Die Geschichte Kusliks und der Kunst
Die Geschichte Kusliks und der Kunst war der Name des auf dem Harderinschen Kunstfest am Cerebornstag 1038 BF im Schilfgrasschloss Rigalentos aufgeführten Theaterstücks. Es widmete sich in sieben Akten der reichhaltigen Kulturgeschichte der Metropole Kuslik seit bosparanischer Zeit – und war im Wesentlichen als Gespräch eines Meisters mit seinem Schüler aufgebaut, zu dem die diskutierten geschichtlichen Begebenheiten als Szenen dargestellt wurden.
Als Urheber des auch durch manche propagandistischen Einlagen auffälligen Stücks galt der vermeintliche Kusliker Meister Principesco de Crux, bei dem es sich aber tatsächlich um den gesuchten Aufrührer und urbasischen "Kerkerdichter" Novarizio Calveni handelte. Dieser forderte den anwesenden Baron von Montarena, Lorian di Salsavûr, im weiteren Verlauf des Kunstfests noch zum Duell und versuchte ihn, als das Duell nicht in der von ihm erhofften Form (mit dem "Heiligenmörder" Travian di Faffarallo als ausführendem Sekundanten) stattfand, gar hinterrücks zu ermorden.
Prolog
Das Stück eröffnet mit der Erzählerszene: Ein Meister am Pult überwacht die Schreibtätigkeit seines Schülers. Beide schweigen eine Weile.
| Schüler: | [blickt auf] „Meister?“ | |
| Meister: | „Ja, Scolarius?“ | |
| Schüler: | „Ihr seid doch in der Historie bewandert, Meister …“ | |
| Meister: | „Natürlich bin ich das. Deswegen bin ich der Meister … und du bist der Scolarius.“ | |
| Schüler: | „Gewiss, Meister!“ [nickt ehrfürchtig und senkt den Kopf, ohne seine Schreibtätigkeit jedoch wieder aufzunehmen] | |
| Meister: | [nach einer Weile] „Dir geht doch etwas durch den Kopf, Scolarius. Nur zu, sprich, denn es hält dich ja sowieso von deiner Aufgabe ab.“ | |
| Schüler: | „Naja, Meister, ihr habt mich schon so viel gelehrt, von den Künsten und den Wissenschaften, den Göttern, Kaisern und Königen, der Historie unseres Landes …“ | |
| Meister: | „Das will ich doch meinen, Scolarius! Und wenn du nur die Hälfte davon behalten, geschweige denn begriffen hättest, dann wäre das ein hoffnungsvoller Anfang …“ | |
| Schüler: | „Ja, Meister, gewiss.“ [nickt erneut] „Aber wo wir doch heute den Tag des Heiligen Cereborn feiern … Meister … des Patrons des Kunstschaffens und Stadtheiligen Kusliks …“ [bricht ab] | |
| Meister: | „Worauf willst du hinaus, Scolarius? Sprich schon.“ | |
| Schüler: | „Ihr lehrtet mich so vieles bereits über die alten Horanthes, Meister, und die jüngeren Könige, soviel mehr als ich je behalten könnte. Dabei gilt mein Interesse eigentlich der Kunst und meiner eigenen Heimat.“ | |
| Meister: | „Womit du sicherlich unsere Heimatstadt meinst, Scolarius, Kuslik …“ | |
| Schüler: | [hebt den Zeigefinger demonstrativ] „Genau.“ | |
| Meister: | „Dir dürstet es also mehr zu erfahren über die Geschichte Kusliks und der Kunst?“ [Der Schüler nickt eifrig.] „Beim Heiligen Cereborn, dann pass jetzt gut auf!“ |
Erster Akt: Am Anfang der Kunst
Der Schüler legt die Schreibfeder zur Seite. Meister und Schüler richten ihren Blick aufs Zentrum der Bühne.
