Archiv:Jagd im Ranafandelwald (BB 27)

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Auge-grau.png Quelle: Bosparanisches Blatt Nr. 27, Seite 22 f.


Jagd im Ranafandelwald
von Barrad Sebt

Wir berichten hier von einem Jagdausflug in feiner Gesellschaft, und dem gemeinen Leser sei vorgestellt, dass wir einen kleinen Einblick in die Welt des horasischen Adels gewähren möchten, wo hinwieder der erprobte Leser sich vielleicht wiedererkennt. Wir wollen ein Bild geben und doch zugleich nicht gar zu sehr belehrend wirken, denn in unserer eigentlichen Absicht liege vielmehr die schöne Beschreibung, weniger eine Berichterstattung oder schnödes Werturteil über Alltäglichkeiten.

Der junge Herr Damion von Weilenschein-Westfar, stets um seinen Ruf bemüht, hatte eine Jagd in seinen Wäldern ausgelobt. Und so begab es sich, dass Comto Thuan della Gribaldi und Signor Heridan Kusimo v. Hussbek-Schelf aus ihrer Sommerfrische zu Salikum sich gegen den Ranafandelwald verfügten, ein Reh oder einen Rehbock zu erlegen. Hierin aber lag eine Besonderheit: Ob diese beiden Häupter zwar den jungen Damion auf seine eigene Jagd gar nicht mitnahmen – sie sprachen lediglich von einem „wohlkonvenierenden Geschenk, darin unser Adel gewürdigt“ –, so war ihre Gesellschaft doch auch zu zwein keineswegs selbstverständlich. Sollten nämlich ihre beiden Geschlechterverbände einander abhold sein, so lebte zwischen ihnen doch eine Freundschaft, welche derohalber nicht zu trüben war, und bald hätte man behaupten können, Altbosparan selbst wollte in solch übermächtger Tugend gepriesen werden. Hier ein der Comto Thuan, ein Parteigänger des Hauses Firdayon, dort die Faktion der Galahan, vertreten durch Signor Heridan, zwischen ihnen aber die Freundschaft. So nun schritten die beiden wohlreputierten Herren, deren Namen Klang den gemeinen Leser im Geiste bereits in die Knie zwingt, recht fein zur hohen Kunst des Firun, zu einem Ansitz im Ranafandelwald.
Noch durchdrang die Praiosscheibe, indem sie gegen den Abend herabstieg, sanft und wärmend den Waldesduft, und während also der Boden in gelblichem Scheine aufleuchtete, warfen Baumstämme und Geäst fleckig ihre festen Schlagschatten über Gräser, Farngewächse und Wurzelwerk. Dort hinwieder, wo sich das Gehölz etwas zurückzog, konnte der Pfad für einige Schritte die freie Luft einer Lichtung atmen, also dass das entfernte Auge allgemach jene Stille des grünen Blattwerks mustern konnte, welche sich sommerlich gegen das feuchte Grau der Rinden abzubilden pflegt, während der helle Duft des Himmels das Gras überstreicht. Dann aber tauchte die kleine Gesellschaft entlang des schmalen Weges wieder in den dämmerigen Wald ein. Hier bog der zuvorkommende Jagdmeister einen Ast beiseite, dort ein ausgreifendes Gesträuch, und endlich auch sahen wir wieder die gesetzten Bäuche der Herrschaften, wie sie sich mit aristokratischer Bedächtigkeit einherschoben und über Stock und Stein sich hoben. Den Schluß aber bildeten zwei Knechte, welche je einen Balläster geschultert trugen und wortlos folgen, wohin die Herren ihren Schritt lenken mochten.
Hinter einem Hochsitz, welcher sich geduckt unter die schattigen Kronen zweier Bäume fügte, brach der Wald endlich auf und gab eine Wiese dem Auge preis, welche sich jenseits eines letzten Dornichts im abendlich gesenkten Licht ausbreitete. Von hier aus würde man ansitzen. – Den Anfang, den Hochsitz zu erklimmen, machte Comto Thuan. Indem er nickend seinen Vortritt annahm – besser: vorwegnahm –, streckte er sein Hohlkreuz durch und setzte einen gespreizten Schritt an die Leiter. So nun sahen wir einen feisten, kugelförmigen Leib, aus dem sich unbeholfen zwei Beinchen herausstreckten, Sprosse um Sprosse ertastend, bis sich die ganze Last dieser hochadligen Wohlgenährtheit unter einem langen Ächzen emporgeschleppt hatte. Das war ein Anblick. Und es folgte mit watschelndem Gang Signor Heridan, welcher freilich keine bessere Figur machen konnte, denn soweit es uns bislang kaum denkbar schien, jemand könne auch an einer Leiter noch seine watschelnde, sich wälzende, gesäßlastige Leibesbewegung beibehalten, so mussten wir uns hier widerlegt sehen. Und also zog sich auch hier ein schweres Atmen bis auf den Hochsitz empor, und wahrlich, dies ist manifest: Auch hier hätte kein Eichhörnchen flinker sein können. Die Knechte trugen noch die Balläster empor, der Jagdmeister, indem er seinen Hut demütig vor der Brust faltete, fügte einige Worte an, und also ließ man die Herrschaften endlich allein. Bald hörte man nur noch die Grillen auf der Wiese zirpen und einige Vögel im Abendglanz schlagen.
