Briefspiel:Roter Mann/Magokrat und Dorén-Halle

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Sheniloneu3k klein.png Briefspiel in Shenilo Sheniloneu3k klein.png
Datiert auf: Phex 1038 BF Schauplatz: Shenilo und die Ponterra Entstehungszeitraum: ab März 2016
Protagonisten: der Rote Mann, Horasio Madarin ya Papilio, Francidio di Côntris, Dozmano Kaltrek, Ingalfa Dalidion, Ilsandor von Hauerndes, Geronya , Kvalor und Valeran Menaris, Sulman Schattenfels und weitere Autoren/Beteiligte: Athanasius, Calven, Di Côntris, Gishtan re Kust, Randulfio
Zyklus: Übersicht · Vorspiel · Resident und Vogt · Horasios Vademecum · Horasios Verschwinden · Auf der Spur des Roten Mannes · Brand im Kloster Helas Ruh · Erste Entdeckungen · Kriegsrat · Totgeglaubte · Magokrat und Dorén-Halle · Am seidenen Faden · Epilog



Die Briefspielgeschichte Magokrat und Dorén-Halle beschließt die Handlung um den wiedergekehrten Roten Mann, den Magokraten Drugon Menaris als die Gruppe seiner Gegner versuchen, ihn in der Dorén-Halle daran zu hindern, die Eteria Shenilos in die Gewalt seiner Herrschaftsmagie zu bringen.

In einer Herberge am Geronsplatz, Shenilo, 10. Peraine 1038 BF

Geronya Madalina Menaris starrte in den – unangenehm riechenden – Korb voller Rüben. Er war an diesem Morgen vor der Tür ihrer Unterkunft abgestellt worden, eine gekritzelte Botschaft verriet nur die Adressatin: „M E R Y A M A“
Die Empfängerin hatte eine der Rüben, ein ganz absonderlich geformtes Exemplar, gerade herausgenommen und betrachtete es mit gerunzelter Stirn. „Was sorgt nur für diesen Geruch?“, fragte unterdessen Horasio, der sich gerade anschickte, einen Waffengürtel über seinen leichten Bauchansatz zu spannen. Meryama rümpfte die Nase. „Ich glaube diese hier ist geschimmelt.“ Mit spitzen Fingern griff Geronya in den Korb hinein. „Und sie ist nicht die einzige – mir scheint, absonderliche Formen gibt es hier auch noch weitere.“ Damit zog sie eine ganz und gar schwarz gewordene Rübe hervor, offenbar der Quell jenes unangenehmen Geruchs. Schwarz geworden und verschrumpelt, sah man doch immer noch die eigentümliche Form des Grünzeugs am Kopf der Rübe. „Ist das ein...Hut?“ fragte Horasio ya Papilio mit staunender Miene. Die Furchen und Linien an der Rübe erinnerten vage an ein Gesicht, unten hingen noch dunkle Wurzelstücke an dem Gemüse, die fast an einen Bart gemahnten.
„Wenn das kein Magierhut ist, dann will ich mir selbst eine Suppe aus diesem stinkenden Ding machen!“ rief da Meryama Aurandis aus. Ein entgeistertes Lächeln erschien auf der seit Tagen immer nur düsteren Miene der Magierin. Geronya deutete auf die Rübe in der Hand der anderen Frau. „Und dieses, ganz besonders gelbe Exemplar einer Rübe mit all seinen Auswüchsen, erinnert es euch nicht an eine Hand?“
Meryama klatschte in die Hände. „Ein fauler Magier, dessen Fäulnis den ganzen Korb anzustecken droht und schon nach der gelben – oder besser güldenen? – Hand greift. Mein Freund der...Schuhmacher...hat mir immerhin eine Sorge genommen: Mein Bruder mag vielleicht von Fäulnis bedroht sein – aber er ist selbst nicht deren Quelle!“

