Briefspiel:Verschollen (6)
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In der Nacht zum ersten Tag des Praiosmonds 1040 BF, auf Burg Quellstein
Dieses Mal wurde Calvert nicht rumgeschickt und fast wünschte er es wäre so, denn dann müsste er hier nicht nervös im Gang stehen und sich nutzlos fühlen. Die dunklen Tage über hatte er sich immer wieder zu seiner Tante gesetzt und ihr Gesellschaft geleistet.
Aber heute Nachmittag hatte sie angefangen immer wieder das Gesicht zu verziehen und letztendlich hatte ihn die Hebamme weggeschickt. Jetzt war es kurz vor der Dämmerung und aus dem Zimmer war immer wieder Stöhnen zu hören. Rondrigo kam gerade, mit dem Arm voll frischer Leintücher, den Flur hochgelaufen, Calvert hielt ihn kurz auf: „Wie geht´s ihr?“
Ein Schulterzucken war die Antwort. „Ich hab doch keine Ahnung vom Kinderkriegen, aber ich glaub es wird ernst.“
In dem Moment steckte Gerone den Kopf zur Tür heraus: „Rondrigo, wo bleibst du denn? Du sollst nicht schwatzen, sondern mir die Tücher bringen und dann kannst du gleich weiterlaufen und mir heißes Wasser holen. Sag der Küche, ich werde mehr davon brauchen in der Nacht.“
Der Blick der Hebamme fiel auf den Knappen. „Du musst hier auch nicht rumlungern, wenn du was tun willst, dann sag deinem Herrn, es ist so weit, wahrscheinlich noch vor dem Morgen. Ich brauche eine Stundenkerze.“ Calvert nickte und machte sich auf den Weg. Ein unterdrücktes Stöhnen seiner Tante begleitete ihn.
Sanjana keuchte, ‚bei den Göttern!‘ Das tat weh!
„Ihr müsst atmen“, instruierte sie Gerone in ruhigem Ton, während sie die Leintücher bereitlegte. „Wenn ihr die Luft anhaltet, tut es mehr weh, versucht in die Wehe hineinzuatmen.“
„Das ist leichter gesagt als getan“, stöhnte Sanjana. Fürs Erste konnte sie durchatmen, aber die nächste Wehe würde nicht lange auf sich warten lassen. Dieser elende, ziehende Schmerz kam mittlerweile alle paar Minuten. Gerone reichte ihr einen Becher mit Tee.
„Geht es langsam an, es ist euer erstes Kind, das kann und wird noch Stunden dauern.“ Sanjana stöhnte bei dieser Aussicht. Kurz erwog sie den Gedanken darum zu bitten nach Timor zu schicken, sie hätte ihn gerne bei sich gehabt, aber ihr war klar, wie dass aussehen würde, also biss sie die Zähne zusammen, versuchte zu atmen und fluchte stattdessen: „Himmel, Horas, Arsch, verdammt!“
Auf der Suche nach dem Burgherrn
Calvert fand Lorian in der Bibliothek, die auch als Kaminzimmer diente. Er und Timor saßen vor dem Kamin in zwei bequemen Sesseln und gönnten sich einen abendlichen Brant. Timor hatte sich in den letzten Tagen gut erholt und trug nur noch den Arm in einer Schlinge „Ich soll ausrichten, dass Signora Malachis ihr Kind bekommt. Frau Gerone sagt es wird noch vor dem Morgen sein“, unterbrach Calvert die beiden in ihrem Gespräch.
„Danke, Calvert“, der Baron nickte dem Knappen dankbar zu. „Gib darauf acht, dass die Hebamme alles bekommt, was sie braucht. Wenn es Probleme geben sollte, wende dich an meine Frau.“
Es war offensichtlich, dass mit den Worten entlassen, da sich der Herr der Burg an Timor wandte, der im Begriff war aufzustehen. „Du bleibst schön dort, wo du jetzt bist! Personal redet, sorg nicht dafür, dass es noch mehr Gerede gibt und womöglich die falschen Ohren etwas mitbekommen.“
Timor ließ sich mit einem Schnaufen und einem unglücklichen Gesichtsausdruck wieder in den Sessel fallen. Er kannte seinen Vetter gut genug, um zu wissen, dass er diese Anweisung besser nicht in Frage stellen sollte. Außerdem hatte er bisher nicht den Mut Sanjana darauf anzusprechen, auch wenn die Gelegenheit mehrfach da gewesen war.
So hatte er genug Zeit gehabt, mit seinen Gedanken allein zu sein und über die Situation zu grübeln. Es würde Wellen schlagen, auf die ein oder andere Weise, sollte es rauskommen. Der kleine Schinkenbaron würde seinen Besuch und die Warnung wohl nicht vergessen haben, aber man wusste nie, wozu jemand fähig war. Er musste unbedingt weitere Nachforschungen über die Schinkenherren von Sikramara anstellen, allerdings nicht mehr heute oder in den nächsten paar Tagen.
