Sewerische Briefe

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Die Sewerischen Briefe der Osljabja di Piastinza

Es handelt sich um Privatbriefe, welche die mit Ludolfo di Piastinza verehelichte Osljabja di Piastinza an ihre auf dem elterlichen Landgut in Sewerien lebende Mutter Raissa Trachtenberg richtet, um diese über die Umstände und Eigenheiten ihres im aventurischen Süden neu gewonnenen Lebens zu unterrichten. Diese Briefe bieten eine einerseits subjektive, aber aufgrund der sewerisch geprägten Perspektive auch distanziert-objektivierende Beschreibung jener liebfeldischen Familie, in welche diese Tochter eines bornischen Gesandten eingeheiratet hat.

Erster Brief

»Liebste Mamotschka!

Leider braucht die Post so lang, um von hier quer über den Kontinent bis zu Dir nach Adzitarovo zu laufen, und von Dir hierher zurück, so daß ich die Tage nutze, um immer wieder meine Gedanken für Dich so vor mich hin zu schreiben, und da erhältst Du dann eben Briefchen von mir in der entsprechenden Länge!

Deinem Enkeltöchterchen geht es prächtig, und nachdem nun ein halbes Jahr vorbei war, in dem sie, wie ich glaube, genug von meinem sewerischen Blut bekommen hat, um auch einen heimischen Winter zu überstehen, habe ich sie dann doch von meiner an die Brust einer hiesigen Amme gegeben, denn Du weißt ja, dass sich das über eine gewisse Zeit hinaus nicht vorteilhaft für die Form auswirkt, und da bin ich dann doch ein wenig eitel! Aber auch jetzt gedeiht sie prächtig - also bitte, Mamka, schicke mir keine sewerische Amme hier herunter, die das Klima nicht verträgt und die kaum ein Wort versteht und der ich alles übersetzen muss, Dein Enkeltöchterchen muss Dir keine Sorgen bereiten!

Für die Familie hier ist sie Haldana, und mit Haldanka oder Haldanotschka kommen sie hier unten gar nicht zurecht - aber um Deinetwillen nenne ich sie mit ihrem zweiten Namen Raissotschka, wenn ich zu ihr rede - und glaube mir, dann lächelt sie fast immer, das gefällt ihr besser als das förmliche »Haldana«. Wenn ich abends in der Stube sitze und lese oder meine Briefchen oder Aufsätzchen schreibe, halte ich immer wieder inne, um nach ihrem Atem zu lauschen - so leise schläft sie, gar nicht wie manch andere Kinder, die den Wolf im Rachen haben und krächzend vor sich hin schnarchen und schnorcheln!

Wegen der Verniedlichungen übrigens hätte ich kürzlich fast Streit mit meinem Liebsten bekommen! Onkel Amaldo, wie Du weißt, ist hier der Signor, der Familienvorstand, und ich hatte mir angewöhnt, ihn den »Vozhd« zu nennen, bis es Ludolfo auffiel, und er wissen wollte, was das bedeutet, und da war er schon ziemlich ungehalten: »Häuptling?!?« hat er geknurrt! »Wir sind eine horasische Famigghja, keine bornische Goblinhorde - sag' das nicht noch einmal in seiner Anwesenheit!« Aber Du weißt ja selbst, wie wenig ich meine Zunge hüten kann - und weil Ludolfo nun, wenn Amaldo einmal stirbt oder abtritt, die Führung der Familie übernimmt, ist er so eine Art Kronprinz - und da habe ich ihn »mein Vozhdik« genannt, mein Häuptlingchen - und da hättest Du mal zuschauen können, wie hier unten mühsam gebändigter Zorn aussieht!

Wohl um mich mit dem rondrianischen Ernst des Lebens zu beeindrucken und zu maßregeln, hat er mich dann angeblafft - offenkundig, ohne eine Antwort zu erwarten - wie ich denn auf dem Schlachtfeld einen Hagel von Katapultgeschossen verniedlichen würde: »Bombjoschka«, habe ich ihn zuckersüß angelächelt, und das hat ihm dann die Sprache verschlagen! Dann hat er sich besonnen, das als rondrianische Todesverachtung zu werten, und das hat ihm wiederum besser gefallen, als er zugeben mochte, und er war wieder willens, mich ernst zu nehmen.

