Briefspiel:Hoher Besuch/Magierturm

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Beteiligte (irdisch)
Familie Menaris klein.png Athanasius

Magierturm, Draconiter-Institut, später Nachmittag des 17. Boron 1037 BF

Brigona Menaris hörte die Schritte auf der Treppe des Turmes vor der Tür zu den Kammern des greisen Magisters Defranda, bevor ein Klopfen ertönte.
Wie so häufig war seine Mine auch an diesem Tag unlesbar, als Tankred Menaris den Raum betrat. Brigona hatte Jahre und viele vertraute Gespräche gebraucht, um die wenigen subtilen Hinweise in Gestik und Mimik zu erkennen, die wenigstens etwas Aufschluss über sein Gefühlsleben lieferten. Und sie hatte noch einmal so lange gebraucht, bis sie erkannt zu haben glaubte, was Tankreds Gesichtszüge so schwer lesbar machte: Die Brauen über seinen Augen folgten ungewöhnlicherweise keinem Schwung gen Stirn oder Nase, weswegen er immer ruhig, gleichgültig, unbeeindruckt, niemals wütend oder amüsiert wirkte.
Die Magierin lächelte und erhob sich, ihren älteren Bruder zu begrüßen. Auch dieses Mal vergingen einige Augenblicke und eine vorsichtige, wenn auch ehrliche Umarmung, bis Brigona erkannte, dass etwas ihren Bruder beunruhigte.
„Es ist nichts, Schwester.“ Brigona schürzte die Lippen, denn Tankred hatte ihre Frage erahnt, noch bevor sie sie gestellt hatte – was häufiger geschah. „...ich habe von Mutter geträumt – es wird gleich vergehen, wenn ich das Brett sehe!“ Tankred lächelte, aber in seinen Augen blieb die Besorgnis, die die Magierin zuvor gesehen hatte. Ihr Bruder träumte nicht häufig, schon früher als Junge nicht. Aber wenn er träumte, dann konnte dies seine Stimmung für Stunden, ja Tage verändern.
Um den Tisch im hinteren Teil des Raumes saßen zwei Männer, einer älter als der andere. Der Auffälligere von beiden trug eine lange rote Robe unter der sein Körper nur zu erahnen war, sein fast kahler Schädel war von einem spärlicher werdenden weißen Haarkranz umgeben. Magister Defranda Defrus, der Mitbegründer des Institutes, lächelte ein gelbliches Lächeln, erhob sich aber nicht, um Tankred zu begrüßen. Anders der Mann ihm gegenüber, dessen auffälligstes Merkmal eine Hakennase war, der sich steifbeinig erhob, um den Geweihten durch eine Verbeugung zu begrüßen. „Longidio, mein Lieber, bleibt nur sitzen, es gibt heute keine Ehrungen für mich in Empfang zu nehmen. Wie ich sehe seit ihr in eine Partie vertieft?“

Ein Spielstein von Horastafel

Defranda hüstelte. „Wir wären es, Lehrmeister Tankred, wären uns die Regeln geläufig.“ Tankred nickte dem Magister gedankenverloren zu und trat näher auf den Tisch und das darauf aufgebaute Spielbrett zu. „Horastafel...keine Frage. Aber ein solch altes Brett habe ich schon lange nicht gesehen!“ Er fuhr zögerlich an der Holzkante des Spielbrettes entlang und nahm vorsichtig einen der dunklen Steine der Verteidigerseite in die Hand. Die Steine waren langgezogen, als hätten sie übergroße Köpfe. Es dauerte eine Weile bis Tankred erkannte, dass das Holz einen stilisierten Kronreif etwa auf zwei Dritteln des Steins zeigte und darüber... „eine Haube...“ Tankred richtete sich auf und schaute die Umstehenden an, die verständnislos zurückblickten. „Die Horaskrone...Die Verteidiger tragen die Horaskrone.“
„Der Horasstein ist reich verziert.“ Der Geweihte nahm eine geschliffene Linse aus einer Tasche seiner Robe. „Sind das...“, Tankred ging rasch einen Schritt um den Tisch herum, die Figur von der anderen Seite in Augenschein zu nehmen. „...es sind Gesichter...Dutzende kleine Gesichter.“ Der alte Defranda zuckte die Schultern. „Meine Augen, Lehrmeister. Ich vertraue da den Euren!“ Brigona konnte spüren, wie ihre Mundwinkel sich rührten, als ihr Bruder sie anblickte. Das Brett faszinierte ihn, ganz ohne Zweifel.
„Schwarze Schwingen“, unterbrach sie ein Krächzen.
Auf einem dicken Ast, der rechts der Fensteröffnung mit Haken an der Wand befestigt war, saß ein zerrupft aussehender hellroter Vogel, der gefiederte Vertraute Defrandas. Tankred runzelte kurz die Stirn, bevor er sich wieder der Horastafel zuwendete. Der alte Diener ging unterdessen zum Fenster, um nach dem Vogel Ausschau zu halten, den der Papagei angekündigt hatte.
„Das ist bemerkenswert, Schwester! Normalerweise trägt der Hauptstein Krone oder gar Antlitz des Horaskaisers. Mir ist eine solche Darstellung einer Tafel von Obra-Horas erinnerlich. Aber hier ist alles anders.“ Tankred nahm den Hauptstein mit den vielen Gesichtern zur Hand und hielt ihn empor. „Wenn die Verteidiger für die Horaskaiser stehen...dann stehen die Gesichter auf dem Hauptstein für das Volk. Gewöhnlicherweise verteidigen Soldaten, Adlige oder einfache Bauern den Horas. Auf diesem Brett ist es umgekehrt – Der Horas verteidigt das Volk!“

