Briefspiel:Stille Wasser/Akt Ic

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Graue Himmel und Grablegen   Ankunft im Regen   Albträume im Bergfried   Testamentsverlesung und Verlesungen im Testament   Auslegungssache   Suppengenuss   Suppensucht   Suppengift    

Boronello Halthera

Ertrinken

Boronello machte einen weiteren kräftigen Schwimmzug, der ihn – ebenso wenig wie der vorausgegangene – dem Ufer des Sees näher brachte. Er war auf den See hinausgeschwommen um es ihnen allen zu beweisen. Um den Spott zu beenden, seine eigene Furcht zu besiegen. Doch er hatte die unsichtbaren Strömungen unterschätzt und auch, wie breit der See war. Er hatte die Mitte des Gewässers erreicht und hatte sich einen Augenblick vom Hochgefühl des Erfolges umschwirren lassen, bevor er zurückzuschwimmen begann.
Doch quälend lange schien der Rückweg, jetzt verließen ihn die Kräfte. Seine Arme waren schwer, der Atem rasselte durch seine Brust, seine Füße fühlten sich an, als seien sie mit Steinen beschwert und wollten ihn in die undurchdringlichen Tiefen hinabziehen. Er schlug die Arme nach vorne und bewegte die Beine, wie es ihm seine Mutter gezeigt hatte, doch mit einem Mal war da eine Berührung an seiner rechten Wade, eine Wurzel, ein Stein oder etwas anderes. Boronello kam aus dem Rhythmus, versank bis zur Stirn im Wasser und schluckte dunkles Nass. Er schob sich strampelnd über die Wasseroberfläche, hustete, spuckte Wasser aus und versank erneut. Seine Beine waren schwer, seine Arme schmerzten, seine Brust brannte. Er riss, von dunkler Panik überfallen, die Augen auf und fuchtelte mit den Armen um seinen absinkenden Körper wieder in Richtung Wasseroberfläche zu tragen, doch so fern wie das Ufer ihm zuvor geblieben war, so unerreichbar schien jetzt der düstere Nachthimmel über ihm. Seine Bewegungen erlahmten, als er immer schwächer, sein Leib immer schwerer wurde, der Druck auf seiner Brust ließ ihn einen tödlichen, feuchten Atemzug machen, ein gurgelnder Schrei, den niemand hörte.