Aber nun zur Familie, von der Du bislang nur das absolut Notwendige weißt, und zu Recht fragst, was für Leutchen das denn sind, von welcher Herkunft, und wer hier wichtig ist, und Rang und Namen hat, und welchen Einfluß bei wem, und so weiter - davon will ich Dir nun pflichtschuldigst berichten!

Von der Familiengeschichte gibt es vorneweg so viel zu erzählen, dass ich dies sogleich auf ein späteres Briefchen verschieben möchte, denn zunächst möchte ich Deiner Neugier auf das Hier und Heute entsprechen, wovon schon genug zu berichten ist. Nur soviel schicke ich voraus, dass Amaldo das dritte Kind nach zwei Schwestern ist, von denen die erste vor nunmehr bald zwölf Jahren im Krieg gefallen ist, während die zweite nach auswärts geheiratet hat - womit dem Jüngsten nach der Majorennität zufiel, was ihm in der Jugend nicht vorherbestimmt war: das Haupt des Hauses di Piastinza zu werden. Und so ist er, obwohl im Umgang mit der Waffe und auch als Truppenführer durchaus erfahren, und obwohl auch in Horasien die rondrianischen Tugenden, wie in jedem Adel, als die ehrenvollsten gelten, nicht eigentlich zum Krieger ausgebildet, sondern zum Scholaren - nämlich beider Rechte, und in seinem Wesen und Herzen ist er ein Advokat. So war es ein kluges Manöver, in der Verteilung der städtischen Ämter - nach jenem Bürgerkrieg der Drachen - sich den Sessel des Justiciarius zu sichern, denn hierin glänzt er und lebt auf zu seinen Fähigkeiten.

Sie sind nämlich in Sewamund immer noch nicht fertig mit dem Postengeschacher, und die Partei der einfachen Bürger fühlt sich übervorteilt und betrogen um die Früchte ihres Beitrags zu dem Sieg vor wenigen Jahren über jenen auswärtigen Besatzer (den Nupercanti), von dem Papotschka Dir schon berichtet hat. Und da ist Amaldo nun ganz in seinem Element: er will niemanden vor den Kopf stoßen und sich zum Feind machen, solange er nicht weiß, wen morgen zum Freund zu haben am nützlichsten zu sein verspricht. Und darum studiert er nun die Stadtrechte, die hiesigen wie die auswärtigen, und zwar am Orte, weshalb er vor ein paar Tagen erst zu Schiff aufgebrochen ist nach einem Städtchen weiter im Süden. Denn je breiter seine Kenntnisse im Rechtswesen, desto mehr, so dünkt es ihn, wird man ihn als Ratgeber, als neutralen Mittler widerstreitender Interessen schätzen, und hinter dieser Maske hofft er, seinen eigenen Interessen auf unmerklichen und verschwiegenen Pfaden zum Siege zu verhelfen.

Das Schiffchen, mit dem er gereist ist, gehört übrigens der Familie, denn sie haben eine Jachta hier, ein merkwürdiges Ding, nach Grangorer Art »Bojer« genannt, nicht zu groß, eher klein, mit nur einem Mast und flachem Kiel und zwei gewaltigen Seitenschwertern, durchaus seegängig, aber meistens küstennah verwendet, mit dem sie von Sewamund nach Grangor und zurück fahren, und selten auch einmal bis nach Belhanka oder Efferdas, wie eben derzeit Amaldo. Der flache Kiel ist außerordentlich nützlich, weil das Schiffchen auch mal trockenfallen kann, ohne sich schräg zu legen und das ganze teure Porzellan aus den Spinden in die Kajüte zu entleeren - obwohl ich nicht glaube, dass das der Grund ist, warum es so gebaut wurde. Eher denke ich, es liegt daran, dass hier in der Gegend der Unterschied zwischen Hochwasser und Niedrigwasser vielerorts beträchtlich ist, und die Schiffchen ständig trockenfallen - und wie soll man denn ein Schiffchen betreiben, das sich in der Hälfte der Zeit schräg zur Ruhe legt wie ein sterbendes Rindvieh! Denn die Fischer hier, von denen die Wohlhabenderen des öfteren solche Schiffchen besitzen, müssen oft auch bei Niedrigwasser arbeiten, zum Beispiel, wenn sie die bei Flut draußen gefangenen Krebse oder Garnelen garkochen - da liegt das Schiffchen dann eben flach auf Grund, und im Krabbenkesselchen kocht der Fang, und das geht nun mal nicht bei dreißig oder vierzig Grad Schieflage!

