Briefspiel:Zug nach Norden/Fischgebeine

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Beteiligte (irdisch)
Haus di Selshed klein.png Athanasius

Der Briefspieltext Fischgebeine behandelt die Eskalation des Zugs nach Norden zwischen dem Haus di Selshed und dem Sheniloer Bund bei der Stadt Calven und die anschließende Auflösung in Selshed.

In den Hügeln der Delphinküste, 9. Efferd 1036 BF

Auf der Hügelkuppe standen drei Pferde. Die Reiter konnten kaum unterschiedlicher sein. In der Mitte war eine Frau von höherem Alter, flankiert von zwei Männern, einem jüngeren und einem älteren. Die Frau war nicht groß, hielt sich aber aufrecht und ihre Arme waren trotz ihres nicht geringen Alters immer noch sehnig. Sie wirkte mindestens ebenso zäh wie das bronzierte Kettenhemd, mit dem sie angetan war. An der Seite ihres Sattels hing in einer großen Halterung eine mächtige Zweihand-Axt, die mit Griff wohl länger sein mochte, als die Reiterin selbst groß.
Für den Mann zu ihrer Linken wäre die Waffe fast als Seitenwaffe durchgegangen, doch auch er selbst führte eine jener Waffen, die man auf den Zyklopeninseln häufiger antraf und deren namensgebenden Riesenschmieden zuordnete. Der Mann hätte die Reiterin wohl auch zu Fuß überragt, er musste wohl einen halben Schritt größer sein als sie. Haar und Gesichtsfarbe verrieten, dass er nicht von Güldenländischer Abstammung war - aber bei Weitem nicht so dunkel wie ein Utulu, wie man angesichts seines riesenhaften Wuchses hätte vermuten können.
Zu ihrer Rechten lenkte nun ein untersetzter, aber kräftiger Mann mit grauem Bart und braunem Haarkranz seine Stute zentraler auf die Kuppe. Der Mann war in einen schmucklosen, aber solide gefertigten Harnisch gekleidet und hielt das Heft eines Breitschwerts, das noch in der Scheide ruhte, mit einer kräftigen Hand umgriffen. In ihrer Umgebung standen gut 6 Dutzend Männer und Frauen, mehrheitlich Mercenarii von der Cohorte Cyclopäia, aber auch der Generalissimo von Nevorten hatte ein Terzio beigesteuert. Schließlich umringten noch eine Handvoll Gardisten die Vikarin von Selshed.
Mazarina di Selshed wandte sich an den Mann ihrer Enkelin, den Generalissimo von Nevorten. „Euer Plan ist aufgegangen, Vitore.”

Ereignisse in Calven

Zeittafel ab dem 9. Efferd

In der Zitadelle von Selshed, 17. Efferd 1036 BF

„Ihr habt was...?
Die Fassungslosigkeit der Worte der Matriarchin des Hauses di Selshed war nur für Menschen erkennbar, die Mazarina gut kannten. Die Vikarin von Selshed flüsterte fast. Vitore Broccia faltete ein Pergament auseinander, das das Siegel der Landstadt Nevorten trug. “Mein Bruder hat die Stadtgarde dazu gebracht, einstweilen Stillschweigen über den Brief zu bewahren. Aber nachdem, was er schreibt, gibt es kaum einen Zweifel.” Er reichte das Schreiben der Großmutter seiner jungen Frau.

Ein Brief nach Bethana

Ein Brief an eine Unbekannte

Liebste B., gestern traf ich meine Nichte E. in Bethana, sie endlich zur Vernunft zu bringen. Sie wandert jeden Abends an den Kais von Portus entlang, um beim Grabmal Harikas über ihre “Entscheidung zu sinnieren”, wie sie es nennt. Das Haus muss endlich wieder einig dastehen, um meine Mutter bei der Wiedererlangung dessen, was unser war, helfen zu können. Dieser Streit um das Prioriat der Bethaner muss enden. Wir brauchen eine starke Frau an der Spitze, die meinen Onkel ersetzen kann, nicht die Alte, deren Blick immer wirkt, als wäre er längst hinter den Schleier fixiert und ganz sicher nicht E. selbst, die mit einem Delphinkopf in den Korb steigt! Wie närrisch waren wir, zu glauben, diese Ehe würde uns etwas zurückgeben! In Wahrheit haben wir E. an die Diebe unserer Stadt verloren. Diese Ehe hindert meine Mutter, zu tun was nötig ist, so wie E. jetzt im Wege ist, eine Einigung beizusteuern, nur weil sie M. für zu ambitioniert hält. Mutter hat angeordnet, E. ins Gewissen zu reden. Ich würde gerne mehr tun, aber mir sind die Hände gebunden.
Auf sehr bald,
Elysmenia


