufgebrachte Popolo drängte einige Male auf sie ein, immer zögerlicher jedoch angesichts der Formation der Gardisten, die mit ihren Waffen eine tödliche Bedrohung bedeuteten und die Angreifenden auf Abstand halten konnten. Einstweilen war der Tempel gesichert, doch vor Gianbaldo breitete sich der brodelnde Platz aus, voller Menschen, voller Verletzter und Schreiender, voller Aufruhr, voller Wut und Panik, dass es den Niederhöllen ein Plaisir sein mochte.
Sorgenvoll glitt sein Blick hinüber zum Magistratspalast, wo ebenfalls Unruhe herrschte. Auf dem Balkon sah er neben anderen das Haupt seines Onkels.

Scham und Sühne

Der Lärm des Chaos ebbte über die Tempelmauern hinfort, doch die marmornen Wände konnten das Toben vom Platze nicht gänzlich verschlucken. Nie zuvor hatte Beleno solchen Schmerz gekannt. Seine Gedanken waren hinfortgefegt. Erst als die Novizen ihn zum geweihten Becken gebracht hatten, besann er sich. Er wollte nicht auch das reinigende Wasser mit Blut besudeln wie den Tempelboden hinter ihm. So ließ sich der Tempelvorsteher vor dem Becken nieder, entblößte mit zusammengebissenen Zähnen und hindurchgesogenem Atem sein gebrochenes Bein und ließ die Novizin mit einer Amphore das Weihwasser schöpfen und vorsichtig darüber gießen. Wohlige Wonne breitete sich von dort in seinem Körper aus. Sie vertrieb den Schmerz nicht, sondern begleitete ihn. Fast war ihm, als wären beide zwei Seiten der gleichen Medaille.
Doch dann kam die Scham. Das Blut ließ sich leicht hinwegwaschen und schon schien sich die Wunde zu schließen unter der heilsamen Wirkung des göttlichen Weihwassers. Doch das beschämende Gefühl blieb. Hatte nicht er, Beleno Brahl, in seiner Panik Menschen, Gläubige, vor sich geschoben, um dem Hammerschwinger mit dem Mordwahn in den Augen zu entkommen? War er nicht zutiefst froh darüber, die Tore vor den flüchtenden Menschen auf dem Platz, die Augen vor dem Unheil draußen verschließen zu können? Doch war es nicht an ihm, dem Geweihten der Lieblichen, Harmonie und Eintracht unter die Tobenden, Zornigen und Leidenden vor der Göttin Tore zu bringen?

Rahjas Tausend Küsse

Dann kamen die Steine. Während die Vorderen an den Tempelstufen zögerlich vor dem kleinen Halbkreis Gerüsteter zurückgewichen war, hatten sich dahinter immer mehr gefunden, um Rache zu nehmen für ihre zertrampelten und zerschmetterten Brüder und Schwestern. Schon warfen Dutzende Steine, die sie aus dem Pflaster rissen, schmissen Krüge, Stiefel, Sand und Kot, was immer ihnen in die Hände kam. Ihre Wut spülte die Tränen hinfort, die sie noch eben vergossen hatten. Väter weinten über den geschändeten Leibern ihrer Töchter und rissen sich an Kleidern und Haaren. Immer mehr Angsterfüllte, Schwache, Alte und Kinder drängten vom Platz in die umliegenden Gassen und nur die Zornigen blieben zurück. Schmährufe trafen die Gardisten, Steine die Gardereiter. Ein Pferd jaulte voll Qual und Todesangst.
Da stießen die Novizen die Tore des Tempels auf. Sie stützten den Tempelvorsteher und geleiteten ihn hinaus. Einige blickten erstaunt durch die Reihen der Gardisten, deren Rüstungen nur unzureichend Schutz vor dem Hagel aus Steinen und Unrat boten. Die meisten waren zu beschäftigt mit ihrer unbändigen Wut und dem Schmeißen eben jener Waffen. Die Gardisten waren einfach zu wenige gegen diese aufgebrachte Menge. Sollte Gianbaldo mit seinen Gefährten vorrücken, um die Massen zu zersprengen? Oder gab es nur Heil in der schützenden Formation? Würde sonst der Tempel eingerannt, wie es schon zuvor Mordlustige auf seine Hochwürden abgesehen hatten? Oder waren längst sie, die Soldaten der Ponterra, zum Ziel ihres Hasses verkommen?
In seliger Ruhe blickte Beleno über die wabernden Massen. Seine Blick getrübt, lag doch ein sanftes Lächeln auf seinen Lippen. Seine besudelte Gewandung hatte er im Tempelinneren gelassen, wie es auch seine Novizen und die Gläubigen ihm gleich getan hatten. Ihre Körper glänzten vom Rosenöl in der Abendsonne. Immer mehr Menschen wandten sich der aus dem Tempel ziehenden Prozession zu. Manch einem war, als würde ein roter Schein durch die Tore des Hauses der Göttin nach außen dringen. Ein Duft wie von Rosen breitete sich über den König-Khadan-Platz aus, drang bis hinauf zu dem nun verwaisten Magistratsbalkon. Stammte er von den Blütenblättern, die auf unerfindliche Weise aus des Geweihten Haar zu Boden rieselten?
Langsam humpelte Beleno vorwärts. Mühsam schritt er die Stufen hinab. Stinkender Abfall traf seine Schulter, eine alte Sandale seinen Arm. In göttlicher Verzückung schien der Geweihte sie nicht zu bemerken, hielt geradewegs auf die Gardisten zu. Völlig überrascht wandten diese sich der Prozession in ihrem Rücken zu. Mit sich zufrieden erblickte Gianbaldo Carson den beinahe unverletzt wirkenden Tempelvorsteher. Waren sie doch rechtzeitig vorgedrungen, um Schlimmeres... weiter kamen seine Gedanken nicht. Seine Lippen widerstrebten nicht, öffneten sich dem leichten Druck der feuchten Zunge. Der nackte Rahjendiener küsste den hartgesottenen Kämpen innig und tief. Alle Gedanken und Gefühle schienen Gianbaldo wie weggeblasen.
Völlig verdattert blickten seine Soldaten auf ihren Leutnant. Dann wurden auch sie geküsst; von den Novizen, den Gläubigen, ja selbst dem Pertakiser und seiner sheniler Geliebten. Mit offenem Mund und gesenktem Waffenarm ließ Beleno Brahl den Drachenreiter zurück und schritt auf die Menge zu, die wie erstarrt schien. Immer mehr Blicke hatten sich ihm zugewandt. Eine Mutter blickte mit Tränen überstromten Gesicht vom geschundenen Leib ihres Kindes auf. Belenos Kuss gab ihrer Seele – zumindest für einen Augenblick – Frieden. Dann beugte er sich hinab zu dem blutend am Boden liegenden Fardenin Siltalenis. Er kannte diesen Mann nicht, der soeben noch den Hammer gegen ihn geschwungen hatte. Die Umstehenden waren zurückgewichen, um seiner Hochwürden den Gang zu seinem scheinbaren Feind nicht zu versperren. Doch dieser beugte sich nur lächelnd hinab zu dem sich in Schmerzen die gebrochenen Rippen haltenden Mann. Und mit einem tiefen Kuss nahm Beleno ihm die Pein, die Wut gegen Gianbaldo und die Drachenreiter, den Hass gegen den Brahl. Der heilige Ascandear von Baburin hatte dem Diener der Lieblichen eine Hingabe gewährt, die alle Leiden, alle Missgunst, alle Trauer und Wut zu überwinden wusste, so schien es. So sah sich der noch eben aufgebrachte Pöbel den sanften Küssen der weitaus furchtsamer dreinblickenden Rahjengläubigen gegenüber.
Nur noch die blähenden Nüstern und schreckgeweiteten Augen verrieten das Leid, welches dem zusammengebrochenen Pferd wenig zuvor noch widerfahren war. Zärtlich hatte Beleno Brahl das geschundene Tier geküsst, seinen Hals gestreichelt, sein unerträglich gequältes Jaulen verstummen lassen. Ein Wind wehte über den Platz, bließ das verhallende Geschrei der Menschen hinfort, den Gestank von Blut und Unrat. Er stürzte aus Firuns Richtung kommend durch das offene Tempeldach. Wie luftige Schnecken muteten die Wirbel der Rosenblätter an, die der Windstoß aus den marmornen Mauern über den den Magistratsplatz trieb.