| Meister: | „Zweimal zwölf Jahrhunderte liegen die Anfänge dieser Geschichte – Kusliks und der Kunst – zurück. Die ersten Siedler aus dem fernen Güldenland hatten eben erst aventurischen Boden betreten.“ [Auftritt der ersten Siedler, die sich etwas planlos umsehen.] Und die Götter in ihrer Weisheit erkoren den Heiligen Horas zu ihrem Herrscher.“ [Auftritt des Horas, der von den Siedlern mit Kniefall und Ehrerbietung empfangen wird.] | |
| Schüler: | [räuspert sich] „Ähm … Meister, genau das lehrtet ihr mich so oft schon, dass ich es auswendig kann …“ | |
| Meister: | [verärgert] „Deshalb musst du mich nicht unterbrechen, Scolarius! Schweig still und lerne …“ | |
| Schüler: | „Aber ihr wolltet mir doch von der Geschichte Kus…“ | |
| Meister: | [legt den Finger auf den Mund] „Pssst!“ [macht eine kurze Pause, sortiert sich und fährt dann fort] „Der Horas herrschte, doch war er nicht allein. Beraten wurde er von seiner Mutter, der Heiligen Gylduria ya Glasal, der ersten Magierin aus dem Güldenland in Aventurien.“ [Auftritt Gylduria, die sich zunächst neben ihren Sohn gesellt.] „Ihr Rat war ihm teuer, denn sie war selbst eine sehr weise Frau. Und so hieß sie ihn, seine Untertanen das Land erkunden zu lassen“ [Geste vom Horas, die ersten Siedler verteilen sich.] „Manchen von ihnen stellten sich dabei grausige Schrecken in den Weg …“ [Einer der ersten Siedler (Geron) fuchtelt im Hintergrund wiederholt mit dem Schwert herum. Er stolpert über die Schilder Bosparan und Arivor, die er kurz anhebt, dann aber wieder fallen lässt.] „… während andere ihr Wissen über den neuen Kontinent auf friedlichere Weise mehrten. Unter diesen war auch Cereborn, mit dem die Mutter des Horas an der Mündung des Yaquirstroms wieder zusammentraf.“ [Gylduria entfernt sich vom Horas und trifft im Vordergrund auf Cereborn. Beide begrüßen sich und scheinen sofort in ein angeregtes Gespräch vertieft zu sein.] „Sie waren gewiss die weisesten der Weisen …“ [Im Hintergrund geht Geron von der Bühne ab, stolpert dabei aber/rennt gegen die Tür o.ä.] „… und hatten sich viel zu sagen. Viele Tage und Nächte lang tauschten sie sich über ihre Erfahrungen aus, teilten ihr Wissen und zogen ihre Schlüsse daraus. Als sie sich beinahe nichts mehr zu sagen hatten, entschied die Mutter des Horas jedoch, an genau diesem Ort eine Stadt zu gründen, der Herrin Hesinde zum Wohlgefallen, und sie nannte sie Cuslicum.“ [Gylduria weist auf den Boden zu ihren Füßen und blickt danach zum Himmel.] „Cereborn hingegen errichtete der Herrin eben hier einen Altar, den ersten in Aventurien …“ [Cereborn errichtet den Altar.] „… und legte die erste Chronik an, die alles Wissen der jungen Siedler über den neuen Kontinent sammelte … ebenso wie all jenes, was ihnen über ihre Herkunft wichtig erschien. Die Annalen des Götteralters, das heilige Buch des Hesinde-Kults, fand als erstes Einzug in die Kusliker Schriftensammlung.“ [Cereborn legt neben dem Altar die Schriftensammlung an.] „Doch nicht nur Wissen stand ihm im Sinn. Der Austausch mit der Mutter des Horas beflügelte ihn auch in kreativer Hinsicht … Neues zu schaffen … Schönheit hervorzubringen … die alle Sinne berührt.“ […] „Dies gefiel Gylduria … und es gefiel auch Hesinde. So wurde Cereborn zum Patron des Kunstschaffens … und Kuslik zum Geburtsort der Kunst.“ | |
| Schüler: | [ungläubig] „Kuslik ist der Geburtsort der Kunst?“ | |
| Meister: | „Ohne Zweifel, Scolarius, Cereborn sei Dank!“ [Abgang der ersten Siedler. Cereborn verneigt sich dabei vor dem Publikum.] |
Zweiter Akt: Vom Werden der Künste
Auf der Bühne verbleiben Altar und Schriftensammlung.