Irgendwann war die Praiosscheibe dem Madamal gewichen, welches silbern und bleich über die Halme der angrenzenden Wiese zu schimmern und sein stilles Gebot endlich auch den letzten Vogelstimmen aufzuerlegen wußte. Inmitten dieses Schweigens wurde das freie Feld nur hier und dort von einigen grauen, skeletthaften Baumleichen durchbrochen, die, gestreckt zwischen Moosen und Böschungen, den Madaschein etwas stärker zurückgeben mochten und bleich dahinruhten. Endlich aber wurde diese Szenerie von einem tiefschwarzen und undurchlässigen Waldrand umgeben, welcher gleichsam den letzten Horizont dieser sehr kleinen, überaus ruhigen und stillebigen Welt markierte. So war nichts mehr zu hören, und die finstere Stille der Nacht, sie war absolut. Nichts geschah, denn der Ansitz – anders als bei einer Treibjagd – sollte einige Zeit in Anspruch nehmen. Irgendwann aber musste denn zwischen unseren hohen Herrschaften doch ein Wort gesprochen oder ein Atemzug hörbar werden, denn Langeweile lässt Adelige, wie wir wissen, bisweilen seufzen oder doch wenigstens etwas schnaufend und enerviert ausatmen.
„Das ist nicht sehr kurzweilig,“ flüsterte der Signor Heridan. Und indem in seiner Stimme ein leises Protestieren lag, trommelten seine Finger über den Schulterstutzen des Ballästers, der nur zu eilig geladen werden wollte.
„Geduld, mein lieber Heridan,“ gab der Comto Thuan zurück, denn für ihn, der er ein erprobter Jäger war, schien es die recht eigentliche Firunsweihe zu sein, lang und länger des todgeweihten Wildes zu harren, nicht unwaidmännisch aus der Geduld zu fahren. Er mochte in dieser Lage wie verwurzelt sein, wie angestammt und ewig still erfreut. Und deshalb auch konnten seine Worte das Schweigen für einen ewigen Augenblick erneuern. Nur ein sanfter Windhauch fuhr sodann durch die beiden Baumkronen, welche den beiden Adeligen still zu Häupten dahinraschelten, und das Auge striff über die nächtliche Wiese.
„Dieser Ansitz dauert bald länger als die Regierungszeit der Amene-Horas,“ protestierte Signor Heridan abermals leise, dieses Mal um desto entschlossener.
„Ich bitte Euch doch, o guter Heridan, nicht solche Vergleiche zu ziehen,“ warf da aber der ruhige Firdayonit mit verhaltener Gereiztheit zurück, und nun wendete er seinem ungeduldigen Kumpan sogar den Kopf zu.
„Ich war schon immer für eine Treibjagd,“ setzte endlich Signor Heridan nach, und er atmete hastig aus. Das war schon fast laut gesprochen, und der Stimme Klang, er fiel ab wie der eines bockigen Kindes. Man füge hier im Geiste das Bild jener Adeligen an, die während einer Treibjagd johlend und freudetrunken noch und noch auf die gehetzten und verzweifelten Waldbewohner anschlagen wollen, dass kaum ein Waffenknecht zeitig nachzuladen vermag. Glänzende Augen wollen noch und noch töten, während sie sich über Kimme und Korn schärfen, bis dass der summende Bolzen dahinsaust. Dann schleckt, wie wir wissen, wie wir es uns hier vorstellen, die Zunge eilig und selbstzufrieden über die Lippen, und der Blick des Edelmannes giert alsogleich nach der nächsten geladenen Waffe. Das ist das Element des Adeligen auf der Jagd. Und weiterhin: Man füge hier im Geiste auch den Eber an, der mit flimmernden Augen hinfort sich flüchtet, indes ihm mit schmatzendem und mordlüsternem Gesichtsausdruck einige Edelleute hinterdreingaloppieren, den Wurfspeer in der Faust. Auch das ist ihr Element. Dies alles jedoch konnte jener Ansitz im Ranafandelwald nicht bieten. –
„Ich will jetzt endlich ´was umlegen!“, protestierte daher wiederum Signor Heridan, der Galahanist. Und dennoch: Der erfahrene Comto Thuan, welcher den Hochsitz teilte, wusste mit hochgezogenen Augenbrauen und mit einer abschneidenden Handbewegung Schweigen zu gebieten. Abermals also wollte sich ein endloser Augenblick dahinziehen. Das Wild auf das man hier wartete, es erschien nämlich nicht im frischen Wechsel mit anderen Todgeweihten, und es wollte und wollte sich auch nicht dem offenen Auge zeigen. Alles dauerte und lauerte lange, sehr lange. Offenkundig war dies nichts für unseren Galahanisten.