Wenig später, in der Dorén-Halle

Geronya Menaris schritt unter der Fahne mit dem gekreuzten Stab der Menaris vorbei. Ihre Augen waren nach oben gerichtet, wo sie die Fahnen der anderen Familien des Sheniloer Bundes und die Collonade darüber bewunderte – oder sich zumindest darum bemühte, so zu wirken.
Sie fühlte die Blicke der Männer und Frauen, die um den großen Tisch in der Mitte herum saßen, auf sich ruhen. Sie spürte den Blick von Cyrene Arkenstab, die an der breiten Pforte zum Inneren der Dorén-Halle gewartet hatte in ihrem Rücken.
Sie war sich sicher, dass sie sie alle anstarrten. Sie sahen eine junge Frau mit blauen, etwas zu weit auseinanderstehenden Augen, mit hohen Wangenknochen und feinen Locken hellblonden Haares, das unter ihrer Haube hervorschaute. Sie sahen nicht Geronya Madalina Menaris. Vor ihr schritten Francidio di Côntris und Meryama Aurandis gemeinsam, Arm in Arm in den Raum und in Richtung der Stühle des Hauses di Côntris. Einige Eteri steckten die Köpfe zusammen, Gemurmel war zu hören. Die beiden würden genug Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Dennoch war sie sicher, dass ihre Scharade auffliegen würde, ja, längst durchschaut war. Doch die meisten Blicke huschten nur kurz über ihre Züge oder konzentrierten sich gleich ganz auf das unerwartete Signoripaar vor ihr. Am Aufgang zu den Collonaden stand der hüstelnde Haldoryn Ingvalidion und stützte sich schwer auf seinen Stab. Bis auf seine Augen und den oberen Teil seiner Nase war sein Gesicht fast vollkommen von seinem grauen Schal verborgen. Er würde sie sicher erkennen. Aber auch der Nostrier maß sie nur mit einem kurzen Blick und wandte seine Aufmerksamkeit wieder der Runde in der Mitte der großen Halle zu.
Geronya näherte sich einige Schritt, hielt sich aber weiter im Hintergrund. Auf der anderen Seite des Raumes fand sie Horasio ya Papilio, der sich wieder einmal die Stirn mit einem Tuch betupfte, daneben seine Tante Sharane und einen älteren Schreiber , der einige Schritt hinter beiden stand. Eilig richtete sie den Blick auf die anderen Gesichter im Rund. Als sie sich umsah, bemerkte sie, dass offenbar noch nicht alle Familienoberhäupter eingetroffen waren, obwohl der Gransignore bereits zu sprechen begonnen hatte. Die Stühle der Familien Tuachall, Wankara und Dorén, sowie einiger weiterer waren bisher leer geblieben.
„... und deshalb sind wir besonders dankbar, dass uns diese weisen und gelehrten Herren heute dabei behilflich sein wollen, diese Gefahr gemeinsam auszustehen. Magister Valeran, wenn ihr uns bitte aufklären würdet, was ihr zu tun gedenkt, um uns und der Stadt Shenilo zu helfen?“ Damit endete Gransignore Randulfio und setzte sich auf den erhöhten Sitz, der dem Gransignore Shenilos traditionell zustand. Dadurch gab er den Blick auf die Stühle der Menaris frei, die sein Leib bisher verborgen hatte. Und da waren sie, Valeran, der sich nun anschickte seinerseits aufzustehen und Kvalor, der Patriarch der Menaris, ihr Vater. Nein, nicht mein Vater. Ein Gefangener, ein Opfer des Magokraten! Geronya schalt sich selbst eine Närrin, aber sie konnte ihren Blick nicht von den so vertrauten Zügen des Oberhaupts der Menaris abwenden, der streng gestutzte Bart, die erhabene Rohalskappe auf dem Haupt, der Blick ernst, aber nicht streng. Während Valeran zu sprechen begann, wandte Kvalor mit einem Mal den Blick und fand den ihren. Geronya merkte, wie ihr kalter Schweiß über den Rücken lief. Er würde sie durchschauen. Ihre lächerlichen Versuche, sich zu verbergen, wären für einen Meister der Magie kein Hindernis, ihr Zauber für einen Meister des Geistes keine Verwirrung. Kvalor – nein, Drugon! – würde den Transmutare von ihr hinunterreißen wie eine Maske im gleichnamigen Theater!
„Mit Verlaub, Gransignore Randulfio, das Haus ya Papilio ist nicht der Ansicht, dass diese Zusammenkunft, so wie sie bislang verlaufen ist und sich anschickt weiter zu verlaufen, dem Wohl unserer Stadt dient.“
Horasio ya Papilios Stimme erschien ihr zum ersten Mal wie der Laut alveranischer Choräle. Denn sein Auftritt hatte Kvalor den Blick abwenden lassen. Der Resident der ya Papilio zog gerade mit weit ausholender Geste eine Spielkarte aus dem Ärmel hielt sie, das Avers ihm selbst zugewandt, über den Ratstisch. „Mir scheint vielmehr, wir sollen hier durch eine Illusion geblendet werden“, deklamierte er geradezu, mit lauter, vom Gesang geübter Stimme - und warf die Karte auf den Tisch. Geronya konnte von ihrem Platz aus das Bild nicht sehen, aber sie wusste, was die Karte zeigte, den Narren. Mitten in die überraschte Stille hinein waren die letzten, gemurmelten Worte von Horasios Schreiber zu vernehmen: „...fiat veritas!“ Der ältere Mann deutete auf Kvalor Menaris.