Erwachen

Träumt schlecht - Boronello Halthera

Ein Klopfen riss Boronello aus seinem Alptraum. Schweißnass und schwach zitternd setzte er sich langsam auf und mühte sich, seinen Atem zu beruhigen. „Einen Augenblick“, murmelte er dann. Er schwang die noch immer schwächelnden Beine über das Bett, er war in seinen Gewändern auf dem Bett eingenickt. Boronello hustete gequält und warf sich einen Kurzmantel über die Schultern, nahm ein Tuch und tupfte sich Stirn und Lippen ab. Mühsam straffte er sich. In den letzten Tagen fühlte er sich wieder krank, war häufig müde. Und mit dem Schlaf kamen, wie fast stets, die Träume. Düstere Träume.
„Herein!“ sagte er, mit deutlich mehr Kraft in der kratzenden Kehle als er in seinen Knochen fühlte. Eine Frau mittleren Alters öffnete zögerlich die Tür, in ein hochgeschlossenes Mieder und einen hellroten Umhang gekleidet. „Haushofmeisterin Gorrada, womit kann ich dienen?“ Gorrada war unscheinbar, nur ihre tiefsitzenden grauen Augen waren bemerkenswert, denen nicht viel zu entgehen schien, ein kurzes, nicht ganz verborgenes Stirnrunzeln mit Blick auf Boronellos – zweifelsohne bleiches – Gesicht verriet ihm das. Die Frau neigte leicht den Kopf. „Ich wollte mir nur die Frage erlauben, ob die Räumlichkeiten Euren Erfordernissen genügen, Vogt Boronello.“
Der Angesprochene schluckte bittere Galle herunter, bemühte sich aber um ein zustimmendes Lächeln. „Ich war froh zu sehen, dass die alten Gemäuer noch nicht gänzlich verfallen sind. Im Gegenteil, Ihr scheint bewerkstelligt zu haben, dass viele Gäste hier eine angemessene Unterkunft finden werden!“ Gorrada zuckte nüchtern die Schultern. „Die Weitläufigkeit des Bergfrieds ist ein Erbe der Kastellane, an Räumen mangelte es nie.“ Schon eher an Bewohnern, richtig, dachte Boronello. „Wenn ich Euch noch in irgendeiner Weise behilflich sein darf...? Ansonsten würde ich mich um die restlichen Vorbereitungen kümmern müssen...“ Boronello nickte, er hatte ohnehin keinen Bedarf nach Gesellschaft, erst einmal musste er richtig wach werden.
„Die Zusammenkunft wird im Ribatsaal stattfinden, nehme ich an? Ich werde mich dann dort ein wenig umsehen, ich habe das alte Gemäuer schon einige Jahre lang nicht mehr gesehen.“ „Selbstverständlich! Der Gesandte von Sodanyo, Ilmordro de Maltris ist ebenfalls bereits eingetroffen, aber es wird noch etwas dauern, bis alle Gäste da sind, vermute ich.“ Gorrada Altmeister neigte leicht den Kopf und ging wieder in den schmalen Gang am Rande der Außenmauern, der um die ganze Fläche des Stockwerks bis zu den Treppen nach oben und unten verlief, wie Boronello wusste. Er selbst wandte sich in die entgegengesetzte Richtung, wo eine Treppe ins 2. Stockwerk hinabführen würde.
Der Bergfried hatte, soweit sich der Vogt erinnerte, vier bewohnbare Stockwerke: Zunächst den Gesindetrakt mit Küche und Vorratskammern, dann den Ritterstock, der etwa Waffenkammer, aber auch den größten Raum des Turmes, den Ribatsaal beherbergte und schließlich die beiden Wohnstöcke in denen die Gäste bzw. die Familie untergebracht waren. Im oberen Stockwerk waren die Räumlichkeiten des Kastellans, die jetzt, wenn Altmeister sie nicht einem Gast zurechtgemacht hatte, leerstehen würden. Darüber lag nur noch die Plattform des Bergfrieds und als Boronello an den zu kleinen Fensteröffnungen erweiterten Schießscharten vorbeiging und das düstere und nasse Wetter draußen wahrnahm war er froh, nicht direkt unter dem Dach zu schlafen, denn zweifellos musste man dort bald den ein oder anderen Wassereimer aufstellen. Er erreichte die steinerne Stiege zur Treppe, die ihn abwärts führen würde und hörte Schritte, die sich von unten näherten, also wartete er kurz. Eine Lederkappe kam schließlich in sein Sichtfeld die auf einem blonden Haarschopf ruhte, die Gestalt war mit einem Kürass gepanzert und trug eine Seitenwaffe. Erst als sie den Treppenabsatz erreicht hatte und Boronello zunickte erkannte er, dass es sich um eine Frau handelte. Der Kürass war an einer Stelle über der Leiste mit dicken Lederriemen geflickt worden und an einigen Stellen eingedellt. Wie alles an und in der Burg sieht auch diese Rüstung alt und von Wetter und Zeiten gegerbt aus, dachte der Vogt. Er blickte der Büttelin noch einen Augenblick hinterher und machte sich dann an den Abstieg.
Boronello betrat den Ribatsaal, wo eine junge Magd, das schmale Gesicht von einer getäfelten Haube eingefasst, gerade dabei war den langgezogenen Holztisch, der den Raum in der Mitte spaltete, mit Geschirr zu bedecken. Nun hielt die Frau mit der flachen Nase in ihrer Arbeit verwundert inne und machte einen etwas unbeholfenen Knicks. Boronello hielt die Faust vor den Mund und hustete und machte mit der anderen eine abwehrende Geste in Richtung der Frau. „Lasst Euch von mir nicht aufhalten, meine Liebe“, krächzte der Vogt und räusperte sich. „Ich vertrete mir nur etwas die Beine, bevor die Anderen eintreffen.“ Die Magd errötete und schlug die Augen nieder, ging dann aber wieder zurück an ihre Arbeit.
Der Raum war nicht so gewaltig, wie ihn Boronello von früher in Erinnerung hatte, aber er war immer noch groß. Runde Säulen, deren Füße von längst bis fast zur Unkenntlichkeit von Zeit, Staub und Luft abgetragenen Verzierungen und Farbresten verziert waren säumten den langgezogenen Raum und trennten so zwei an den Wänden entlangführende Wege vom Hauptraum, der nun für die Zusammenkunft der Erben und Trauernden vorbereitet wurde. Er strich an einer Seite des Tisches entlang, wo massive Holzstühle aufgetragen worden waren, die alle von unterschiedlicher Größe und Machart waren, aber – soweit er das zu beurteilen vermochte – schreinerisches Können verrieten. Die Holzschnitzarbeiten aus Wanka sind immerhin auch über die Dorfgrenzen bekannt, ein Schicksal, das sie nur mit dieser ekelhaften Nudel gemein haben! Boronello verzog das Gesicht und entdeckte weitere Schnitzarbeiten, hölzerne Teller, die auf den Plätzen bereitgelegt worden waren, jeder mit einem Symbol verziert. Ein Kirschbaum, eine Hand, ein Schmetterling – die Wappen der Gäste? Er zog überrascht die Augenbrauen hoch und machte sich auf die Suche nach der Roteiche der Halthera, die den ihm zugewiesenen Platz markieren würde, wie er vermutete. Dabei kam er an einem Gemälde vorbei, das im Säulengang hing, an wenig prominenter Stelle, eher zufällig nahm er es genauer in Augenschein und zog überrascht die Augenbrauen hoch. Das in fein geschnitztem Rahmen gehaltene Bildnis hatte früher im Anwesen seiner Mutter in Aperinis gehangen und hatte ihm stets etwas Angst bereitet, daher hatte er es als Junge kaum eines Blickes gewürdigt.
In Jagdkleidung und einen grau-weißen Pelz gehüllt stand dort ein unbewaffneter Mann in einer düsteren Grube, der mit furchtsamem Gesicht in Richtung einer unsichtbaren Gefahr blickte. Das von dunklem Blattwerk und Ästen zurückgehaltene Licht, das der Maler in die Grube hatte fallen lassen, beleuchtete eine verbogene Gabel und einen ausgeweideten Fisch, einen Wels offenkundig, die zu den Füßen des Mannes lagen. Über Fisch, Gabel und Mann fiel der drohender Schatten eines erhobenen Tieres, das vor dem Betrachter verborgen blieb. Nur eine braune, pelzige Klaue war im unteren Bildrand zu erkennen. Ein Bär? Boronello hustete, als sich erneut ein drückendes Gefühl in seinem Brustkorb breitmachte, ließ sich aber nicht vom Anblick des Bildes ablenken. Er betrachtete mit zerfurchter Stirn das Messingschild mit dem Titel des Bildes – „Jagdunfall im Arinkelwald“ –, suchte jedoch vergeblich nach einer Angabe über den Urheber. Ganz in der rechten unteren Ecke, im Schatten des Tieres gewahrte er jetzt, mit feinen silbernen Strichen gezeichnet, die Lettern A und H inmitten einer Astgruppe auf der ein ebenfalls silbernes Eichhorn saß.

