Briefspiel:Zauberstab und Rondrakamm
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Aufbruch in Arraned
Arraned, Nordmarken, Herbst und Winter 1046 BF
Die Tage wurden Wochen und Wochen zu Monaten. Travia färbte die Blätter und der Wind blies Regen und Sturm über das Land. Boron ließ die Blätter zu Boden sinken und Firun bedeckte das Land mit einer immer dicker werdenden Schneeschicht. Es wurde kalt und die Tage immer kürzer. Nur sehr langsam gewöhnte sich Amira an das harsche Leben in Arraned.
Bruder Anselmo hatte sie wie eine Schwester aufgenommen und Andosch, Truchsess des Vogtes, ein alter Freund der Familie, heiterte sie so manches Mal mit seinem Lachen auf. Seine Schwester, Letti, die rothaarige Zwergin, war ihr eine ebenbürtige Übungsparterin und doch quälte sie das Heimweh. Manchmal saß sie still im Tempel der Rondra auf ihrem Teppich, der den kalten Steinboden bedeckte und blickte verloren durch die hohen Fenster. Dann sah sie sein Gesicht, seine Augen und Sehnsucht kam in ihr auf. Ihre Pflicht jedoch musste sie nachkommen, auch wenn der Winter nie enden wollte. Eines Tages jedoch saß ein kleiner Spatz auf dem Fenstersims ihrer Kammer und sang ein fröhliches Lied von Anfang und Frühling. Der Schnee schmolz und die ersten Blumen drangen durch den schmelzenden Schnee, Schneeglöckchen, Krokusse, Narzissen und Primeln blühten und verkündeten von Geburt und Veränderung. Die Tage wurden länger.
Die junge Frau hatte oft mit Bruder Anselmo, dem almadischen Perainegeweihten gesprochen, war es vermessen, einen Platz nicht nur für Ra’Andra im Herzen zu haben? Lange hatte sie mit sich gerungen, versuchte zu vergessen und konnte doch nicht. Als der Frühling hereinbrach, bereitete sie sich auf ihre Reise vor. Großmutter hatte Ra’andra gedient und doch Liebe zu einem Menschen gefunden. Ihr Vater und ihr Onkel, so wie zwei Tanten, waren der Beweis. Ra’andra konnte teilen, was waren grämende Geweihte ihr wert?
Andosch und Letti begleiteten die junge Frau bis nach Ambelmund, von da wollte sie ein Boot nehmen. Fest drückte sie Letti an sich und verabschiedete sich von Andosch. Mit einem Boot ging ihre Reise weiter, bis sie im Gratenfelser Becken, auf einer gut ausgebauten Reichstraße erst nach Elenvina und dann weiter auf guter Straße ihrem Ziel entgegen ritt. Gedanken schwirrten ihr durch den Kopf. Wie wäre es mit Gwyn? Hatte er sich verändert und welche Zukunft würde sie mit haben oder wollte Ra’andra nur ihre Seelenschmerzen lindern?
Besuch in Bomed
Eine lange Reise fand ihr Ende, als sie an einem Spätnachmittag ihr Ziel erreichte: Bomed! Eine Grafenstadt, die von einer Stadtmauer eingefasst war und am Rande des Rastullswalls mit einer Karawanenroute in die Khôm und somit in die Heimat aufwartete. Die Stadtwache blickte zuerst auf, war die Rüstung und Pferd doch ungewöhnlich und passte besser zu den Tulamiden, war dann aber schnell bereit, der jungen Frau Einlaß zu gewähren, zumal Amira als Geweihte der Sturmgöttin zu erkennen war. Auf einer breiten Straße führte sie Hassan, durch eine von Handel wohlhabend gewordene Stadt zum Palazzo des Grafen. Dieser war von einem schönen Park umgeben, das Gwyn sie hier erwarten wollte, fand die junge Frau überraschend. In einem Briefwechsel hatte er ihr angekündigt, dass er zum Hofmagier des Grafen bestellt worden war. Erst war Amira überrascht, dass er Magier war, doch tat das ihren Gefühlen keinen Abbruch - Ehre und Tugend waren ihr wichtiger als Professionen. An dem Tor zum gräflichen Palast wurde die Tulamidin erneut von Gardisten nach dem 'Woher' und 'Wohin' gefragt. Amira erklärte bereitwillig ihre Absichten und fragte höflich nach Gwyn.