Zur gleichen Zeit, vor den Toren der Halle

„Schon etwas neues von drinnen, Hauptmann?“ Angrond Menaris wies mit der Schwerthand zur Pforte der Dorén-Halle, als er die Stufen erreicht hatte. Der Condottiere der Blutaare, Rimon Salterer, stützte sich gelangweilt mit einer Hand auf dem Geländer ab, während er sich mit seinem Dolch die Fingernägel säuberte. Angrond bemühte sich rasch, sein Stirnrunzeln zu verscheuchen, als Salterer antwortete. „Nein, noch nichts. Außer ihr zählt den da.“
Angrond hatte den auffälligen Mann, der am anderen Ende der Stufen zu warten schien, bereits entdeckt, als er sich genähert hatte. Mit seinen langen, gelockten Haaren und dem ebenso blonden Oberlippenbart schien er wie ein aus der Zeit gefallener Geck der Amene-Horas-Ära. Die Fechtwaffe an der Seite ließ Angronds geübten Geist allerdings jeglichen Spott vergessen, das Wappen auf dem blauen Wappenrock erkannte er nach einigem Grübeln als das des Hauses ya Aragonza. Das gefällt mir nicht.
„Hauptmann...Condottiere...sendet zum Torre und lasst ein paar mehr Männer hierherkommen, ja?“ Der Angesprochene lächelte verächtlich. „Habt Ihr etwa Angst vor dem da?“
Angronds Augen verengten sich. Seine Rechte ballte sich zur Faust „Tut, was ich sage, Salterer, oder mein Vater wird davon erfahren!“ Viel lieber hätte er dem verdammten Leihschwert mit seinem Anderthalbhänder Manieren beigebracht, als sich auf den Patriarchen der Menaris zu berufen, aber das schien ihm in dieser Situation nur wenig weise. „Also?“
Der Condottiere stieß schaubend die Luft aus. „Wie Ihr sagt.“ Sein Ton strafte seine Worte lügen, aber dennoch wies er seinen Begleiter an, zum Turm der Menaris zu eilen, wo der Rest der Blutaare untergekommen war.
Angrond blickte sich eine Weile am Geronsplatz um. Geschäftiges Treiben maß er mit raschem Blick, wanderte von Händler zu Kunden und Reisenden. Er musterte sogar die Vögel auf den Dächern – ein einzelnes, hässliches Ding auf dem Dach der Dorén-Halle und ein gerade landender Schwarm dunkler Tauben am anderen Ende des Platzes.
Er wusste nicht recht, was er suchte, aber er wusste, dass er nichts fand. Vielleicht hat Salterer ja recht. Aber Angrond war an diesem Morgen mit einem unguten Gefühl in der Magengrube aufgewacht – sein Gespür täuschte ihn nur selten. Das letzte Mal, dass er so empfunden hatte, hatte der Magisterturm des Institutes gebrannt und beide Geschwister seines Vaters waren gestorben.
Er beschloss, den ya Aragonza zur Rede zu stellen. Gerade war Angrond einige Schritt weit die Treppe hinüber gegangen, als er eine dröhnende Stimme aus der Dorén-Halle vernahm. „Feinde! Schwarzer Smaragd zu mir!“ Obwohl die Oberlichter über den Collonaden der Halle nicht geöffnet waren, erkannte Angrond die Stimme des Patriarchen der Menaris sogleich. Er fluchte und eilte zur Pforte, dicht gefolgt vom so gerufenen Condottiere der Blutaare. Aus dem Augenwinkel sah er einen Mann in Blau sich nähern. Als sie das Tor beinahe erreicht hatten, stellte sich ihnen ein vertrautes Ärgernis in den Weg. Nunmehr hatte der ya Aragonza seine Waffe gezogen. „Ich fürchte, Ihr werdet hier nicht so einfach weiterkommen, Signori!“
Angrond fluchte erneut und griff nach seinem Anderthalbhänder. Sein Gefühl hatte ihn nicht getrogen.