Mysteriöses Porträt Miano Haltheras

Nun war seine Neugier geweckt: Er ging hinüber ans gegenüberliegende Ende des Raumes, wo ein weiteres Bild des gleichen Malers hing, das in seiner Jugend noch nicht im Ribatsaal gehangen hatte. „Wankerer Feierstunde“ betitelte das Messingschild die Darstellung eines Treffens zwischen zwei offenbar dem Landadel entstammenden Männern in einem von Säulen gesäumten Saal, den Boronello mit etwas Fantasie als eben jenen Raum erkannte, in dem er soeben stand. Ähnlich wie er es beim „Jagdunfall“ bemerkt hatte waren auch bei der „Feierstunde“ durch die Lichtzeichnungen des Malers einige wenige Elemente hervorgehoben, in deren Zentrum die einander die Hände reichenden und lächelnden Männer waren. Der ältere trug einen Spitzbart und einen Pelzmantel, der an das Gewand des Mannes in der Bärengrube erinnerte, aber von schmutzigem Grau war, der jüngere trug einen auffälligen Mühlstein und war mit einem Schwert gegürtet, dessen Klinge in den Schatten lag. Nein, kein Schatten, ist ... ist das Blut? Er ahnte nun, welches Ereignis hier dargestellt war. Es war nur eine Vermutung, aber die Symbolhaftigkeit dieser Bilder untermauerten seine Annahme. Und er kannte den Spitzbärtigen von den Sarkophagen in der Grablege. Miano, der Gransignor, der Bruder meines Urgroßvaters! Und die eigenartigen Wellen, um die Stiefel des Bewaffneten waren ebenso wenig Schatten. Boronello lächelte. Es ist Wasser. Denn Ralman von Calven-Imirandi ist ertrunken. Eine Strafe Efferds, weil er die Kastellanin Daria erschlagen hat!
Diese Geschichte hatte ihm seine Mutter einst erzählt. Wieder suchte er nach der Signatur, und fand in der Tat neben den Stiefeln des Bewaffneten die Lettern AH und die nun bekannte Silberzeichnung mit dem Eichhörnchen. Er hatte einen Verdacht, was die Identität des Malers, oder besser der Malerin, anging.