| Schüler: | [nach kurzer Pause] „Ja, aber wie geht es danach weiter, Meister? Das ist doch nicht schon das Ende der Geschichte …“ | |
| Meister: | „Wo denkst du hin, Scolarius, das war gerade erst der Anfang! Denn als sich das Bosparanische Reich ausbreitete, erblühte auch Cereborns Saat.“ [Auftritt des Schreibers, der der Schriftensammlung weitere Werke hinzufügt.] „In Cuslicum hatten Kunst und Wissenschaft ihre Heimat. Praktische Erfindungen wie der Kusliker Klinker und das Hypokaustum förderten die Zivilisation des Alten Reiches.“ [Auftritt des Ingenieurs, der aus den Klinkern ein Hypokaustum-Modell baut.] „Dalida, die Tochter des Horas, betonte in der Ius Divi Horathis, dem ältesten bekannten Gesetzesbuch, die persönliche Freiheit der Menschen. Werke wie dieses und die berühmten Horas-Apokryphen wurden in Kuslik verfasst und der stetig wachsenden Sammlung allen Wissens hinzugefügt.“ [Auftritt Dalida, die dem Schreiber offensichtlich etwas diktiert, bevor der es wiederum der Schriftensammlung hinzufügt. Danach Abgang Dalidas.] „Neben der Malerei, der Bildhauerei, der Musizier- und Sangeskunst fand mit der Halle der Metamorphosen unter Asmodena-Horas auch die arkane Kunst schließlich hier ihre Heimat. Die älteste Magierakademie Aventuriens, um das mal festzuhalten …“ [Auftritt Asmodena, die den Ingenieur mit dem Bau der Akademie beauftragt.] | |
| Schüler: | „Hatten die Tulamiden nicht vorher schon Zauberschulen, Meister?“ | |
| Meister: | „Die Tulamiden? Diese Barbaren? Sag mir, Scolarius, hätten sie dann die Schlacht von Punin verloren?“ [Der Schüler schüttelt nach kurzem Nachdenken unentschlossen mit dem Kopf. Der Meister grinst.] „Quod erat demonstrandum!“ [schüttelt nochmal ungläubig den Kopf] „Die Tulamiden … tststs … manchmal frage ich mich wirklich, was so in deinem Kopf vorgeht, Scolarius. Glaubst am Ende wohl auch noch, dass die Thorwal-Barbaren ältere Magierschulen haben als wir, was?“ [Der Schüler schüttelt nun entschieden mit dem Kopf, guckt den Meister empört an.] Nein, hast du denn noch nie von Magnavirtus gehört, Scolarius? [Auftritt Magnavirtus, der von Asmodena mit der Leitung der Akademie betraut wird.] Magnavirtus war die damalige Spektabilität der Halle der Metamorphosen, mit der Leitung der Schule also betraut. Und Magnavirtus war wortwörtlich von solch großer Tugend, dass den Spektabilitäten der Halle der Metamorphosen seither die höchste Ehre in ihrer Zunft überhaupt zu teil wird: Sie dürfen den von der Herrin Hesinde selbst gesandten Schlangenstab führen.“ [Der Schreiber überreicht Magnavirtus den Schlangenstab.] „Der wird aber später erst noch wichtig … später … [macht eine kurze Pause. Abgang Asmodena und Magnavirtus.] … Verdammt, Scolarius, jetzt hast du mich völlig von meiner Geschichte abgebracht. Wo waren wir stehen geblieben? | |
| Schüler: | „Bei eurer Hesindeverlass… ähm nein … bei Kusliks Hesindegesegnetheit, meine ich …“ | |
| Meister: | „Oh, pass auf, du …“ [schüttelt böse mit dem erhobenen Zeigefinger] „Aber ja, Kuslik war von Hesinde wahrlich gesegnet, auch wenn die Dunklen Zeiten nach dem Tode Fran-Horas‘ ihre finsteren Schatten durchaus bis in die aufgeklärteste Metropole warfen. Widerliche Todeskulte und Götzeneinflüsse ‚befruchteten‘ selbst manchen Kusliker Künstler, fürchte ich.