„Geh aus dem Weg, kleiner Mann“, herrschte einer der Blutaare den Gecken an. Der ließ ein grimmiges Lachen ertöne: „Wenn ich für jedes Mal einen Horasdor erhalten hätte, das ich diesen Spruch gehört habe, so wäre ich ein reicher Mann. Aber er beweist, dass du wenig gelernt hast, Bube, nicht einmal Anstand.“
Mit einer lässigen Bewegung ließ der ältere Mann eine Balestrina in seine Linke schwingen, die zuvor mit einer Lederschlaufe an seinem Handgelenk gehangen hatte: „Ich bin Cavalliere Carolan ya Aragonza, einst Arbalettier des Fürstentums Kuslik. Wer in den Magistratssaal möchte, muss mich im Zweikampf überwinden.“
Der von ihm heruntergeputzte Söldling knurrte: „Dafür haben wir keine Zeit, du Zwerg.“ Im Vertrauen auf seine Rüstung tat er einen Schritt auf den kleinen Cavalliere zu – und knickte mit einem Schmerzensschrei jäh um. Aragonza hatte mit einer winzigen Handbewegung den Lauf der Balestrina von der Brustplatte auf das Knie des Aars gerichtet und innerhalb eines Wimpernschlags abgedrückt. Nun ragte das zitternde, gefiederte Ende eines torsionsgeschleuderten Bolzens aus dem Gelenk.
Cavalliere Carolan ließ die nutzlos gewordene Waffe routiniert auf den Boden sinken und zog einen Linkhanddolch aus seiner Schärpe. Jetzt beidhändig klingenbewehrt, lächelte er die Gruppe herausfordernd an: „Wer hat den Mut und das Ehrgefühl?“
Zwei weitere Söldner packten ihre Waffen fester, doch ein Wink von Rimon Salterer hielt sie zurück. Angrond Menaris fluchte lautlos: Der Condottiere wollte nicht für noch einen Invaliden aufkommen müssen. Also hing es an ihm. Er musste sich beeilen. Warum konnte nicht irgendein Wächter vor dem Tor stehen, der nach ein paar Schlägen der Meinung gewesen wäre, seiner Pflicht Genüge getan zu haben? Stattdessen ein Traditionalist, der nicht nur für die Sache, sondern auch für seine Ehre focht! Angrond packte sein Schwert in beide Hände und ging in eine mustergültige Eröffnungsstellung. Carolan lachte erfreut: „Lasst uns tanzen!“

In der Dorén-Halle

Geronya war sich nicht sicher, was sie erwartet hatte. Ihre Vorsicht von vor einigen Augenblicken war wie weggeblasen, gebannt starrte sie nunmehr direkt hinüber zu Kvalor Menaris, als der verkleidete Syranon seinen Zauber gewirkt hatte. Sie hatten zuvor kurz darüber gesprochen, die geeignete Formel beraten und Geronya hatte den Magier vor ihrer eigenen Erfahrung mit der Clarobservantia gewarnt. Zumindest damit hatte sie recht behalten: Syranon ya Aragonza stützte sich schwer mit der Linken auf die Lehne eines der leerstehenden Stühle und hielt sich mit der anderen Hand den Schädel. Geronya spürte selbst ein merkliches Kribbeln hinter ihren Schläfen, wie ein Echo ihres eigenen Schmerzes. Sie ignorierte das alles, auch die ersten Reaktionen der Umstehenden.
Hatte sie erwartet, dass eine schwarze Wolke aus dem Munde ihres Vaters quoll, wenn der Geist den geraubten Leib verließ? Oder daran geglaubt, dass ein dunkles Flackern die vertrauten Gesichtszüge hinwegfegte, um der Fratze des Dämons oder eines anderen Ungeheuers Platz zu machen, die ihren Vater in seinen Fängen hielt?
Nichts von alledem war geschehen. Die Gesichtszüge des Patriarchen der Menaris blieben die gleichen, auch wenn sich die Augenbrauen in erkennbarer Wut gesenkt hatten. Doch sie waren nicht mehr vertraut. Das Gesicht war das gleiche geblieben. Aber es war nicht das von Kvalor Menaris. Es war es nie gewesen.
Wie durch einen Schleier sah sie, wie sich Francidio und Meryama in Bewegung setzten, sah, wie der Magokrat den Arm hob und eine greifende Bewegung machte. Sein Leib, der Nostrier Ingvalidion und einige Umstehende wurden von Dunkelheit verschluckt. Ein ganzer Teil der Dorén-Halle bis hinüber zum Collonadenaufgang war so finster, als hätte jemand die einzige Kerze im Raum ausgeblasen.
Geronya war noch immer wie erstarrt, obwohl Syranon unter der Magie des Magokraten litt und nicht sie selbst. Da hörte sie die Stimme, ein lautes Dröhnen durchdrang Halle und Dunkelheit, sie biss die Zähne zusammen und hörte, wie eine der Eteri in ihrer Nähe stöhnte.
„Gransignore, die Koboldsfrau! Valeran, vertreibt diese Narren!“ Das Dröhnen schwoll noch einmal an, so laut, dass es draußen auf den Stufen zu hören sein musste. „Feinde! Schwarzer Smaragd zu mir!“
Die Stimme, so sehr sie in Geronyas Ohren, Schädel, ja bis in ihre Zähne hinein schmerzte, sie lüftete den Schleier der eigentümlichen Trance, in der sich die Magierin befunden hatte. Zuerst schälte sich der Umriss von Randulfio Aurandis aus der Dunkelheit, das Schwert aus dem Gürtel reißend. Sie rief Meryama eine Warnung zu.
Als ihr Vetter Valeran aus der Dunkelheit trat, die Hand zur Faust ballte und eine Formel brüllte, rammte Geronya ihren Stab auf die Platten der Halle. Ein Schimmer ging von seiner Spitze aus und durchbrach die Farbe, die Geronya aufgebracht hatte, um die kleine Kristallkugel zu verbergen.
Um sie herum brach Chaos aus. Eteri wichen zurück, nicht vor dem Schwertträger, sondern wohl eher vor dem herannahenden Magister Valeran. Ihre Gesichter waren vor Schreck erblasst, einige wandten sich gar unter lautem Geschrei zur Flucht – aber nicht alle. Geronya blieb keine Zeit, sich über ihren Gegenzauber zu freuen, denn vor ihr rannte Horasio ya Papilio plötzlich mit lautem Geschrei um den Ratstisch herum, offenbar auch von der Magie Valerans getroffen.
Sie blickte sich eilig um, doch noch kamen keine Söldlinge durch die Pforte der Dorén-Halle gestürmt. Geronya griff in ihr Gewand und holte ein schwarzes Stück Kreide hervor. Der Geisterbann würde zu lange dauern. Aber sie wusste keinen anderen Weg. Irgendwer musste ihr Zeit verschaffen. Also kniete sie sich hin. Einen Augenblick hielt sie, inmitten des Chaos, inne. Ihre Augen durchsuchten die Dunkelheit, fanden aber nichts. Sie hatte es immer noch nicht recht begriffen, es nicht begreifen wollen. Sie schüttelte den Kopf.
Es war nie das Gesicht Kvalors gewesen.
Mein Vater ist nie aus dem Osten zurückgekehrt.
Dann begann sie zu zeichnen.