Extrablatt über einen ertrunkenen Jungen aus Shenilo

Er fuhr herum, als sich eine Männerstimme hinter ihm räusperte. An einem der Plätze an der Tischplatte saß ein stämmiger braunhaariger Mann in einem schlichten, aber gut gefertigten Lederwams. Er faltete eine Ausgabe des Sheniloer Hesindeblattes zusammen, in der er augenscheinlich gelesen hatte und blickte Boronello aus blauen Augen mit schwachem Lächeln an. „Darf ich Euch an meiner Lektüre teilhaben lassen, Signore?“ Boronello starrte eine Weile vor sich hin. War der Mann schon die ganze Zeit da gewesen? Er konnte ihn doch unmöglich übersehen haben, niemand war so unauffällig! Der Vogt von Aperinis hustete und, obwohl seine Brust schmerzte, war er dieses eine Mal froh, etwas Zeit zu gewinnen. Kenne ich dieses Gesicht? Müsste ich es kennen? „Seid bedankt, Signore!“ Er beschloss die Haushofmeisterin baldmöglichst zu befragen. Warum hat die Frau nichts gesagt, dass der de Maltris nicht der einzige Gast ist, der schon eingetroffen ist? Boronello griff nach dem Hesindeblatt, mehr, um wenigstens irgendetwas zu tun. Immerhin, die Ausgabe hatte er noch nicht gelesen. Obwohl die Druckerei Geron Altmeisters immer einige Exemplare führte dauerte es mitunter, bis das Druckwerk nach Aperinis kam. Als er die erste Seite überflogen hatte blieb er an einem bestimmten Artikel hängen. Badeunfall im Gerbersee? Als er die Zeilen zu lesen begann schien sich eine eisige Hand um seinen Nacken zu legen. Schneller und schneller hastete er durch die Worte während er spürte, wie er in kalten Schweiß ausbrach. Vergessen waren die Bilder, vergessen der unbekannte Gast. Er war wieder bei seinem Traum, der schmerzende Druck auf seinem Brustkorb wurde schlimmer. Ein ertrunkener Junge.

Francidio di Côntris

Dumpfschädel für Francidio?