„Calvert, du bist ja noch da. Lorian, wenn es dir nichts ausmacht, werde ich mir deinen Knappen mal einige Zeit borgen. Mal schauen, was er von den Kräutern behalten hat, die ich ihm mal gezeigt habe…“
Der Baron schaute zwischen einem zum anderen und nickte dann. „Danach erledigst du aber die Aufgabe, die ich dir aufgetragen habe“, sagte er zu dem Jungen. Timor hatte sich bereits erhoben und war an dem Malachis in Richtung Treppe vorbeigegangen.
Der Junge war froh, dass er etwas zu tun hatte und ging willig auf Timors Lektionen ein. Trotzdem konnte Calvert nicht umhin immer wieder an seine Tante zu denken. Schließlich brachte er den Mut auf zu sagen: „Ich habe gar nicht gewusst, dass ihr und meine Tante so eng befreundet seid. Es war ja schon ziemlich gewagt von ihr loszureiten und ich hab Tante San noch nie so aus der Fassung gesehen, wie in dem Gasthaus.“
„Du warst auch in dem Gasthaus“, der Vogt von Garlák drehte sich im Gehen zu dem Knappen um. „Wie hat sie denn reagiert.“ Er versuchte etwas Zeit zu gewinnen, um sich eine passende Antwort zurecht zu legen. So gerne er den Jungen hatte, aber besser war es, wenn der Kreis der Wissenden erst einmal auf Fulvian und Lorian beschränkt blieb.
„Sie ist in Ohnmacht gefallen“, begann Calvert seinen Bericht und erzählte Timor dann, wie ihn drei Männer nicht ruhig hatten halten können, aber seine Tante schon.
Der Salsavûr hörte der Erzählung schweigend zu. Dass Sanjana in Ohnmacht fiel, passierte nicht alle Tage. Seine Situation musste sie wahrlich mitgenommen haben.
Um Mitternacht im Zimmer der Schwangeren
Für Sanjana zog sich der Abend ewig hin. Hatte sie anfangs noch auf die Stundenkerze geschaut, wurde ihr das bald herzlich egal. „Kinder kriegen ist ein elend anstrengendes Geschäft“, vertraute sie in einer Pause zwischen den Wehen Rondrigo an, dem Einzigen, der ihr treu zur Seite stand.
Irgendwann, sie keuchte gerade vor Anstrengung nach einer Wehe, sagte die Hebamme zu ihr: „Signora, die Mitternachtsstunde ist vorbei, das Schlimmste ist damit abgewendet.“ Sanjana sah die Frau nur verständnislos an und fluchte, denn geboren war das Kind ja wohl noch nicht.
Zwei Stunden später schlief die ganze Burg tief und fest. Rondrigo trat mit einer Schüssel voller gebrauchter Leintücher aus dem Zimmer seiner Herrin und wäre fast in einen großen Mann hineingelaufen, der in dem spärlich beleuchteten Gang stand. „Uach“, entfuhr es ihm. „Signor Timor! Ihr habt mich erschreckt. Könnt ihr nicht schlafen? Ist meine Herrin zu laut?“
Das Schmunzeln im Gesicht des Salsavûr konnte der Junge nicht sehen, da es im Dunklen lag. „Ja, ich kann nicht schlafen und nein, deine Herrin ist nicht zu laut.“
Er war froh, dass aus dem Raum noch kein Schrei eines Kindes kam. Nach seinem Gefühl war es noch nicht der erste Tag des Praiosmondes und damit noch in den dunklen Tagen. Kurz betete er still, dass Sanjana noch ein paar Stunden durchhalten würde. „Wie geht es deiner Herrin?“
„Sie ist erschöpft und flucht. Die Hebamme sagt es dauert nun nicht mehr lange, aber das sagt sie schon seit zwei Stunden. Ich glaube, sie will der Signora Mut machen. Ich muss mich jetzt aber beeilen, sie braucht frische Tücher. Die Signora hat gerade sehr viel Wasser verloren.“
Damit eilte Rondrigo davon. Aus dem Zimmer war ein weiteres lautes unartikuliertes Stöhnen zu hören und dann ein herzhaftes „Drecksverdammte Scheiße!“
Timor hörte sich den Bericht des jungen Dieners schweigend und nach außen hin ruhig an. Innerlich war er alles andere als ruhig. Er hoffte inständig, dass das Kind noch bis zum Mond des Götterfürsten warten konnte.
Seit die Hebamme ihr gesagt hatte, dass das Fruchtwasser nun abgegangen war, hatte sich der Schmerz nochmal verändert. Es zog nun nicht mehr, nein es schien sie zu zerreißen und der Drang zu pressen war übermächtig. Wie durch einen Nebel bekam Sanjana Fetzen mit wie „Ich kann das Köpfchen sehen.“ „Gut so, weiterpressen...“
Sie war aber zu erschöpft, um noch bissige Kommentare abzugeben. Und dann kam eine Wehe, die alle anderen in den Schatten stellte. Sanjana schrie, wie sie es noch nie getan hatte. Als sie wieder Luft bekam und sich der Nebel in ihrem Kopf etwas klärte, hörte sie noch einen anderen Schrei. Das kräftige, protestierende Quengeln eines Neugeborenen.