Leophex von Calven, Palazzo Luciano, etwa zu gleicher Zeit

"Was ich höre ließe sich mit gutem Recht als Märchen oder gar Wahnsinn bezeichnen."
Marino von Calven sprach zum ersten Mal seit er sich zum Fenster zum Innenhof des Palazzo abgewandt hatte.
"Hochwürden, Vetter Marino, Ihr müsst uns glauben..."
"Ich habe nicht gesagt, dass ich Euch nicht glaube, Leophex." Der Schirmer der Flut wandte sich um und maß die beiden ungleichen Männer, die an seinem Schreibtisch saßen. Leophex von Calven sah übernächtigt aus, ein lockiger Flaum zog sich über seine Wangen und ein kurzer Bart umrandete seinen Mund. Doch der Mann neben ihm sah nicht besser aus. Eine grüne Kapuze verbarg seinen Kopf in Teilen, braune Handschuhe seine Finger, aber die gespannte, zerstörte Haut in seinem Gesicht schimmerte leicht im Licht, das durch das Fenster drang.
"Noch überrascht es mich wirklich, dass Ihr den Weg übers Nirgendmeer noch nicht gegangen seid, Signore Tankred." Beide Männer teilten ein schmales Lächeln. "Eurer Rede kommt gelegen, dass ich selbst meine Zweifel hatte, als Kvalor nach all diesen Jahren zurückkehrte. Hätte ich sie nur weiter und genauer verfolgt, vielleicht wäre dann einiges von dem, was sich ereignet hat, nicht geschehen..."
"Dann werdet Ihr uns helfen, Marino?" fragte Leophex in die Stille hinein, die sich eine Weile zwischen den dreien entspannt hatte. "Mit allem, was ich kann."
Nun lächelte Leophex zum ersten Mal. Aber die Miene von Tankred Menaris blieb ungerührt. "Unser Gegner hat, wie es scheint, manchen Trumpf in der Hand. Er hat das Ohr des Gransignore. Zur Stunde versammelt er alle Signori der Eteria zu wer weiß welchem Zweck, die Dorén-Halle ist von seinen Söldlingen abgeriegelt und drinnen tummeln sich die Magier des Draconiter-Institutes."
Der Schirmer der Flut fuhr sich über den schmalen Kinnbart. "Nun, ich fürchte gegen Zauberwirker kann ich nicht viel Hilfe anbieten." Tankred machte eine beschwichtigende Handbewegung. "Das wäre ohne nicht mein Anliegen gewesen. Die Magier sind Sache meiner Nichte und ihrer Verbündeten. Aber vielleicht wisst Ihr ja einen anderen Weg?"
Marino von Calven zögerte einen Augenblick. Dann ging zu einer Schatulle hinüber, die auf einer Anrichte stand und klappte den mit Muscheln und Steinen besetzten Deckel zurück. Er suchte eine Weile und zog dann einen Gegenstand hervor. Beide Männer beugten sich in ihren Stühlen vor. Es war eine Feder, eine schwarze, mit Blut oder roter Farbe verklebte Feder.
"Aber womöglich weiß ich einen Weg, Euch eines anderen Problems zu entledigen."