Der Gardist der Bomeder Buntröcke zögerte nur einen Moment, dann salutierte er knapp und wandte sich an die Geweihte: "Wenn Ihr mir bitte folgen möchtet, Euer Gnaden. Baronet Aldubhor erwartet Euch bereits." Mit militärischer Präzision führte er Amira durch die hohen, reich verzierten Gänge des Schlosses von Bomed, vorbei an bunten Fenstern, die das Licht in farbenfrohe Muster auf die polierten Marmorfliesen warfen. Sie stiegen eine Wendeltreppe hinauf, dann durchquerten sie eine Galerie, an deren Wänden Porträts längst verstorbener Adliger hingen.
"Der Hofmagus residiert im südlichen Seitenflügel," erklärte der Gardist, während sie durch eine schwere, mit kupfernen Beschlägen versehene Eichentür traten. "Sein Arbeitszimmer liegt hinter der Bibliothek." Sie passierten Regale voller Folianten, die bis zur Decke reichten, und traten schließlich in einen Raum, der nach altem Pergament, Tinte und einer Spür Mysterien roch.
Gwyn – Baronet Aldubhor – saß auf einem hohen Lehnstuhl aus dunklem Nussbaumholz, gebeugt über einen gewaltigen Folianten, dessen Seiten mit goldenen Lettern beschrieben waren. Der magische Almanach auf seinem Lesepult schimmerte schwach im Licht einer schwebenden magischen Luchtkugel. Er wirkte völlig versunken, bis der Gardist anklopfte und kurz die Stimme erhob: "Baronet – Euer Besuch, wie befohlen."
Gwyn hob den Kopf. Ein kurzer Moment der Irritation wich einem breiten Lächeln. Seine Augen blitzten auf, als er Amira erblickte. "Ihr dürft gehen, Corporal."
Mit einem Nicken verließ der Soldat das Zimmer und zog die Tür hinter sich ins Schloss. Kaum war sie geschlossen, stand Gwyn auf – das schwere Buch schien vergessen. Er überbrückte mit wenigen Schritten die Distanz zwischen ihnen. Die Zurückhaltung, fiel wie eine lästige Robe von ihm ab. "Amira...du bist es wirklich."
Ohne weitere Worte zog er sie an sich. Sein Kuss war stürmisch, leidenschaftlich – so, als müsse er sich vergewissern, dass sie kein Trugbild, kein Schatten seiner Sehnsucht war. Ihre Wärme, der Duft ihres Haares, das leise Beben ihres Körpers in seinen Armen – all das ließ ihn das lange Warten, das Schweigen, den Winter der Trennung vergessen. "Ich habe dich vermisst," flüsterte er.
Die Bücher, die Magie, das Schloss – all das war für einen Moment bedeutungslos.
Amira folgt dem Gardisten durch ein schier unendliches Gewirr von Gängen, eine Wendeltreppe hoch und in eine Bibliothek, die voller Bücher und Pergamente war. Der Duft von Öl und Papier drang in ihre Nase, ein Duft, den sie gut kannte. Dann endlich, stand sie vor dem Mann, der der Grund war, dass sie diese lange Reise angetreten hatte. Stattlich war er, groß und seine Magierrobe ließ ihn noch größer wirken. Für einen Moment blickte Amira fasziniert auf das magische Licht und das schwere Buch, das auf dem Holztisch lag. Mit dem Wink der Erhabenheit, die einem Hofmagier zustand, entließ er den Gardisten.