Aber ich schweife ab! Der Vozhd ist also ein Advokat, und so Boron will, hat er noch so manches Jährchen als Familienoberhäuptling vor sich! Er hat übrigens eine Tochter des Nupercanti sozusagen als Kriegsbeute geehelicht (Lamea mit Namen), und nachgerade eben erst, vor ein paar Monden, ist er auch Vater eines Töchterchens geworden - Mafalda heißt das kleine Krümelchen! Aber es kommt zu spät, um sich noch als Kronprinzessin zu eignen - das obliegt den Kindern seiner seligen Schwester Rondriga, von denen mein Ludolfo das Älteste ist - er ist nämlich durch den Altersunterschied der mütterlichen Geschwister nur drei Jahre jünger als sein Onkel! Über Ludolfo weißt Du nun ja schon das meiste - und was Papotschka Dir so alles an Tratsch zugetragen hat, frage ich lieber erst gar nicht! Aber zwischen ihm, dem Absolvent der Akademie der Kriegs- und Lebenskunst zu Vinsalt, und Amaldo, dem Absolvent der dortselbigen Rechtsschule der Stadt, herrscht schon ein wenig, nun ja, Rivalität - wenngleich beide darauf achten, dies nach außen nicht zu deutlich werden zu lassen. Von daher ist es einerseits gut, dass Ludolfo bereits als Nachfolger Amaldos designiert ist, andererseits schlecht, dass die beiden nur drei Jahre voneinander trennen!

Mit Ludolfos Schwesterchen Aurelia hat es wiederum ganz andere Bewandtnis! Sie war voller Eifersucht, als Ludolfo der Familie ankündigte, mich heiraten zu wollen, denn sie konnte sich so gar nicht damit abfinden, ihren Bruder an eine andere Frau abgeben zu sollen. Und so hat sie mich herablassend behandelt, als bornische Barbarin hingestellt und mich überhaupt spüren lassen, dass ich ihr nicht in der Familie willkommen war. Ludolfo hat zuerst gar nicht verstanden, was sein Schwesterchen da tut, und war stets um eine Entschuldigung für ihr Verhalten bemüht. Am Anfang hat sie es mit dem Akzent meiner Aussprache versucht, aber das wurde schnell besser - Du weißt ja: Sprachen lernt man am Besten auf dem Kopfkissen! Bis sie es dann zu weit getrieben hat: in einem Wortgefecht unterliege ich so schnell nicht, und als sie während eines Ausritts der Familie ihre Schlagfertigkeit verließ, langte sie - vor Ludolfos Augen - mit der Reitpeitsche nach meinem nervösen Shadif, so dass ich meine liebe Not hatte, nicht abgeworfen zu werden! Erst schickte Ludolfo sie zurück in den Palazzo, danach sandte Amaldo sie geschäftlich nach Fostanova - in einer Angelegenheit, die eigentlich ein Bediensteter oder Kurier hätte erledigen können. Als sie zurückkehrte, hatte sie ihre Bedenkzeit offenbar genutzt, denn seither war sie wie verwandelt, und scheint mich nunmehr mit anderen Augen zu sehen - sie macht das Beste daraus und rechnet meine Fähigkeiten jetzt zum Familienkapital.

Habe ich erzählt, dass sie eine der ganz wenigen ist, die im Hause Piastinza über magische Begabung verfügen? Sie ist der erste Gildenmagier der Familie seit Generationen und hat ihr Studium ganz standesgemäß bei den Kusliker Antimagiern absolviert. Und mit diesen Kenntnissen berät sie die Hauswache in Sicherheitsangelegenheiten - kein Talent wird hier verschwendet! Mit dem Heiraten hat sie es übrigens nicht eilig und wird auch von der Familie nicht dazu gedrängt. Ich glaube, sie sind froh, wenn die Hausmagierin sich noch ein Weilchen nicht womöglich nach auswärts vermählt wie zum Beispiel Tante Selinya.