Francidio di Côntris zog den hohen Kragen seines gewachsten Mantels enger und gab seiner Mähre die Sporen. Bereits in den frühen Morgenstunden war er von Pertakis aus aufgebrochen. Nun da er in Wanka angekommen war, war die Nacht schon längst hereingebrochen. Bereits am Morgen war das Wetter nicht gerade angenehm gewesen. Ein dichter Nebel hatte über Pertakis gelegen und eine feuchte Kälte war Francidio beim Verlassen der Landstadt in alle Glieder gekrochen. Irgendwann nach Helametto hatte sich der beständige Nieselregen dann in einen wahren Sturzregen gewandelt. Wie schon am Vortag schien es, der launische Herr Efferd hätte alle Himmelsschleusen geöffnet um sich der Menschheit ein für alle Mal zu entledigen.
In Orsofina hatte sich Francidio kurz aufwärmen wollen, aber keiner der abergläubischen Einwohner hatte ihm die Tür geöffnet. Es regne Kröten und Unken, hatte ihm ein altes Weib mit gebeugtem Rücken am Wegesrand erzählt. Die Tote Braut gehe wieder um und überhaupt wäre ein jeder von Sinnen, der an solch dunklen Nachmittagen entlang des Waldes nach Wanka reite. „Ein bestes wäre es, Hoher Herr, ihr kehret um, bevor es zu spät ist. Noch ist die Nacht fern.“
Nun hatte er es fast geschafft. Sein Pferd war sichtlich erschöpft, aber er trieb es dennoch beständig an. Das Atmen fiel Francidio schwer. Mit einem rasselnden Husten löste sich ein größere Batzen Schleim bei dem Versuch einen tiefen Atemzug zu holen. In Gedanken schalt er sich selbst nicht eine Kutsche des Postendienstes Pertakis für seine Anreise gewählt zu haben. Am Morgen hatte er entschieden das Pferd zu nehmen, wollte er doch größere Aufmerksamkeiten vermeiden. Seitdem er sich vor sechs Jahren mit dem pertakischen Patriziat verbündet hatte, war er in den Ländereien des Sheniloer Bundes nicht mehr gut gelitten. Für seine Voraussicht hatte er sich nun wohl eine ernsthafte Erkältung geholt. Er musste daran denken, dass so mancher gesunde Mann in seinem Alter solch ein Ungeschick schon mit dem Leben bezahlt hatte.
So trieb Francidio sein Pferd weiter in die Tiefen des dunklen Waldes. Nach einigen Meilen, in denen sich der Weg durch den Forst beständig verschmälert hatte kamen in Francidio Zweifel auf, ob dies wirklich der rechte Weg zur Fuldigorsfeste war. Hatte er die richtige Abzweigung des Weges übersehen? Hatte ihn der blödsinnige wankarer Bauer aus Bosheit oder Idiotie auf einen Irrweg verwiesen? Dumm gelacht hatte der Wankarer, als ihn Francidio nach dem Weg zur Burg gefragt hatte. Dumm gelacht, hatte er und mit zitterndem Finger firunswärts gezeigt.
Francidio war ein Mann des Verstandes. Er gab nicht viel auf Bauernweisheiten und Köhlerglauben. Er war ein Mann des Verstandes, und doch gelang es ihm nicht die wirren Geschichten der Landbevölkerung bei seinem Ritt aus dem Kopf zu bekommen. Ein weiterer rasselnder Hustenanfall löste sich aus Francidios Brust. Gerade musste er wieder an die Geschichte der Geisterbraut von Orsofina denken, die vor nur einigen Jahrzehnten von ihrem eigenen Bräutigam bei lebendigem Leibe verbrannt worden war – in einer Burg am Rande des selben Waldes –, als sich vor Francidios Augen dunkles Gemäuer aus dem schwarzen Tannicht schälte. Francidio erschauderte und auch seine Mähre wieherte auf, als ob sie denselben Schrecken ihres Herrn verspürte. Ein schwaches Licht flackerte durch einige Öffnungen des halbverfallenen Gemäuers. Langsam ritt Francidio über die klamme Zugbrücke. Es war nicht zu erahnen wie tief der Graben links und rechts der Brücke war. Vielleicht waren es nur einige dutzend Spann, es hätte sich jedoch genauso gut um eine tiefe Klamm handeln können. In der Dunkelheit schien der Abgrund jenseits des rutschigen Holzes unendlich tief. Francidio beruhigte das unruhige Pferd als er von seinem Sattel stieg. Er klopfte einige Male, gegen das morsche Holz des Eingangstores. Er versuchte nach Schritten auf der anderen Seite des Tores zu lauschen, konnte aber nur das Rasseln seines eigenen Hustens vernehmen. Schließlich hörte er wie der Riegel des Tores verschoben wurde. Das Tor öffnete sich langsam und ein buckliger Greis kam dahinter zum Vorschein. Der Bucklige mit dem braunen Schnurrbart musterte Francidio für eine Weile, machte jedoch keine Anstalten das Tor ganz zu öffnen. „Verzeiht der Herr, aber nur geladene Gäste können der Herrin heute Ihre Aufwartung machen. Ihr seid …?“
„Francidio di Côntris, Herr von Chetan und …“, Francidio wurde von einem weiteren Hustenanfall erschüttert. „Ach, der Herr vom Hesindeblatt? Gerade heute haben wir das Extrablatt erhalten“, unterbrach ihn der Greis. „Nein, nicht der vom Hesindeblatt. Der ist tot!“ entgegnete Francidio widerwillig. Eine kurze stille kehrte ein. „Ich bin Francidio di Côntris, Herr von …“, ein rasselnder Stoß aus Francidios Brust nahm ihm abermals die Worte. „Der Herr von Côntris? Für einen Moment dachte ich Ihr sagtet Chetan. Mit Verlaub, Hochgeboren, Euch habe ich mir immer ein wenig jünger vorgestellt“, unterbrach ihn der Bucklige abermals. „Nein, ich bin nicht der Signor Dartan - ich bin Francidio, der Herr von Chetan und Banquiris – und Côntris wenn Ihr so wollt“, brachte es Francidio schließlich verärgert heraus. „Der Herr Tyrrenhi von Banquiris?“, fragte der Alte ungläubig und machte eine ängstliche Grimasse. „Ja, genau der“, erwiderte Francidio sichtlich ermüdet.
„Seid Ihr nicht tot?“ Ein weiteres Mal war für eine kurze Zeit nur der nächtliche Regen zu hören. „Nein, wie Er sieht stehe ich ganz lebendig vor Ihm“, entgegnete Francidio irritiert. „Vergebt, Signor, für einen Moment dachte ich, Ihr wäret damals in Chetan vom Pöbel, nun ja Ihr wisst schon… und bei eurer Gesichtsfarbe könnte man geradezu meinen, Ihr kämet frisch aus dem Grab. Aber was macht Ihr hier so spät im Arinkelwald? Seid Ihr vom Weg abgekommen?“, fragte der Bucklige besorgt. „Ich vertrete meine Gemahlin, die Signora Meryama Aurandis. Sie ist erkältet. Und nun sieh Er zu, dass wir ein warmes Zimmer und ein Fußbad bekommen.“