Aber halt! – Dort auf dem nächtlichen Feld tat sich etwas. Ein Reh, nachdem es langsam aus dem friedlichen Waldessaum hervorgesprungen war, wandte scheu im Wiesenduft das kleine Haupt und wollte wohl zu äsen beginnen oder doch mit seinen grazilen Beinchen etwas über das Gras springen. So sind Rehe. Lange nun hatte man darauf gewartet, und wir können uns denken: Die beiden Adeligen, sie richteten sich im Sitzen auf, sie blickten einander an, sie nickten und griffen nach ihren Ballästern. Indessen nun die gierigen Augen zwischen der Wiese und den Mordinstrumenten hin und her pendelten, hastige Handgriffe an den Ladehebeln umherwuchteten und -zogen, tapste das zarte Wild nichtsahnend über das Gras und schüttelte sein Köpflein im Madaschein. Wer hätte da stören, wer Mordgedanken dulden wollen? Der Signor Heridan aber, ganz leise ein „Hähä!“ ausstoßend, gluckste wie ein kleines Kind und schlug endlich an. Wer hätte da warten können? Kaum aber war der Bolzen hinfortgejagt, da versah er sich, wie sein Nachbar bereits abgezogen hatte und im Zurücknehmen der Schusswaffe allgemach und mit gestrecktem Haupt gegen die Wiese spähte. – Das Reh, es hatte sogleich gezeichnet, und indem es noch mit stillem Leiden die Vorderläufe beugte, versank es getroffen hinter dem hohen Gras. Nur ein Stück des Felles, das im Nachtdunkel ein helles Grau abgab, bot sich dem Blick noch dar.
„Itzt aber hin, dass wir es aufbrechen!“ frohlockte da der Signor Heridan, denn er mochte glauben, sein Schuß habe den tödlichen Treffer gesetzt. Comto Thuan nickte sogar, doch hatte sein firunisch Wesen auch im Triumph jene Gesetztheit, welche bereits im Ansitzen mancher Probe des Langmutes standgehalten hatte. So aber hievte man die schweren Leiber die Leiter am Hochsitz herab und avisierte den Jagdmeister. Auf dem Weg auf das Feld, allwo noch das Dornicht den Schritt hemmte, schritt der Firdayonit wohl mit einiger Umsicht, obgleich auch seine Leibesfülle längst nicht mehr von Jugend und Tatkraft strahlen mochte. Indem nun aber sein galahanistischer und ungeduldiger Freund auf dem Weg zu jenem erlegten Reh strauchelte, sich an Dornzweigen verhaftete und bald gar der Hilfe bedurfte, ward das Wort über die Firunsweisheiten endgültig gesprochen. Comto Thuan wartete unter verhaltenem und beinahe tönernem Lachen, seinen vollen Körper mit schwarzen Konturen im Madaschein abbildend, und schritt sodann zu dem waidwunden Geschöpf, welches er vor wenigen Augenblicken noch quicklebendig gesehen hatte.
Was aber bot sich dem Auge dar! Als Comto Thuan das Gras hinwegbeugte und auf das Wild schauen wollte, da erhob das arme Rehlein noch mit letzter Kraft das Köpflein, blickte mit schwarzen Knopfaugen zu seinem Mörder empor und sackte sodann unter Schmerzen abermals in sich zusammen. Wie eine gekränkte Rahja zog es die Läufe an den kleinen Leib heran, über welchen sich im Nachtdunkel ein schwärzlicher Blutfluß gebahnt hatte, und die angstvoll angelegten Ohren, den Kopf vorgestreckt, kündeten das nahende Ende. So sind Rehe. Als aber auch Signor Heridan endlich an das Geschehene herantrat, da hatte sich der sentimentale Comto Thuan bereits eine Träne aus dem Auge gewischt und konnte mit resoluter Stimme dem Jagdmeister befehlen, den Gnadenstoß zu setzen, das Wild aufzubrechen und ungeteilt der Jagdbeute hinzuzufügen. Endlich nämlich sollte eines nicht bestritten sein: Es war der Ansitz unseres Firdayoniten, es war sein Bolzen, es war sein Reh, und es war seine Beute. Es war nicht an ihm, nach langem Warten die Tat zu bereuen oder die Beute zu verschmähen. – Am Ende aber, als die Jäger von dannen schritten, sah man, indem man sich umblickte, nur noch in der Ferne die schwarzen Baumkronen vor dem nächtlichen Himmel. Einige Zeit, indessen sich die beiden Freunde noch über den tödlichen Schuß und die Beute streiten mochten, würde es dauern, bis wieder der Morgenschein über dem Ranafandelwald und über dem ganzen Land aufginge.

Bernhard Sieber