Als die Tür sich mit einem Klicken schloss, wich die Erhabenheit der Leidenschaft. Ihr Körper sehnte sich nach ihm und schon bald, nach seinem Kuss, lagen Buch und Papiere auf dem Holzboden. Amira konnte nicht anders und auch war es ihr gleich. Radscha hatte ihre Leidenschaft erweckt, es störte sie nicht, dass der Tisch, die Arbeitsplatte eines Magus, nun zu ihrem Bett wurde, noch störte es sie dass, das Verlangen nach diesem Mann Laute ihrer Kehle entweichen ließ, die eher nach einer Hafendirne klangen, als nach einer Priesterin. Nicht einmal die Rüstung hatte sie abgenommen, so zerrte die Leidenschaft an ihr. Mochte sie auch wie eine Hafendirne klingen, heute war sie nicht Amira Al' Fessil, Priesterin der Ra'andra, Tochter Raschids und Maran Al' Fessil heute war sie Amira, die sich ihren Gefühlen hingab und liebte.
Glücklich lag sie, nackt, nur von einer Decke bedeckt neben ihm auf einem weichen Teppich und blickte nach oben. Rüstung, Waffe und Schild, ihre Kleidung lagen neben Papier und Gwyns eigener Kleidung verstreut auf dem Boden des holzgetäfelten Arbeitszimmer. "Ich habe dich auch vermisst!" flüsterte sie ihm ins Ohr und strich über seine Brust. Während sie mit seinen Brusthaaren spielte, lachte sie leise auf. "Baronet, Baronet bist du nun also auch und Hofmagus. Das wird Mutter gefallen!" erklärte sie mit einem Lächeln. "Meine Mutter hat immer von einer guten Partei geträumt. Nur kein Barbar hat sie immer gesagt!" Amira schwieg. "Meine Mutter ist keine einfache Frau, aranischer Adel, Eitel und Stolz. Ich war aber schon immer Vaters Kind - Ruban der Rieslandfahrer, das war eher meine Welt, Abenteuer!" führte sie mit einem Lächeln fort. Dann erhob sie sich leicht und blickte Gwyn in die Augen.
"Ich weiß aber auch, dass Mutter gegen den Wunsch ihrer Mutter gegangen ist und Vater geheiratet hat. Vater ist aber nicht irgendwer!" erklärte sie, während ihre Finger Kreise auf seiner Brust zogen. Amira lehnte sich an Gwyn.
Gwyn hielt ihren Blick, und in seinen Augen lag dieses seltene, fast gefährliche Funkeln, das Amira schon damals in ihren Bann gezogen hatte. Er legte seine Hand auf ihre, die noch immer Kreise auf seiner Brust zog, und spürte dabei den Puls ihres Herzens, gleichmäßig, aber voller Wärme. "Dein Vater ist ein Mann, der seinen eigenen Weg ging," sagte Gwyn leise. "Daran erkenne ich, woher du dieses Feuer hast. Du trägst es nicht nur in deinen Worten – es lebt in jedem deiner Schritte." Er lehnte sich zurück, bettete den Kopf in den Schatten des schweren Sesselpolsters, und für einen Augenblick schwieg er. Seine Gedanken glitten ab, zurück in jene Monde der Trennung, in denen er zwischen Folianten und Formeln gesessen, aber jede Seite nur mit halber Aufmerksamkeit gelesen hatte. Denn in den Rändern der Pergamente stand stets ein Name, den keine Feder geschrieben hatte: Amira.
"Weißt du," begann er schließlich, "als der Graf mich hierher rief, war es natürlich eine Ehre. Aber ich konnte es dennoch nur aushalten weil ich hoffte, dass du eines Tages diese Hallen mit mir durchschreiten würdest." Er hob eine Strähne ihres dunklen Haares an und ließ sie zwischen seinen Fingern hindurchgleiten.
"Ich habe mir oft vorgestellt, wie es wäre, dich wiederzusehen. Aber was immer ich mir ausmalte – die Wirklichkeit ist wärmer...und aufregender." Er grinste schmal, fast verschmitzt, und sein Blick wanderte über die verstreuten Seiten, den geöffneten Almanach, die zerknitterte Robe.