Und dann ist da noch Rimaldo, der Jüngste! Mehr in Fostanova zu Hause als in Sewamund, den Ränken der Familie und der Stadt abhold, lässt man ihm draußen in der Herrschaft freie Hand - nun ja, nicht ganz! Er will ja dort den Ertrag des Landes erhöhen, und muss darum immer wieder Gelder investieren, und nicht alles, was ihm so vorschwebt, ist sinnvoll und wird vom Familienrat bewilligt! Aber er ist sehr umtriebig und will mit den Grangorern handeln und hat allerhand Idee, was man mit dem Holzreichtum der dortigen Ländereien alles anfangen kann - wir erleben hier eine Blüte der Seefahrt, weil manche neuerdings nicht nur bis Nostria oder Thorwal, sondern sogar bis ins Güldenland fahren wollen - und die Rivalität mit den Alanfanern im Südmeer lässt ja auch nicht gerade eben nach. Und nachdem Papotschka das Korjolkin-Abkommen ausgehandelt hat, könntest Du sogar um die Blutige See herum zu Schiff hierher zu Besuch kommen - jedenfalls, wenn Du das Abenteuer und die Strapazen nicht scheust! Aber falls Dich nicht in den letzten Jahren ganz unerwartet die Verwegenheit überwältigt hat, dürftest Du den Weg über die Salamandersteine und Weiden diesem Abenteuer vorziehen.

Jedenfalls ist der Hunger der Grangorer Werften nach Holz so groß, dass Rimaldo am liebsten die ganze Herrschaft abholzen und den Windhag kahlschlagen würde, wenn er könnte. Dazu hat er allerhand Pläne - manche davon sind eine sichere Wette, andere sind riskant und teuer, und alle müssen durch den Familienrat. Ich glaube, die meisten Dukaten wird er zusammenscharren, wenn er das Holz vor Ort verarbeitet und die kompletten Werkstücke nach Grangor verschifft. Mit der Arbeit geht es hier nämlich anders zu als bei uns im Bornischen, es gibt hier große Handwerksbetriebe, die keinem Meister gehören, sondern dem, der sie für viel Geld hat erbauen lassen, und die Meister und Gesellen arbeiten darin gegen Bezahlung, und die Arbeit zerlegen sie in kleine planvolle Handgriffe - es geht dadurch schneller von der Hand, und man braucht weniger Leute mit meisterlichen Kenntnissen. Dieses System nennen sie Manufaktur, und es gedeiht am besten im ameisenhaften Fleiß der Grangorer - unsere Bornischen sind zu verschlafen und zu gemächlich und zu unlustig für solche Betriebsamkeit.

Über die weiteren Kreise der Familie, von der es mehrere Linien gibt, und von den noch Lebenden älterer Generation, wie auch von der früheren Geschichte, und auch von der Art des Lebens hier will ich Dir in weiteren Briefchen berichten, aber fürs erste möchte ich dieses Briefchen hier endlich beschließen und speditieren!

Ach, Mamotschka! Eine Bitte habe ich wohl noch an Dich, wenn Du, wie Du mir ankündigst, gerne einen Dienst erweisen möchtest! Lass' in Festum, am besten in Neu-Jergan, nach einem Koch oder einer Köchin wie der unseren umschauen und sende ihn oder sie mit Geleitbrief und Reisebörse hier herunter - und besser nicht über Korjolkin! Die Liebfelder Küche scheut für meinen Geschmack das Rustikale zu sehr, und die Mischung von Bornland und Maraskan unserer Karhimasab vermisse ich inzwischen doch sehr! Hier kann er dann dazu die Liebfelder Art lernen - oder vielleicht auch besser nicht, damit sich Meister Bonnaro hier im Palazzo nicht zurückgesetzt fühlt!

Mit diesem Ansuchen beschließe ich für's erste mein Briefchen und küsse Dich herzlichst in töchterlicher Liebe, und mögen die Zwölfe Deine Wege behüten!

Deine Osljabja!«