Fehlende Teile

Der Blick der Maga fiel auf den eigentümlichen Schrank, der an der Wand gegenüber dem Fenster stand, an dem der rote Papagei Defrandas immer noch krächzte. Sie hatte sich vorher schon kurz damit befasst, als ihr Bruder eingetroffen war. Besonders auffällig an dem Eichenschrank war der Türbogen, der – Brigona fühlte sich versucht ein Zeichen gegen das Böse zu schlagen – von einem schwarzen Gehörnten verziert war! Auf der Brust der Holzgestalt erkannte sie Runen, die sie sonst nur in Werken der Dämonologie erwartet haben würde. Aus der Stirn sprossen drei mächtige Hörner, die die Spitze und die beiden Flanken des Türbogens bildeten. Magister Defrus stammte angeblich aus dem Brabak’schen. Mochte es sein, dass er dieses Ungetüm von einem Kleiderschrank aus der Halle der Geister oder einem vielleicht gar noch sinistreren Gemäuer mit ins Horasreich gebracht hatte?
Ihr Bruder unterbrach ihren Gedankengang. „Die Figuren sind nicht vollständig, Longidio. Es müssten zwei Dutzend Angreifer sein, sind aber kaum mehr als ein Dutzend.“ Er zählte die hellen Steine durch und stellte sie um den Horasstein am Rande des Spielbrettes auf. „Diese Seite ist vollständig. Zwölf Verteidiger und der Hauptstein.“ Der alte Pförtner erhob sich. „Ich kann, wenn Ihr es wünscht, noch einmal hinter die Wand sehen, hinter der ich die Steine gefunden habe. Vielleicht haben meine alten Augen etwas übersehen?“ Er lächelte und beeilte sich, zum Haupthaus des Institutes zu eilen.
In der Zwischenzeit suchte Brigona das Gespräch mit dem Hesinde-Geweihten. Magister Defrus hatte es sich derweil in seinem Ohrensessel bequem gemacht, sich den weißen, breiten Hut über die Stirn gezogen. Seine Atemzüge waren gleichmäßig.
Brigona schlenderte zu der Fensteröffnung hinüber und hielt Ausschau nach dem Vogel, den Defrus‘ Papagei gesehen haben wollte. Ohne Erfolg. Sie spürte, dass ihr Bruder hinter sie trat und begann, ohne sich umzudrehen. „Ist wahr, was ich im Torre hörte – Geronyas Rückkehr aus Vinsalt wird erwartet?“ Seine Zustimmung war mehr als das Nicken, das sie schwach aus dem Augenwinkel vernahm.
„Endlich.“ Sie zögerte. Es hatte sie beunruhigt, dass nichteinmal die Rückkehr ihres Vaters Kvalor die junge Magierin dazu bewegt hatte, ihr Studium an der Akademie zu Vinsalt zu unterbrechen um nach Shenilo zu reisen. Andererseits musste sie selbst sich jetzt vielleicht endlich einem Gespräch stellen. Seitdem Geronyas erster Mann Carolan während der Landherrenhändel gestorben war – als Brigona auf der Seite seiner Gegner gefochten hatte – hatten die beiden Frauen kein Wort mehr gewechselt.
Für einen Augenblick konnte Brigona die Hitze spüren, die über das Wasser schwappte, die Wellen zischend verdampfen ließ. Und sie hörte den Zauber über ihre Lippen dringen, der den Feuerball hatte zerbersten lassen, bevor er auf ihre Reihen traf...und Carolan verzehrt hatte.
„Wie geht es ihr, hat sie dir geschrieben?“ Sie wandte sich nun endlich zu Tankred um, auch um einen Blick zu Defranda hinüberzuwerfen, der allerdings nicht zu lauschen schien – wenn er überhaupt noch wach ist. „Selten. Angrond hält ansonsten den Kontakt. Wie ich höre, schreibt sie auch ihrem Ehemann nicht.“ Brigona schüttelte den Kopf. „Ich habe Thalion zuletzt gesehen, wie er einen von Cusimos Schülern herauszufordern versuchte. Hesinde sei dank ist der Junge gegangen, bevor es unangenehm wurde. Der Verlust seines ...Sohnes...scheint Thalion fast mehr mitzunehmen als dessen Mutter.“
Tankreds Miene war finster. Er seufzte. „Ich hatte gehofft, dass ihre Ernennung als meine Erbin sie umdenken lässt, aber sie scheint sich immer noch verkauft zu fühlen. Ich habe diese Ehen arrangieren müssen, das hat sie nie begriffen.“ Brigona lächelte. „Manche haben die Götter vielleicht nicht für die Ehe bestimmt.“ Sie tauschten einen Blick aus.
Es klopfte behutsam an der Tür. Der alte Pförtner trat herein, mit einem zufriedenen Lächeln präsentierte er weitere noch leicht von Staub und Spinnweben bedeckte Spielfiguren. Die beiden Menaris wandten sich wieder dem Brett zu.