"Der Hofmagus in mir sagt mir, dass ich mich jetzt schämen sollte." Er zog sie ein wenig näher, sein Tonfall wurde dunkler, leiser. "Aber der Mann in mir – der Mann, der dich vermisst hat – sagt mir, dass es keinen besseren Ort dafür gab."
Sein Blick wurde ernst. "Amira, du bist durch den halben Kontinent gereist, um hier zu sein. Was erwartest du, dass wir nun tun? Soll dies nur ein Frühling sein, der vergeht – oder ein Sommer, der bleibt?" Während er sprach, glitt draußen das Licht der Nachmittagssonne über die hohen Fenster, brach sich in den farbigen Gläsern und malte ein Mosaik aus Gold und Purpur über ihre nackte Haut. Für Gwyn war es, als hätte selbst die Magie des Palastes diesen Moment mit einem Zauber versehen.
Amira blickte ihn ruhig an. Das Licht tanzte auf ihrer Haut. "Ein Frühling, der nie endet!" flüsterte sie. Dann blickte sie ihn nachdenklich an. "Wenn ich aber durch einen halben Kontinent reisen muss, brauche ich eine Vertretung, einen Novizen, der dem Tempel und seinen Bewohnern zur Hand geht und Ra'andra in Arraned vertritt. Glaubst du, ich könnte jemanden finden?"
Gwyns Lippen verzogen sich zu einem warmen Lächeln, und er strich sanft über ihren Arm, als wolle er ihre Entschlossenheit bestätigen. "Ja," sagte er leise, "und ich glaube sogar, du wirst nicht lange suchen müssen."
Er richtete sich leicht auf, griff nach einem Kelch Wein, der auf dem niedrigen Tisch stand, und reichte ihn ihr. In dieser Stadt gibt es Männer und Frauen, die den Ruf der Götter hören – und manche von ihnen warten nur darauf, dass jemand ihnen den Weg weist. Geh zu Rondrajan Gerdenwald, dem Tempelvorsteher des hiesigen Rondratempels. Er ist ein kluger und gerechter Mann, und wenn jemand weiß, wer sich für eine Aufgabe im hohen Norden eignet, dann er."
Gwyn nahm den Kelch wieder an sich, trank einen Schluck und stellte ihn zurück. "Sprich mit ihm, erzähle ihm von Arraned, von der Verantwortung, die dort liegt. Und ich bin mir sicher, dass sich ein junger Novize finden wird, dem der Gedanke an das ferne Land das Herz schneller schlagen lässt. Jemand, der nicht nur Pflichten übernimmt, sondern das Abenteuer sucht – so wie du es getan hast."
Er legte eine Hand an ihre Wange, sein Blick ernst, aber von Zuneigung erfüllt. "Und wenn du jemanden gefunden hast, kannst du reisen, ohne dass dein Herz zwischen zwei Orten zerrissen wird. Dann gehört dein Weg dir – und vielleicht...auch uns."
Auf dem Gut Falkenhorst
Aus Tagen wurden Wochen und aus Wochen Tagen. Die Zeit in Bomed verbrachte Amira teils im Grafenpalast, teils im Tempel der Rondra. Einige Male reisten sie auch zum Gut Falkenhorst, wo Gwyn ihr das Gut, die Weinstöcke, die Pferdezucht und sogar den Magierturm zeigte. Den Zweck der dortigen Forschung, die Geheimnisse, die sein Vater hinterlassen hatte, sagte er nichts. Er wollte sie nicht beunruhigen, vielleicht war es aber auch sein eigenes Gewissen, das er zu beruhigen versuchte.
