Briefspiel:Stille Wasser/Akt Ib

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Übersicht   Prolog   Akt I   Akt II   Epilog  
Graue Himmel und Grablegen   Ankunft im Regen   Albträume im Bergfried   Testamentsverlesung und Verlesungen im Testament   Auslegungssache   Suppengenuss   Suppensucht   Suppengift    

Randulfio Aurandis

Graue Wolkenmassen zogen am Horizont vorbei. Dicke Regentropfen schlugen gegen die großen Glasscheiben der Terrassentüren im Neuen Haus der Feste Aurandis. Randulfio Aurandis, 9. Signor der Aurandis von Elmantessa, starrte auf die nassen Bodenplatten der Terrasse auf der anderen Seite des Glases. Windböen zerzausten die Blätter der Kübelpalmen, doch Randulfios Blick nahm davon nichts wahr. Er dachte an seine Großtante Ismiane Halthera, die vor kurzem verstorben war. Als er ein kleiner Junge gewesen war, hatte er sie oft besucht. Zwar musste man auf dem Weg dorthin durch den dunklen Arinkelwald, wo Räuber, Kultisten und Schlimmeres hauste, aber jedes mal hatte er seine Angst überwunden.
Morgen würde er wieder durch den Arinkelwald reisen, diesmal, um sich ein letztes mal von Ismiane zu verabschieden. Sie war tot und an ihrem Grab würden sich zahlreiche nahe und ferne Verwandte einfinden, nicht alleine um zu trauern, sondern auch um das Erbe für sich zu beanspruchen. Und Randulfio würde ebenfalls seine Ansprüche anmelden. Als Erstgeborener des Erstgeborenen von Ismianes ältester Schwester sah er sich als natürlicher Erbe Ismianes. Wer weiß, vielleicht würde sogar seine Frau Guiliana erscheinen. Immerhin hatte er sie eine Weile nach Wanka verbannt und mit Tante Ismiane hatte sie sich – soweit er erfahren hatte – eigentlich ganz gut verstanden. Wobei sich Tante Ismiane mit jedem gut verstanden hatte.
Er seufzte. Lieber mit dem Schwert in der Hand in die Schlacht reiten als in so ein Schlangennest zu springen. Aber es ließ sich nicht ändern. Er war das Oberhaupt der Aurandis’ und er musste seine Ansprüche geltend machen.

Dozmano Kaltrek

Drei Lampen brannten in dem kleinen Raum und vermochten ihn trotz allem nicht vollständig zu erhellen. Tief und schwer hingen die grauschwarzen Regenwolken über dem Dorf und schienen jedes Licht ersticken zu wollen. Obwohl es heller Tag war sah man nur wenige Meter weit, wenn man aus dem Fenster sah. Vor ein paar Stunden hatten noch vereinzelte Blitze in bizarrer Schönheit die Landschaft für wenige Augenblicke erleuchtet, doch selbst das ferne Donnergrollen war verschwunden. Geblieben war nur noch die bleierne Dunkelheit, die aus jeder Ecke zu kriechen schien und das monotone Trommeln des Regens. Dozmano Kaltrek saß an dem großen, hölzernen Esstisch, die Hände vor sich auf der Tischplatte gekreuzt, den Blick leer und abwesend auf den gegenüber stehenden hölzernen Stuhl gerichtet. Doch schien er weit darüber hinaus zu blicken und die Gedanken in weite Ferne gerichtet zu haben. Auch Barisan schwieg, wußte er doch nicht was er sagen sollte. All sein Mitgefühl hatte er schon zum Ausdruck gebracht, jedem einzelnen der Familie hatte er mit betroffener Miene die Hand geschüttelt, die Frauen sogar in den Arm genommen und sie ihre, nicht versiegen wollenden Tränen, an seiner Schulter ausweinen lassen. Doch nun, wo er mit Dozmano allein war, schienen ihm keine tröstenden Worte geblieben zu sein.
„Ich verstehe es nicht.“ Kaltreks Stimme war leise und undeutlich, als spräche er zu sich selbst.
Barisan glaubte schon sich verhört zu haben und antwortete verwirrt „Was?“
„Ich verstehe es einfach nicht. Ich meine was ist dort draußen passiert? Was hat er da überhaupt gewollt? Und warum hatte er den alten silbernen Pokal mitgenommen?“, antwortete der Mann, der erst am Morgen aus Côntris eingetroffen war, um der Totenfeier der Herrin der Fuldigorsfeste und von Wanka, Signora Ismiane Halthera, beizuwohnen und nun den grausamen Tod seines Vaters verkraften musste.
Der Torwächter der Fuldigorsfeste schüttelte den Kopf „Keine Ahnung.“ Er kratzte sich nachdenklich am Kopf. „Vielleicht war er beim Heiligtum Olwerens?“ Wieder entstand eine kurze Pause „Der Pokal könnte ein… ein Geschenk...oder sowas gewesen sein?". „Ein Geschenk?“, fuhr Dozmano ihn an. „Du meinst wohl eher, dass ihn der Pokal zum Ziel für seinen Mörder hatte werden lassen?“
Er hatte sich zusammen mit dem jungen Kaltrek den geschundenen Leichnam Olweimos angesehen, als man ihn ins Dorf brachte und war selbst über die Grausamkeit, mit der der alte Dorfvorsteher ums Leben kam, entsetzt gewesen. „Nein, dann hätten wir den Pokal nicht bei ihm gefunden. Vielleicht hatte es etwas mit der Totenfeier zu tun, Du weißt ja, dass er ab und an mit der Signora im Arinkel war.“
Dozmano blickte seinen Freund, den er schon von Kindesbeinen an kannte, wenig überzeugt an, dann wandte er seinen Blick wieder dem Stuhl zu und sandte seine Gedanken in weite Ferne. Barisan hingegen sprach mit leiser Stimme wie zu sich selbst: „Wir werden dem ganzen nachgehen. Wenn die Toten erst beerdigt und der Regen aufgehört hat, werden wir dem Ganzen nachgehen. Ganz bestimmt.“