Mazarina starrte auf den Brief, nachdem sie zuende gelesen hatte. Ein Teil von ihr, wollte zweifeln, wollte Broccia einen Lügner nennen. Aber auch wenn die Worte nichts verrieten, so ahnte Mazarina doch, dass Broccia nicht vollkommen falsch lag. Etwas in ihrem Inneren verriet ihr, dass Elysmenia nicht unbeteiligt an dieser Sache war. “Was...was meintet ihr damit, als ihr sagtet, Vitore, es gäbe kaum einen Zweifel.” Der untersetzte Generalissimo nickte mit düsterer Miene. “Dieser Brief wurde beim Anführer der Leute gefunden, die Eure Enkeltochter entführt hatten, Vikarin. Ein Mann namens Thymon Sajacon, er hatte ein leeres Handelskontor in Nevorten bezogen. Soviel ich höre ist er am Yaquir kein unbeschriebenes Blatt. Ein alter Galahanist, ein Dämokrat gar!”
Mazarina schüttelte den Kopf. Der Name sagte ihr nichts. “Und warum diese Tat? Elaria tritt doch nicht als Aristokratin in Erscheinung.”
“Der Mann schweigt...noch. Vielleicht eine späte Rache für eure Abkehr von der Familie eures Mannes im Thronfolgekrieg? Wir werden es rausfinden, da bin ich sicher.” Er ging einen Schritt auf Mazarina zu und deutete auf den Brief. “Unsere Sorge muss jetzt aber sein, was er vielleicht darüber erzählen könnte, woher er den Brief hat! Etwas über eure Tochter?”
Mazarina drehte sich zum Fenster um und blickte eine Weile an der Klinge ihres Pailos entlang, der nun wieder über dem Tisch hing. Ihr Blick viel auf eine bläuliche Glaskaraffe aus Côntris, die ihr Elysmenia einst geschenkt hatte. Mit einer wütenden Geste fegte sie den Gegenstand vom Tisch, er landete klirrend in einer Ecke. “Elaria entführen? Diese Närrin. Und die ganze Zeit lag sie mir in den Ohren, ich müsse “den Calvens die Stirn bieten!” Und nun bin ich gegen den Bund zu Felde gezogen und mein Sohn ist tot!” Sie drehte sich zu Broccia um und deutete auf den Brief Elysmenias.
“Wenn das in Calven, Shenilo oder Bethana bekannt wird, dann fällt die ganze Sache mit den Dörfern und den Nordleuten auf uns zurück! Dann gelten wir als Menschenräuber und Besatzer! Die Calvens werden das benutzen, um uns endgültig aus der Stadt zu vertreiben!”
Vitore nickte bedächtig. “Dann darf es nicht bekannt werden.” Mazarina schnaubte und wies mit dem Finger auf den Broccia. “Ihr sagt doch selbst, die Garde ermittelt. Wenn sie Elysmenia einbestellt, verhört, sie gar vor Gericht stellt, wird sie sprechen. Meine Tochter ist eine kluge Frau...”, sie schüttelte mit einem Gesichtsausdruck zwischen Wut und Trauer den Kopf “...aber sie ist nicht stark!”
“Dann darf sie nicht aussagen.”
Broccia blickte die Großmutter seiner jungen Frau mit ernster Miene in die Augen. Deren Augen weiteten sich.

Am Strand von Selshed, in der Nacht zum 18. Efferd 1036 BF

Gefährliche Strände

Elysmenia ging barfuß am Strand entlang und hing ihren Gedanken nach. Sie hatte diese Methode früher öfter verwendet, um ihren Geist zu ordnen. Das Geräusch von Stiefeln auf Stein, im Gras oder Sand, das Quietschen des Leders, das reibende Gefühl zwischen den Zehen, das alles lenkte sie manchmal ab, wenn sie tief in Gedanken versunken war. In ihren Händen trug sie je einen von den Wogen gewaschenen Stein. Einen grauen, mit bläulichen Einschlüssen und einen von Sonne und Wasser fast blank gewaschenen, sehr hellen Stein. Diesen ließ sie jetzt durch ihre Finger spielen und betrachtete ihn eindringlich.