Amira fand Ruhe in den Weinbergen und da sie etwas von Pferden verstand, verbrachte sie auch Zeit im Stall. Über die offensichtlichen Geheimnisse des Magierturms fragte Amira nicht nach, besuchte aber den Turm und ließ sich mit Interesse durch die Bibliothek führen und verbrachte Abends Stunden im Observatorium. Irgendwann machte sie die Verbindung zwischen Gwyns Studien, seinem Interesse und Fasar. In den Skorpionkriegen waren Fasar und Kunchom sogar erbitterte Feinde gewesen. Borborads Rückkehr hatte gezeigt, dass nicht jeder Schwarzmagier Paktierer war und das Beispiel Thomeg Atherions hatte gezeigt, dass Magie gerecht eingesetzt nicht zu Schaden führen musste. Wer war Amira zu urteilen oder zu verurteilen? Doch schließlich hatte Gwyns fürsorgliche Art alle Zweifel an seiner Mitgliedschaft in der Bruderschaft der linken Hand beseitigt.
Schwertbruder Rondrajan Gerdenwald erwies sich als umsichtig und zeigte sich interessiert, vor allem an der tulamidischen Sichtweise der Welt und der Göttin, aber auch an Arraned und der kleinen Wacht des heiligen Hlûthar zu Arraned. Wann immer die Zeit es erlaubte, sah man beide in philosophischen Gesprächen, nicht immer einer Meinung, aber doch respektvoll genug, um sich nicht im Streit zu trennen. Auf Gwyns Ratschlag hin, kam das Gespräch auf einen Novizin und Rondrajan lehnte Amiras Bitte nicht ab, bat sie aber im Gegenzug, sich um zwei Waisen zu kümmern, einen Jungen und ein jüngere Mädchen. Beide folgten Rondras Ruf und ihren Tugenden. Amira war einverstanden und begann beide zu unterrichten. Es war vor allem das Tulamidya, neben Bosparano, das sie beide Kinder studieren ließ. Amira war erleichtert, dass beide mit Hesindes Tugenden gesegnet waren und schnell lernten. Für das Waffenhandwerk waren beide noch zu jung. Erst sollten sie lernen, die Feder zu halten. Als zweites ließ sie die Kinder reiten. Auch hier stellten sie beide geschickt an. Amira war erleichtert, das würde die Reisen in den Norden erleichtern. Gwyn musste sie noch überzeugen, ihr zwei junge Pferde aus seiner Zucht zu verkaufen.
Audienz beim Grafen
Irgendwann war es auch so weit, sich dem Grafen von Bomed vorzustellen. Die Spatzen sangen es von den Dächern, das eine Geweihte der Rondra aus den Tulamidenlanden und Nordmarken zugleich Gast des Hofmagus war und auch im Rondratempel ein und ausging. Dann war es soweit, Gwyn und Amira trafen den Grafen in seinem Garten, einem Ort der Ruhe, ohne Höflinge und Diener, nur eine Handvoll Berater und Leibwächter waren anwesend, die sich aber dezent zurück hielten.
Der Graf trug ein tiefblaues Barett mit einer großen, eleganten weißen Feder. Sein Haar war blond und leicht gelockt und ein gepflegter, gezwirbelter Schnurrbart zierte sein Gesicht. Ein goldener Ohrring schmückte sein linkes Ohr, und um seinen Hals lag eine Halskrause aus feinen, weißen Stofffalten. Er war in eine prächtige Wamsjacke aus rotem Stoff gekleidet, die mit blauen Ärmeln und goldfarbenen Streifen verziert war. Über seiner Brust hing eine goldene Gliederkette mit runden, verzierten Medaillons. An seiner rechten Hand trug er einen Ring mit einem blauen Stein. Sein Blick war nachdenklich und in die Ferne gerichtet, während er eine Hand mit dem Zeigefinger an sein Kinn legte, als wäre er in tiefe Überlegungen versunken.