Caron von Imirandi und Leophex von Calven

Der Mann im Samtwams strich sich durch den Backenbart, den er sich seit kurzem wachsen ließ und der noch recht spärlich die jungen Züge umgab. Er lüftete einen der schweren Lederlappen, die die Türöffnungen der Kutsche abdichteten und schaute nach draußen. Die Landschaft, die sich seinen Augen darbot, vermochte ihm nicht zu gefallen. Düstere Regenwolken hingen über dem Land und Efferds Segen ergoss sich überreichlich auf Wiesen, Felder, nicht zuletzt auf das, was sich mit viel gutem Willen als Straße bezeichnen ließ. Und der Dauerregen ging auf den Wald nieder, auf den ewigen, alten, weiten Wald. Eine düstere Stimmung, die aber die gute Laune des jungen Mannes endlich doch nicht zu trüben vermochte.
Dies tat eher schon der ältere Herr neben ihm, der sich seit Stunden halblaut sowohl über das Wetter wie über die eingetretene Verspätung erregte. Leophex klappte den Lederlappen zurück. Er hatte genug gesehen und versuchte ein Gespräch: „War Euch die hitzige Schwüle des letzten Sommers lieber? Man glaubte sich ja nicht im Yaquirtal, sondern in den Gassen Mengbillas.“
Mengbilla, ja, da mögen sie alle hinfahren oder weiter, in die Niederhöllen! Da passen sie hin, diese Hunde...“ Das sonst nur blassrosafarbene Gesicht des Alten hatte sich puterrot verfärbt und die teigige Haut zitterte unter seinem mühsamen Schnaufen. Leophex hoffte, Caron würde wenigstens noch die paar Meilen bis zur Fuldigorsfeste überleben. Bürgen wollte er aber dafür nicht, schließlich war er Rechtskundiger und kein Medicus. „Aber Oheim“, führte er ein weiteres Mal an, „das Kutschrad war einfach im Schlamm stecken geblieben und dass das Pferd an den Thujen geknabbert hat, dafür kann doch niemand etwas.“
„Naiv, naiv! Sabotage, Gift! Wir sind umgehend aufgebrochen, wir wären vor allen anderen da gewesen, wir hätten die Sache klären können, bevor diese nachgeborenen Ratten aus ihren Löchern kriechen. Und so? Kommen wir sogar zu spät!“
Leophex musste ob so viel Torheit lächeln: „Aber da wir früher von der Sache wussten als die meisten, müsste ein Attentäter doch so schnell wie eine Brieftaube gewesen sein und hätte wohl auch den gleichen Weg wie diese – geradewegs über den Arinkelwald – nehmen müssen.“ Das Gesicht des ehemaligen Stadtrichters von Shenilo nahm statt eines satten Karminrot nun ein düsteres Purpur an: „Spotte noch! Vielleicht war Magie im Spiel? Warum sollten nicht diese verräterischen Zauberer, diese Menaris ihre Finger in der Sache haben? Erst jüngst las ich von dem Pack im Praiosspiegel...“
Leophex hörte nicht mehr zu, lehnte sich vielmehr zurück und steckte sich seinen methumischen Cigarillo an. Zwar war dieses Schmauchen grade bei vielen Gecken in Vinsalt eine Mode – aber der Licentiatus juris schätzte seit langem die beruhigende Wirkung. Kein Wunder, dass dieser Signore re Kust all die Jahre in der Sheniloer Kleinstadtluft nur mit aromatischem Tabacduft ertragen konnte...