Vor dem Tor der Dorén-Halle, später

Angronds Klinge wurde vom Stahl des Cavalliere abgelenkt, als er einen wuchtigen Hieb gegen dessen Brustkorb führte, aber zog eine blutige Furche über den Oberarm Carolan ya Aragonzas.
Das lockige Haar hing vom Schweiß an seinem Schädel und der drahtige Mann schnaufte sichtlich, aber auch auf Angronds Stirn stand der Schweiß. Und noch immer hielt der Cavalliere die Treppe der Dorén-Halle. Angrond warf einen hastigen Blick hinter sich. Trotz des Getümmels waren nur wenige Menschen auf den Straßen und nur einige sehr tapfere Gestalten hatten sich in die Nähe gewagt, um dem Schwertduell zuzuschauen. Es würde bald zu Ende sein. Aus dem Augenwinkel sah Angrond, wie der Condottiere Salterer an seiner Hüfte nach einem Dolch tastete.
Angrond trat vor. "Zum letzten Mal, Cavalliere. Ihr habt tapfer gefochten, aber nun ergebt euch, bevor euch noch ein ernsterer Schaden entsteht." Er wies mit dem Kinn auf die blutende Wunde ya Aragonzas.
Wie um seinen Worten Nachdruck zu verleihen hörte er die Schritte von mehreren schweren Stiefeln, die sich näherten. Angrond trat beiseite und ließ seinen Anderthalbhänder etwas sinken. Der Cavalliere war nicht der Mann, der so eine Gelegenheit für einen Angriff missbrauchte, aber der Menaris blieb dennoch wachsam. Zu seiner Erleichterung waren es nicht die Leondrisgarde oder die Sheniloer Drachenreiter, die sich näherten, wer wusste schon, wer noch in diese Verschwörung verwickelt war. Stattdessen hatten mehrere Söldner der Blutaare zu ihnen aufgeschlossen.
Noch einmal wandte er sich dem Cavalliere Carolan zu: "Es ist vorbei, Cavalliere. Opfert Euch nicht für diese aussichtslose Verräterei!" Doch noch stand der Cavalliere ungebrochen an der Pforte der Halle, auch wenn sein Gesichtsausdruck Erschöpfung verriet. Undgeduldig warf er einen Blick zurück. Der Anführer der angekommenen Söldner hatte Salterer eine handgeschriebene Notiz gereicht, die der Condottiere gerade überflog. In seiner Linken drehte er gedankenverloren einen Gegenstand. Seine Miene war unlesbar, aber seine Stirn war gefurcht.
"Es kann keinen weiteren Verzug geben. Mein Vater braucht uns, Salterer!"
Rimon Salterer blickte Angrond mit einem schmalen Lächeln an und hob den Gegenstand in seiner Linken. Es war eine schwarze Feder, mit irgendeiner roten Flüssigkeit verkrustet.
"Ich fürchte, daraus wird nichts, Menaris." Noch während Angrond sich fragte, was hier vor sich ging, traten zwei der Söldlinge nach vorne, die Waffen gezogen, und gingen auf den Schwertgesellen zu. "Legt Eure Waffe ab, Menaris. Oder wir entreißen sie Euren Händen!"
Angrond fluchte und sprang einen Schritt rückwärts die Stufen der Treppe hinauf. Verrat! Er spreizte die Beine, um einen sicheren Stand zu haben und hob seinen Anderthalbhänder hoch über den Kopf. Nun war es an ihm, die Pforte zu verteidigen.