Dann schien er aus seinen Gedanken zu erwachen, lächelte höflich und widmete seinem Hofmagier und dessen Begleiterin seine Aufmerksamkeit. "Baronet Aldubhor, Signora al Fessil, richtig? Willkommen an meinem Hof." Er nickte höflich. Der Graf von Bomed hatte Ausstrahlung, ein wahrlich charismatischer Mann. "Erzählt, wie hat es auch nach Bomed verschlagen? Ich hörte, ihr kommt aus den Nordmarken, aber ganz offensichtlich stammt Ihr nicht von dort."
Amira als Kind den Anblick reicher Händler, Scholaren und auch Würdenträger, die das bescheidene Heim ihrer Familie aufsuchten, gewöhnt. Sie wussten aber auch um die Bittsteller und die Almosen, die ihr Vater großzügig an die Armen verteilte. Vater hatte immer darauf bestanden, jeden zu schätzen, ob arm oder reich, in seinem Haus war kein Platz für Arroganz und das Protzen war ihm fremd. Amira suchte den Blick des Grafen und lächelte und verneigte sich tief vor ihrem eigentlichen Gastgeber.
"Es ist mir eine Ehre, euer Gast sein zu dürfen" sprach sie, "Euer Hochwohlgeboren!" Ihr schwarzes Haar hatte sie zu einem dicken Zopf kunstvoll zusammengebunden, der ihr über den Rücken hing. Ihr roter Kaftan war reich bestickt und in einer weißen Schärpe, trug sie einen ebenso verzierten Waqqif. "Ra'andra hat mich in die Nordmarken geführt!" sprach sie selbstverständlich, respektvoll, aber ohne Angst. "Gelobt sei die Gõttin, die mich in Arraned willkommen geheißen hat, um dort Ihren Tempel zu betrauen!" Amira schwieg für einen Moment schwierig, um dem Grafen es zu ermöglichen zu antworten. Dieser jedoch ermunterte sie mit seinem Blick fortzufahren. "Ihr habt Recht, ich komme nicht aus den Nordmarken! Geboren bin ich nahe Khunchom. Meine Familie lebt dort seit langer Zeit!"
Stolz und Dankbarkeit für ihre Herkunft und Geschichte, aber auch die Bescheidenheit, hatte sie von ihrem Vater und ihrem Onkel gelernt. Wieder schwieg Sie einen Moment. Dann blickte sie auf Gwyn. "Euer Hofmagus und ich trafen uns auf einem Pferderennen in Almada. Wir beiden teilen die Liebe zu den Pferden und ich folgte seiner Einladung!" Sie verbeugte sich leicht und beendete den Satz.
Der Graf hörte aufmerksam zu, sein Blick glitt zwischen Amira und Gwyn hin und her und ein kaum merkliches, wissendes Lächeln zog über seine Lippen, als er die unausgesprochenen Fäden zwischen beiden erkannte. Er trat einen Schritt näher, die Hände locker auf dem Rücken verschränkt und neigte den Kopf. "Ihr sprecht mit ruhigem Herzen, Signora al Fessil – und Ihr mit klarem Verstand, Baronet Aldubhor. Das ist eine erfreuliche Kombination." Er gewährte den beiden einen längeren, wohlwollenden Blick, ehe er fortfuhr: "Seid mir willkommen, Signora. Als mein Gast mögt Ihr bleiben, so lange es Euch beliebt. Der Palast und die Gärten stehen Euch offen."
Gwyn verneigte sich knapp. "Graf, Eure Großzügigkeit ehrt uns." Seine Stimme blieb ruhig, doch in seinen Augen lag ein aufrichtiges Aufleuchten.
Graf Rimon wandte sich wieder Amira zu. "Wenn ich mir jedoch eine Bitte erlauben darf: Heute Abend speisen wir im großen Kreis. Würdet Ihr uns am Bankett ein wenig von Eurer Heimat erzählen? Von den Nächten unter den Sternen der Tulamidenlande, von den Märkten Khunchoms, vom Wind am Raschtulswall – und," er lächelte schmal, "vielleicht auch von Arraned und den nördlichen Gefilden."