„Gratuliere Signora, ihr habt einen gesunden, kräftigen Sohn“, die Stimme der Hebamme klang zufrieden. Sie legte der Mutter das Kind in die Arme und blickt in Richtung Fenster, wo man am unteren Rand des Horizonts den ersten Schimmer der Morgendämmerung sehen konnte. Sanjana blickte in das kleine, zerknautschte Gesicht und musste trotz aller Erschöpfung lächeln. „Du bist genau wie dein Vater, du machst es einem nicht leicht“, murmelte sie. Dann gab sie dem Bübchen einen Kuss.
Dritte Stunde nach Mitternacht
Eine weitere Stunde später, das Praiosmal spitzte bereits über den Rand der Goldfelsen war in dem Gemach endlich Ruhe eingekehrt. Gerone hatte Sanjana noch gezeigt, wie sie das Baby stillen konnte, eine Amme war ja nicht vorhanden. Nun lagen Mutter und Kind frisch gewaschen im Bett und schliefen. Keiner von beiden bemerkte, wie ein großer Schatten leise das Zimmer betreten hatte.
Timor blieb neben dem Bett stehen und betrachtete Mutter und Kind.
Nach einer ganzen Weile nahm er das Neugeborene etwas ungelenk, aber sehr vorsichtig in den Arm. Es war so klein, dass sein gesamtes Köpfchen in seine Hand passte. Timor trat näher ans Fenster und öffnete den Vorhang einen Spalt. Einige flaumige Löckchen aus dunkelbraunem Haar ringelten sich um das kleine Gesicht, dass ihm aber ansonsten seine Frage nicht beantwortete. Das Gesichtchen war einfach niedlich, mehr nicht.
„Fragst du dich, ob das dein Sohn ist“, sprach ihn Sanjana unerwartet von hinten an. Die Malachis hatte die Augen aufgeschlagen und blickte mit einem seltsamen Ausdruck im Gesicht zu ihm herüber.
Der Salsavûr zuckte etwas zusammen, als er die unerwartete Stimme hörte, und drehte sich zu der Sprecherin um. Erst schwieg er eine gefühlte Ewigkeit und schaute die Mutter des Säuglings an. Er schluckte schwer, bevor er leise eine Gegenfrage stellte. „Ist er es?“ Die Stimme des sonst gestandenen und selbstbewussten Kriegers klang leise und unsicher.
Sanjana schloss die Augen. Man sah ihr an, dass sie einen inneren Kampf ausfocht. Mehr zu sich selbst als zu Timor sagte sie: „Es gibt hundert Gründe diese Frage mit ‚nein‘ zu beantworten. Und außerhalb dieser vier Wände werde ich das auch tun.“ Sie seufzte und blickte ihrem Geliebten wieder offen in die Augen. „Ja, Timor, es ist dein Sohn. Gezeugt in der Hochzeitsnacht. Mein Gatte war zu betrunken, um die Ehe zu vollziehen, auch wenn er das nicht mehr weiß.“
Obwohl er die Antwort erhofft hatte, war er überrascht. ‚Sie ist aber sehr sicher‘, schoss es ihm durch den Kopf, ‚wie konnte sie sich da so sicher sein… auch nach der Hochzeitsnacht.‘ Er öffnete den Mund, schloss ihn aber sofort wieder. Besser er stellte diese Frage nicht, zumindest jetzt noch nicht. Erst jetzt zeichnete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht ab. Der Salsavûr schaute zu der frisch gebackenen Mutter und dann wieder zu seinem Sohn. „Wie soll er denn heißen?“
„Simeor Sâl. Meine Großmutter hieß Simea und nun...“, Sanjana war verlegen. „Ein bisschen hört es sich nach Timor an. Zumindest für mich.“
Die Wangen des kampferprobten Salsavûr röteten sich leicht. „Simeor Sâl…“, wiederholte er leise. Er schaute seinen Sohn noch einen Augenblick an, um dann seine Augen zu dessen Mutter wandern zu lassen. Er lächelte sie einen Moment schweigend an, bevor er sich wieder dem Jungen zu wandte.
„Auch wenn du den Namen nicht trägst, wirst du immer von den Wölfen geschützt werden. Mein Wort, dein Pfand!“ Sein Gesicht war ernst und seine Stimme klang feierlich, als der Salsavûr sprach. Das Gesagte klang wie ein Schwur, den er dem Kleinen gab. Er machte eine kurze Pause, eine einzelne Träne rann seine Wange herab. „Du trägst das Blut eines alten Hauses in dir. Egal ob du den Namen trägst oder nicht, du wirst diesem gerecht werden. Da bin ich mir sicher.“
Timor trat wieder an Sanjanas Bettstatt heran, gab ihr einen Kuss und danach den Jungen zurück.