In der Dorén-Halle

Horasio ya Papilio ringt mit Magister Valeran

Etwas legte sich wie ein Eisenband um Horasios Stirn. Ein Schrecken aus der Vergangenheit wuchs vor ihm empor. Valeran Menaris erschien ihm plötzlich als sein strenger Hauslehrer von vor vielen Jahren. Wie eine übermenschlich große, Kinder fressende Spukgestalt: "Ich bin enttäuscht von dir!", scholl die Stimme durch Horasios Kopf. Der Hauslehrer hob den Stock aus Brabaker Rohr: "Du Versager! Flüchte! Renne!" Die in Kindertagen gepflanzte, lange zugedeckte Angst sproß empor und schob den Residenten voran. Er tat den ersten, stolpernden Schritt.
Doch da spürte er eine beruhigende Hand auf seiner Schulter, und eine Stimme erklang: "Horasio, widersetze dich!" Es schien die Stimme seiner Mutter Atroklea zu sein. "Mama?" Er drehte sich um und sah einige Schritte entfern eine weibliche Gestalt. Sie deutet mit einem Gehstock oder Stab auf den Hauslehrer: "Er hat keine Macht über dich. Erinnere dich: Ich habe den Kerl davonjagen lassen. Frei sei dein Wille!"
Der Zwang zur Flucht fiel von Papilio ab, wich Zorn auf den Roten Mann und dessen Schergen, die ihn wie einst der Hauslehrer in Schrecken und Angst versetzt hatten. Horasio schrie wütend auf und beschleunigte seinen Lauf. Doch nicht hin zur Saaltüre, sondern um den großen Ratstisch herum.
Wenn sein rundlicher Leib erst einmal in Bewegung war, glich er einer Rotzenkugel und war nur schwer aufzuhalten. Diese Eigenheit hatte ihm schon in seiner sehr kurzen Zeit als Immanspieler genutzt - jetzt konnte er sie sinnvoll einsetzen.

Geschwisterzwist der Aurandis

Erschrocken wandte sich Meryama um und sah Geronya an. Dann verstand sie, dass die Gefahr von anderer Seite kam. Sie drehte sich um und sah die Spitze eines langen Schwerts vor ihrer Kehle. Am anderen Ende hielt ihr Bruder Randulfio das Heft in der Hand. Schweiß perlte auf seiner Stirn.
“Meryama, das rote Schaf der Familie”, begann er wie in einem schlechten Epos. “Du Fluch unserer Familie hast nur Schande und Unglück über uns gebracht”, fuhr er fort. Und Meryama begann zu verstehen.
“Da hast du aber lange für gebraucht”, begann sie in einem Konversationston, als wolle sie ihm eine Tasse Tee anbieten. “Hast du auch schon herausgefunden, was aus deinem Valpobär geworden ist?”
Randulfios Gesicht nahm eine dunklere Farbe an. “Das warst du? Was hast du mit ihm gemacht?”
Offenbar verstand auch sein umnebelter Verstand. “Los, gestehe, bevor ich dich zu Rethon schicke.”
Sein Verstand wehrte sich gegen den Befehl, die “Koboldsfrau” zu töten. Und in der Kopie schlechter Heldenepen, in denen nicht die Klingen gekreuzt wurden, sondern pompöse Monologe die Seiten füllten, kam er dem Auftrag nach, in der Hoffnung, sie wüsste was zu tun sei.
“Oh, mein Bruder, ich kann deinen Schmerz verstehen. War dein Valpobär für dich ein geliebter Kamerad, so war er für mich Objekt hesindianischer Neugier.”
Lang und breit erklärte sie, wie sie den Valpobär mit einer Schere und einfacher magischer Unterstützung zerlegt, die Innereien auf der Suche nach einem Herzen oder zumindest der brummenden Stimme durchwühlt hatte und der anschließende Versuch, ihn wieder zusammenzusetzen erbärmlich gescheitert war. Währenddessen zeigte die Klingenspitze immer noch auf ihre Kehle und sie überlegte fieberhaft, wie sie der Situation Herr werden könnte.
Dann plötzlich unterbrach sie sich und blickte über die Schulter ihres Bruders. “Was ist das?”
Das knarzende Geräusch belasteter Dielen ließ Randulfio sich hastig umdrehen. Er erwartete mindestens einen Troll zu sehen, doch da war nichts. Als er sich wieder Meryama zuwandte, flog ihm ihre Bluse ins Gesicht, die er mit hastig erhobenem Schwert abwehrte. Es wurde nicht besser, als sie davon hüpfend ihre beiden Schuhe hinterher warf und sich – schon halbnackt – aus ihren Hosen schälte. Sie verbeugte sich spöttisch gegen ihren Bruder, der sein Schwert erhob. Doch dann verblasste sie und verschwand. Sie hatte sich unsichtbar gemacht.
Randulfio kam wieder halb zu sich und sah sich um. Meryama war verschwunden und der Drang, sie zu töten, war abgeflossen wie das Meer bei Ebbe. Was aus den Resten seines Valpobären geworden war, wollte er aber trotzdem gerne noch erfahren.