Er gab einem Kammerdiener ein Zeichen. "Quartier für unseren Gast im Südflügel. Und sorgt dafür, dass im Speisesaal Kissen und niedrige Tische bereitstehen – ich glaube, die Geschichten aus den Tulamidenlanden schmecken besser, wenn man ihnen in der rechten Haltung lauscht." Gwyn wandte sich, als der Graf weiterging, einen Atemzug zu Amira. Leise, nur für sie: "Eine große Ehre Amira.“ Er wirkte stolz."
Am Abend
Der Saal war von Feuerschalen beleuchtet. Weiche Kissen um niedrige Tische waren in einem Kreis versammelt. Amiras Gastgeber hatte versucht, den Festsaal so tulamidisch wie möglich zu gestalten. Amira ließ es sich nicht nehmen, das Essen und die Gäste zu segnen.
Das Essen hatte einen tulamidischen Einfluß, war schmackhaft, traf aber Amiras Gaumen und ihre Erinnerungen an zu Hause nicht ganz. Sie verschwieg diesen Umstand, auch hatte sie Hunger und lehrte die Teller sehr zum Gefallen ihrer Gastgeber. Gwyn hatte Amira kurz erklärt, wen der Graf eingeladen hatte. Natürlich war da seine Gattin Regina, eine schlanke Frau mit schwarzen Haaren und selbstverständlich auch seine Kinder Alwene und Therengar. Ein weiterer Gast war Baronessa Edelmunde von Streitebeck, eine Frau mit roten Haaren, die verhalten lächelte, als Amira ihr vorgestellt wurde. Sie wurde von ihrem Gatten Praiesco, ihren vier Kindern und einem schweigsamen Krieger begleitet. Er stellte sich als Cavalliere Nasul di Scapanunzio vor. Darüberhinaus waren viele andere weniger wichtige Höflinge und lokale Adlige Bomeds anwesend.
Es war lange her und sie war noch ein Kind, als Vater, aber vor allem Mutter, Gäste einlud. Amiras Mutter liebte die Unterhaltung, die Tänzerin und Gaukler. Oft waren es opulente Feste. Wer in Mhandistan dazu gehören wollte, trug seinen Reichtum zur Schau. Pferde, Sklaven und die schönsten Frauen und Männer in einem Harem waren mehr als Statussymbole, es war Inbegriff der tulamidischen Lebensart. Ihr Heim und das Gut in den Hügeln Khunchoms bot alle Annehmlichkeiten, die sich wohlhabende Tulamiden wünschen konnten und doch hatte sie die Wüste und später die grünen Hügeln Arraneds mit der Bequemlichkeit ihrer Kinderstube getauscht. Fast hatte sie vergessen, wie es war, still am Tisch zu sitzen und den Eltern bei den oft langweiligen Gesprächen zuzuhören. Viel lieber hätte sie gespielt oder gelesen, als da in einem reich bestickten Gewand zu sitzen, in dem sich das junge Mädchen unwohl fühlte. Heute trug sie ein dunkelblaues Gewand, reich bestickt, länger als das Gewand, das sie als Kind trug. Heute war sie Gast.
Amira saß neben Comtessa Regina, die sie warm anlächelte und sich mit einem Fächer Luft zufächerte. Ihre Kinder blickten teils neugierig, teils prüfend die Tulamidin an. Ihr gegenüber saß Baronessa Edelmunde von Streitebeck, die sie still beobachtete.