Feuerausbruch

Der Hesinde-Geweihte hatte alle Figuren ordentlich auf dem Brett aufgestellt. Er lächelte, bevor seine Zufriedenheit von einer anderen Gefühlsregung weggefegt wurde. Der Priester erhob sich, ging an Tisch und Frau vorbei und wandte sich dem eigentümlichen Schrank an der gegenüberliegenden Wand zu.

„Was ist, Tankred?“ fragte die Magierin. Dieser reagierte jedoch nicht. Nun setzte sich auch der greise Diener in Bewegung. Der rotgewandte Magus Defrus schob zunächst behutsam, dann eilig, seinen Hut in den Nacken. „Nicht den Schrank!“

Eine Hand griff nach der Schranktür. Zog daran. Ein warnender Ruf schallte durch das Turmzimmer. Ein Knacken von der düsteren Schrankverzierung, die Hörner schimmerten rötlich. Hastige Bewegungen, ein Zischen, ein rotes Flackern das anschwoll, dann ein lauter werdendes, brennendes Knistern. Dann schwappte das Feuer durch den Raum.

Feuerteufel

Der Mann schlug die Lider auf. Der Brand schimmerte noch vor seinen Augen, gellende Schreie schrillten in seinen Ohren. Er lächelte und nahm eine hölzerne Maske vom Boden des Turmes. Ein friedlich schlummerndes, bärtiges Antlitz blickte ihn an. Er lachte ihm ins Gesicht. „Primum.“

Dann wandte er sich den verbliebenen Masken zu und grinste die toten Gesichter an. Er trat an die Brüstung des Turmes, sah erste Feuerzungen aus dem Turm schlagen, in den er noch eben geblickt hatte. Dann drehte er sich nach Westen um, wo der Lärm vom unruhigen Pöbel auf dem Platz anschwoll. Er spreizte die Arme. Es hatte begonnen.

Feueropfer

Eine geschundene Gestalt stolperte aus dem Zwielicht. Ein lautloser Hauch begleitete ihr Kommen. Schwarze Hände klammerten sich an eine Ziegelmauer, hinterließen schmerzhaftes Rot. Ein Blick aus tränenden Augen nach Westen, wo Flammen aus einem Turm in den Himmel leckten. Ein suchender Blick, ein Wimmern entrang sich der Kehle. „Wo bist du?“

Im Inneren des Gebäudes schlug ein Hund an. Die Gestalt zuckte zusammen, verharrte einen Augenblick. Dann lief sie, humpelnd, hangabwärts davon. Nach Osten.

Die Geschichte wird hier fortgeführt: König-Khadan-Platz