Horasio gegen Valeran

Im Ratssaal herrschte das Chaos. Diejenigen Eteri und Bediensteten, die unter Beherrschung standen, versuchten sich den Eindringlingen in den Weg zu stellen. So wie Signor Randulfio, der mit blanker Klinge seiner Schwester drohte, die plötzlich begann, sich zu entkleiden.Schamlos!
Ein Teil der Anwesenden wandte sich hingegen in panischer Flucht dem Portal zu. Und konnte dort trotz Rüttelns und Flehens nicht hinaus, weil es abgesperrt war. Zugleich hörte man von draußen Fluchen und Waffengeklirr. Kampf!
Manche begannen nun, einem anderen Ausganz zuzustreben, verloren sich allerdings in der magischen Dunkelheit, die über der Hälfte der Halle lag. Dazwischen rannte der stämmige Horasio ya Papilio wie von der Armbrust geschnellt durch die Menge, wedelte wie ein Semaphorenturm mit den Armen und zeterte furchtsame Worte gegen einen Unsichtbaren, der ihn zu jagen schien. Das alles war ohne Belang. Gleich würden die Blutaare den Saal stürmen und ihn in Rot tauchen, um dieser Unordnung ein angemessenes Ende zu bereiten. "Angrond!" Valeran Menaris fiel erst auf, dass etwas nicht stimmte, als der sheniloer Resident des fleißigen, braven Hauses von seinem erwarteten Fluchtkurs abwich. Mit einem unerwartet behänden Schlenker duckte Horasio sich an jemandem vorbei, der versuchte, sich ihm in den Weg zu stellen. Sein Ellenbogen streifte das menschliche Hindernis und ließ den Mann gegen den Tisch taumeln. Und dann beschleunigte Papilio seinen Lauf noch mehr. Als Valeran endlich verstand, war es zu spät: Er hatte noch Zeit, sich ganz dem anstürmenden Esquirio zuzuwenden, nicht aber um noch einen schützenden Zauber zu wirken. Der Angreifer rannte ihm mit nach Art eines Immanstürmers hochgezogener Schulter in die Rippen: "Mein sadistischer Hauslehrer, ja?! Dir werd ich's zeigen, du Aas!" Den Rest von Horasios Tirade verschluckte der Lärm, den die Stühle verursachten, inmitten derer die beiden zu Boden gingen. Rundliche, erstaunlich kräftige Arme schlangen sich um Valeran und fesselten dessen Arme an seinen Leib. Woher bringt dieser Taugenichts den Mut auf, direkt auf mich loszugehen?, fluchte Valeran innerlich.

Duell vor den Toren

Zwei der Söldner traten nach vorne und hoben ihre Kusliker Säbel, einer Schnauzbärtiger drang direkt auf Angrond ein, während der andere ihm den direkten Weg in die Dorén-Halle zu versperren suchte. Angrond wehrte den ersten Säbelhieb ab und warf einen raschen Blick auf den Cavalliere, den er als den gefährlichsten Gegner ausgemacht hatte. Zum Glück schien der Mann nichts davon zu halten, seinerseits die Überzahl auszunutzen.
Über ihm verdunkelte für einen kurzen Augenblick schwarzes Gefieder die Sonne. Von wegen Tauben, dachte Angrond. Das sind Krähen!
Er hatte sich nur kurz ablenken lassen, aber das hatte es dem anderen Söldling beinahe ermöglicht, die Tür der Halle zur erreichen. Mit einem wuchtigen Hieb, der den Mann zurückspringen ließ, verschaffte sich Angrond Luft. Aber er sah, dass nun auch der Cavalliere sich anschickte, etwas zu unternehmen. Der Schwertgeselle wechselte seine Waffe von der Schwerthand in die Linke und schlug ungezielt einen Bogen vor sich, der den erneut heranstürmenden Schnauzbartträger zögern ließ. Als es über ihm klirrte und Glasscherben von der Galerie der Dorén-Halle herabfielen, waren seine Gegner ihrerseits einen kurzen Augenblick verunsichert. Angrond sprang mit einem Satz auf das steinerne Geländer der Treppe und trat dem Söldner heftig den Stiefel ins Gesicht. Mit blutbesudeltem Bart stolperte der Mann die Treppe hinunter. Angrond sprang direkt wieder hinunter und schlug, das Schwert wiederum ungezielt mit einer Hand führend, nach dem anderen Söldner. Der Mann mit dem langgezogenen Kinn parierte spielend mit seinem Kusliker Säbel, gab damit aber Angrond die Lücke, die er gesucht hatte. Seine Linke schnellte vor und traf den Mann am Ohr. Ein direkt hinterhergeschickter Knaufschlag ließ den Söldner zusammensacken. Thorwal’sche Eröffnung, hatte diese Attacke einer seiner Lehrmeister einmal genannt.
Angrond blieb indes keine Zeit zu grinsen, denn am unteren Ende der Treppe standen weitere Söldner bereit. Und nun trat Cavalliere ya Aragonza erneut nach vorne und lächelte schmal: „Bereit für die zweite Runde?“

wird fortgesetzt in Am seidenen Faden