Gewalt am Rande

Alborn und Omonia hatten die Statue erreicht. Ohne große Worte hob Alborn seine Begleiterin empor, die sich flink wie eine Spinne auf den Weg ganz nach oben machte und dabei kichernd wie versehentlich einen schaulustigen Sheniloer anstupste, der schmerzhaft zu Boden plumpste und dort ohnmächtig liegen blieb. Einer dieser Momente, in denen ihm Omonia unheimlich vorkam.
"Siehst du ihn?", rief Alborn empor, wurde jedoch abgelenkt, als ein Junge mit einem zerfetzten Gewand und einer blutenden Wunde an der Stirn in seine Arme torkelte und erschlaffte. Behutsam legte Alborn ihn zu Boden. Hier am Standbild war es einigermaßen ruhig. Ein Blick in die Richtung, aus der er getorkelt war verriet ihm, dass die Drachenreiter mittlerwile die nötige Härte einsetzen, um die wildgewordene Meute zu zersprengen. Etwas besonderes schien in der Nähe des Rahjatempels zu geschehen, doch trotz seiner Größe konnte er es nicht genau erkennen. Omonina starrte ebenfalls gebannt in diese Richtung.

"Was ist dort los?"

Sie reagierte nicht. Alborn traf sie mit einer Walnuß, was sie in die Gegenwart zurückholte.

"Sie Kämpfen nicht mehr. Ich sehe... Blüten!"

Bevor Alborn seiner verzückt wirkenden Begleiterin eine weitere Walnuß an den Kopf werfen konntem, machte diese sich auf, wieder herunterzuklettern.

"Ich fange dich."

"Nicht nötig."

Omonia wand sich behende und mit einem finalen Sprung von der Statue. Dabei benutzte sie das Gesicht des bewusstlosen Sheniloers als Polster, um ihren Sprung abzufedern. Erneut hörte Alborn seine Begleiterin kichern. Anscheinend war sie wieder ganz die alte. Immer diese unnötige Grausamkeit.

"Pass auf, wo du hineintrittst."

"Wie ungeschickt von mir, jetzt habe ich Unrat an den Schuhen."

"Was ist mit Prospero?"

"Ich glaube, ihn am Tempel gesehen zu haben, wie er... äh... lasst uns gehen."

Sie zog Alborn hinter sich her in Richtung des Tempels.

"Sie dringen übrigens in den Palast ein; mit Waffen", teilte sie ihm beiläufig mit.

Alborn erschrak. Er vermochte sich nicht zu erinnern, ob Guiliana ihren Leibwächter mitgenommen hatte. Auf die Sheniloer Garden war ja offenbar kein Verlass. "Schnapp dir unseren Freund, ich habe zu tun." Er bahnte sich einen Weg in Richtung des Magistratspalasts. Hinter sich hörte er Omonia erneut kichern.