Sie dachte mit einem Hauch Wehmut an ihren Bruder Yulio. Sicher, sie hatten sich in den letzten Jahren immer seltener wirklich verstanden. Yulio war ein leidenschaftlicher Mann gewesen, ein Mann der Küstenstürme und des Westwindes. Wenn er nachdenken wollte, suchte er den Rat von Schiffskapitänen oder fuhr allein in einem einmastigen Segler in die Bucht hinaus und fing einen großen Fisch.
Elysmenia war da ganz anders. Abwartend. Taktierend. Ambitionierter. Dennoch, er war trotz allem ihr Bruder gewesen. Elysmenia seufzte und warf den weißen Stein dann in das stetig heranschwappende Wasser.

Sie warf stattdessen den zweiten Stein von einer Hand in die andere und blickte hinaus aufs Meer. Yulios Tod hatte ihre Mutter schwer mitgenommen. Nach dem Wiederauftauchen Elarias schien der Tod ihres Vaters, des Sohnes von Mazarina, ihrer Mutter als sinnloses Opfer. Diejenigen, die dafür verantwortlich waren, konnte sie auf rechtem Wege nicht zur Verantwortung ziehen, das, wofür er sich zu opfern glaubte – seine Tochter – war wieder heimgekehrt. Nun, Elysmenia hatte da weniger Hemmungen. Sie hatte bereits die Fühler ausgestreckt. Immerhin war der Mann ein Schwertmeister. Zwischen Phecadi und Chabab gab es genügend Frauen und Männer, die sich einen Namen machen und ihren Geldbeutel dicker machen wollten. Früher oder später würde Cusimo di Ulfaran bezahlen.
Und – vielleicht war die Schwäche ihrer Mutter und die Lücke, die Yulios Tod gerissen hatte, endlich Elysmenias Chance, mehr Einfluss zu nehmen. Ihre Freunde in der Loge würden ihr sicher auch zu Hilfe sein. Allerdings würde sie die Coronifer nach Selshed beordern oder sich auf die Suche nach neuen machen müssen, denn nach Côntris würde sie wohl nicht dauerhaft oder nicht lange zurückkehren können.

Elysmenia stutzte. Da war ein Schatten. Auf einem Felsen, vielleicht zwanzig Schritt über ihr. Der Mond stand so, dass Elysmenia kein Gesicht erkennen konnte, aber die Kontur gehörte einem Mann. Sie runzelte die Stirn.
Dann sah sie den zweiten Mann, der neben den ersten auf die Anhöhe trat. In seiner rechten hielt er etwas Längliches. Eine Waffe. Sie sagten kein Wort und die Vogtin von Viacuslicana konnte noch immer keine Gesichtszüge erkennen. Aber sie wusste doch, was die Männer wollten.
Steine rieselten an den Strand, als der Mann den Abhang hinunterschlitterte. Kurz darauf folgte ihm sein Begleiter. Elysmenia nahm ihre Stiefel, die sie sich um die Schultern geschwungen hatte, ab, verschwendete nur einen kurzen Gedanken daran, sie wieder anzuziehen und begann zu rennen.

Zitadelle von Selshed, Einige Stunden später

“Sie muss ausgerutscht und vom Felsen gestürzt sein, Vikarin.”
In Mazarinas Gedanken war nur Leere. Vitore Broccia, der nach Yulios und Elysmenias Tod zum Mann der Hauserbin geworden war, verließ den Raum mit einer kurzen Verbeugung. Er ließ Mazarina di Selshed, die Vikarin und Herrin der Zitadelle, zurück.
Der Tag verging wie Sand, der durch ein Stundenglas rieselt.
Es galt viel zu tun.
Mazarina tat wenig.
In der Nacht, als sie endlich Schlaf fand, träumte sie wieder von den Gräten.
Zwei tote Fischer auf ihrem Tablett.