Die Comtessa, sehr bemüht den Gast zu unterhalten, stellte viele Fragen, teils aus Höflichkeit, teils aus Neugier. Amira, erzählte gerne von ihrer alten Heimat, den Basaren und Märkten Kunchoms, den engen Straßenschluchten der Altstadt, von der Drachenei-Akademie, mit seinen alten Hallen und der Bibliothek, aber auch vom Gut ihrer Familie, in den Hügeln Kunchoms. Baronessa Edelmunde von Streitebeck war es dann die neugierig, prüfend, nach Amiras Nachnamen fragte: "Al Fessil". Amira aus gutem Hause in Wohlstand aufgewachsen, aber mit dem nötigen Manieren um den Abend, nicht gänzlich über sich zu machen, erklärte kurz, das der Name Al Fessil tatsächlich ein Ehrenname war, der ihrem Urahn Malik verliehen wurde. Die Baronessa lenkte dann das Gespräch auf den Rashtulla Glauben, die der Frage folgte, wie sie, Amira, selbst zu dem Eingott stünde. Vielleicht war es schiere Neugier, vielleicht forderte die Baronessa Amiras Intellekt heraus. Die Auslegungen des Rastullah-Glaubens, waren dem des Zwölfgötterglaubens zumeist gegensätzlich. Einen Eingott, wie es die Schulen in Keft und Unau sahen, lehnte Amira als Geweihte der Zwölfe natürlich ab und doch gab es Kultur und Tradition, die Tulamiden und Novadis verband. Zu den religiösen Pflichten eines Novadi, so erklärte Amira, gehörte auch zum Beispiel die Gastfreundschaft, wie sie auch Travia lehrte. So erzählte Amira von Begegnungen in der Wüste, die am Lagerfeuer endeten. Die tulamidische Toleranz und gemeinsame kulturelle Wurzeln ermöglichten eine Begegnung, die nicht im Konflikt endeten. Die Baronessa hörte aufmerksam zu, vielleicht hatte sie eigene Vorstellungen, die Amiras Erfahrungen mit den Novadis gegenüberstanden. Sie ließ sich jedenfalls nicht in die Karten blicken.
Der Graf schien ebenso interessiert von der Wüste und den Amazonen und deren Auslegung des Glaubens an Rondra. Amira äußerte sich sehr respektvoll über die Gemeinschaften der Amazonen, die halfen, die wenigen Siedlungen in den Bergen oder Reisende zu schützen. Der Graf lauschte aufmerksam, da sie sich als Kennerin der Wüste erwies, er wollte von sicheren Routen und Sandstürmen wissen. Seine Kinder fragten nach alten Schätzen und Städten, tief verborgen im Wüstensand. Amira lachte. Die Wüste war wie ein Meer, die Dünen waren Wellen, Kamele, Schiffe und natürlich gab es allerhand Seemannsgarn. Dann wollten sie wissen, ob Amira einen der legendären Wüstenelfen gesehen hatte. Wieder lächelte Amira - die Wüste hatte viele Geheimnisse.
Schließlich kam Amira auf das Khunchomer Gauklerfest zu sprechen, was die Augen der Comtessa und ihrer Kinder aufleuchten ließ. Inzwischen wurde das Dessert gebracht, wohlschmeckende Früchte und ein leichter fruchtiger Wein. Amira, die gerne von sich und ihrer Heimat berichtete, wollte nicht unhöflich sein und stellte ihrerseits viele Fragen. Als sich der Abend dem Ende neigte, kam das Thema auf Arraned zu sprechen. Warum reiste eine Tulamidin, aus gutem und reichem Hause nach Arraned in den Nordmarken, wäre es nicht angenehmer ihren Dienst in Khunchom zu vollbringen? Die Antwort war schlicht "Rondra will es!". Arraned, obwohl Provinz, war Amira ans Herz gewachsen. Die Provinz war rau und deshalb doch schön, die Menschen einfach und herzlich. Arraned war wie ein Pilz, der Amira langsam vereinnahmte und an ihr wuchs. Sie hatte viele Freunde gewonnen und noch viel zu lernen. Dann hielt sie Gwyns Hand und vielleicht hatte Rondra auch einen Plan, wie sie Amira für ihre Opfergabe beschenken würde. Der Abend fand den Ausklang bei einem Glas Wein und langsam verließen die ersten Gäste das Bankett. Comtessa Regina unterhielt sich noch länger mit der Tulamidin, ein Zeichen, das die Frau des Grafen von Bomed, gefallen an der jungen Tulamidin gefunden hatte.