Andacht

Es war ein seltsamer Anblick, den massigen Körper vor dem Sarkophag auf die Knie sinken zu sehen, das Haupt mit den schütteren, teils roten, teils grauen Haare voller Demut gesenkt.
„Heuchelei“, dachte Leophex, „Ekelhafte Heuchelei. Mein täglich Brot...“ Der junge Jurist musste unwillkürlich schmunzeln, ermahnte sich dann aber angesichts der gewiss boronheiligen Umgebung. Er versuchte, seine Sinne auf ein Gebet zu lenken, aber von Gebeten kannte er nur die an Praios, an Hesinde – und insbesondere das an Rahja. „Du Narr“, schalt er sich abermals, „wer weiß, wie bald Dein letztes Stündchen schlägt. Oder Carons.“ Er schwor sich, demnächst im Brevier ein Gebet an den Totengott wenigstens einmal durchzulesen.

Caron erhob sich unter Ächzen. Seit dem Ende seiner Amtszeit war der einst so zufriedene und genügsame Mann ebenso wie von dem wachsenden Groll in seinem Herzen von einem geradezu krankhaften Appetit gezeichnet, was sich in seiner Figur deutlich wiederspiegelte. Ohne das Wort an oder auch nur einen Blick auf Leophex zu richten, verließ Caron die Grablege in Richtung des Burgteils, an dem einige Lichter zu sehen waren und den ihnen diese unmögliche Person am Tor als Versammlungsort gewiesen hatte. Obwohl der alte Stadtrichter es offensichtlich verbergen wollte – Leophex hatte die Tränen in seinen Augen und an seinen Wangen wohl bemerkt. Er folgte seinem Oheim schließlich schnellen Schrittes und stolperte auf dem Burghof nur einmal über eine streunende Katze.

Der große Saal – was hier eher der Tradition in der Benennung als den Ausmaßen gerecht wurde – war trotz der zahlreich anwesenden Gäste auffällig ruhig. Der Gesprächsstoff bestand eigentlich nur aus Bemerkungen über die beiden Neuangekommenen. Die meisten der Anwesenden sagten Leophex nichts als er aber ihre Namen hörte, ging ihm einiges auf: Halthera waren zu erwarten gewesen – sofern es sie noch gab –, aber Gabellano, di Côntris, di Selshed, Aurandis, ya Papilio, Kaltrek (was wohl ein Wankara-Verwandter war) und auch – ja, noch ein junger Mann, dessen Namen er vergessen hatte, der aber auch einer hohen Familie angehören mochte.
Fast der gesamte ponterranische Ritter- und ein nicht ungewichtiger Teil des Geldadels waren vertreten. Nicht auszudenken, wenn all diese Familien auch Prätendenten stellten. Die Sache schien – so dachte sich Leophex als er eben dem ständig hustenden Vogt von Aperinis die Hand zum Gruß reichte – doch spannender zu werden, als es ihm nach Carons Brief geschienen hatte. Und plötzlich, nein, eigentlich ganz langsam begann er den Verfolgungswahn des Alten zu verstehen.