Horasio und Rahjada ya Papilio

Schmetterlinge mit nassen Flügeln

„Dieser Lenzregen kann einem schön das Gemüt verwässern, nicht? Ich bin froh, dass wir die Kutsche genommen haben, meine Liebe. Und jetzt sind wir wohl auch bald da, Rahjada. Rahjada? Aufgemerkt! Ich rede mit dir!“
Unwillig schüttelte Rahjada ya Papilio ihren Tagtraum ab. Was musste dieser Horasio nur immer so viel reden! Es schien ihr, dass er umso mehr Worte herausbrachte, je weniger sie sprechen wollte. Weshalb konnte er sie nicht einfach ihren Gedanken an ihren Liebsten nachhängen lassen, wo sie schon Shenilo hinter sich lassen und in diese Einöde fahren musste, um ihrer gemeinsamen Mutter zur Hand zu gehen?
„In der Tat. Ohne Unterlass“, erwiderte sie unwillig. „Jetzt hör doch auf so grimmig zu sein. Machen wir das Beste aus dieser Reise! Das ist das erste Wagnis, seit wir in Ramaúd waren und...“ „Erinnere mich nicht daran. Wenn diese groben Wachen im Schloss uns erwischt hätten...!“ „Haben sie aber nicht. Und außerdem bist du freiwillig dort eingeschlichen, um diesen alten Brief zu suchen, der Rat Gishtan helfen soll, sein Erbe zu bekommen. Ich habe dich ja kaum wiedererkannt. Erst warst du begierig, der Cavalliera anzutragen, dass doch deine Schriftkunde in dem Archiv wertvoll sein würde, und dann hat unser Fräulein Regeltreu nicht mit der Wimper gezuckt, als es darum ging, Praios einen guten Mann sein zu lassen und einfach heimlich nach dem Dokument zu schauen. Ich finde schon noch heraus, welches Eigeninteresse du in dieser Sache hattest!“
„Nicht jeder ist so phexisch gesinnt wie du“, gab die Schreiberin schnippisch zurück. Rahja hat viel mehr damit zu tun, dachte sie dann im Stillen. Und wenn sie helfen konnte, dass ihr Liebster das erhielt, was ihm zustand, würde sie auch bei einer neuen Gelegenheit nicht einen Satinavsblick lang zaudern. „Jedenfalls darfst du dich dann nicht wundern, wenn unsere Frau Mutter es nach diesem Einsatz für sinnvoll erachtet, dich mit mir gemeinsam in dieser Erbschaftssache ins Hinterland zu delegieren. Vielleicht wird diese Testamentsverlesung ja ganz interessant? Vielleicht lernen wir neue Leute kennen? Vielleicht gibt es die Möglichkeit zu tanzen – würde dir auch mal gut anstehen –, zu trinken, zu spielen? Warum sollen immer nur Familienoberhäupter, Adelige und Amtsträger feiern und spannende Dinge erleben?!“ Horasio war unweigerlich ins Gestikulieren gekommen und strich sich nun eine lose Haarsträhne hinters Ohr, die sich in der Begeisterung gelöst hatte.
Rahjada rümpfte die etwas zu große Nase, wegen derer man sie in der Praiostagsschule „kluges Gänslein“ geschmäht hatte. Sie wollte aber gar nichts Spannendes erleben! Ihr genügte der Reiz, die Debatten im Haus der Edlen zu verfolgen, wo sie gelegentlich als Protokollantin berufen war. Dort wurde über das Schicksal des Horasreiches gesprochen – mitunter auch von IHM –, über Angelegenheiten von Belang für den ganzen Staat, und auf den Gängen der Konventshalle konnte man mit etwas Glück den Mächtigsten des Landes begegnen. Vom Blick eines Herzogs gestreift, aber nicht gesehen zu werden, reichte ihr als Nervenkitzel. Ihre Gedanken wurden erneut unterbrochen: „Ich glaube, wir sind da“, juchzte Horasio, als die Kutscherin die Pferde langsamer gehen ließ und bald ganz anhielt.
Die Halbgeschwister hörten das Hämmern seiner Faust gegen ein Tor und nach einer Weile einen durch das Rauschen des Regens kaum zu verstehenden Wortwechsel. Dann wurde laut und umständlich eine Torhälfte aufgeschoben, Horasio hob die lederne Klappe, als sich das Fahrzeug wieder in Bewegung setzte, und spähte hinaus: „Schloss Ramaúd gefiel mir besser“, sagte er nach einem Blick auf das regennasse, von Alter grauschwarze Gemäuer der Fuldigorsfeste konsterniert. „Ob wir hier viel Spaß haben werden?“ „Dafür sind wir nicht hier“, wies ihn Rahjada zurecht. „Lass uns möglichst rasch Urgroßonkel Olwid unsere Aufwartung machen – ohne viel Aufhebens. Je rascher das Testament Großtante Ismianes geöffnet wird, desto schneller sind wir zurück in Shenilo.“ Die Kutsche hielt und Kutscherin öffnete den Schlag. Grässliches Wetter, dachte Rahjada ya Papilio. Doch wenn sie erst mal im Trockenen wäre, hätte sie das Schlimmste ja hinter sich.