“ [Auftritt des Todeskultisten, der gestenreich auf Schreiber und Ingenieur einzureden beginnt.] „Und Nein, ich werde diesbezüglich keine Beispiele nennen. Keine … Wirklich keine …“ [„Auftritt“ des Helfers, der mit dem Rücken zum Publikum etwas schweres auf die Bühne tragen will, dabei jedoch von der Verweigerung des Meisters überrascht wird und schulterzuckend wieder verschwindet.] „Die Kusliker (!) Kaiser bereiteten dem Spuk nämlich glücklicherweise ohnehin ein Ende, allen voran Silem-Horas …“ [Auftritt Silem, der den Todeskultisten von der Bühne treibt.] „… der Urahn unseres heutigen Kaisers, der im Zwölfgötter-Edikt die rechte Ordnung in Alveran auf ewig festschrieb … mit den Kusliker Zeichen, unserer bis heute gebräuchlichen Schrift, die er einführte.“ [Silem bringt dem Schreiber erst die neuen Zeichen bei und diktiert ihm dann das Edikt.] „Wie vor ihm Gylduria und Asmodena stand auch er dabei nicht allein. Es war die Heilige Canyzeth, die zu seiner Zeit das Buch der Weisheit verfasste, an dem sich die Kirche der Herrin Hesinde bis heute ausrichtet …“ [Auftritt Canyzeth, die das Buch der Schriftensammlung hinzufügt.] „… und die dafür zu ersten Magisterin der Magister wurde, zur ersten Vorgängerin der Mutter unseres heutigen Kaisers also.“ [Schreiber und Ingenieur fallen vor der Heiligen auf die Knie und erweisen ihr die Ehre.] „Diese beiden leiteten die letzte, die höchste Blüte der Kunst und Wissenschaft im alten Bosparanischen Reich ein. Alles Wissen der Welt konzentrierte sich damals in Cuslicum, nachdem selbst die Elemiten eingesehen hatten, dass ihre eigene Bibliothek für sie selbst viel zu kostbar war …“ | |
| Schüler: | „Ihr meint, nachdem die Götter sie für ihre Götzenkriecherei und ihren Hochmut mit einem herabfallenden Stern bestraft hatten, Meister …“ | |
| Meister: | „Manchmal ist der Weg zur Einsicht ein harter, Scolarius.“ [Abgang Silem und Canyzeth, die sich beide vor dem Publikum verneigen. Schreiber und Ingenieur verschwinden im Hintergrund.] |
Dritter Akt: Das Ende der Kunst
Der Meister blickt Silem und Canyzeth noch eine Weile verzückt nach.
| Schüler: | „Ein harter … jaja … das habt ihr mich als allererstes gelehrt …“ | |
| Meister: | [guckt böse] „Schweig still, Scolarius! Wenn du über etwas jammern solltest, dann darüber, dass alles Werden der Künste alsbald durch äußere Einflüsse ein jähes Ende nahm.“ | |
| Schüler: | „Durch den Hochmut unserer eigenen Kaiserin meint ihr, Meister?“ | |
| Meister: | „Nein, durch äußere Einflüsse, so wie ich es gesagt habe, Scolarius. Lern endlich besser zuzuhören! Im ganzen Drama um Hela und Raul, dieser Tragödie und Barbarei wird das ‚Sal, Sal, Sa… wurden wir‘-Element nämlich allzu oft vergessen.“ | |
| Schüler: | [erstaunt] „Das ‚Sal, Sal, Sa… wurden wir‘-Element? Ich bin mir sicher, dass ihr mir davon noch nie etwas erzählt habt …“ | |
| Meister: | „Darum hör jetzt umso besser zu! Die gute Hela-Horas dürfte dir ja bekannt sein …“ [Auftritt Hela, als strahlende, gütig lächelnde Kaiserin.] „… und ebenso der Barbar Raul, dieser Kunstzerstörer …“ [Auftritt Raul, als fies dreinblickender Finsterling.] „Es gibt aber noch eine dritte wichtige Person in dieser Schurkerei, die leider allzu oft vergessen wird: Sal, der verräterische Ratgeber der Kaiserin.“ [Auftritt Sal, der sich erstmal kriecherisch zu Hela gesellt.] „Hela war ja keine schlechte Kaiserin, sondern eine, die zunächst viele Erfolge feiern durfte. Dies machte sie nur leider auch anfällig für die Einflüsterungen Sals …“ [Sal zwinkert Raul zu.] „… der ihr bald riet, sich selbst zur Göttin zu erheben, obwohl Belens Beispiel ihr eine Warnung hätte sein sollen.“ | |
| Hela: | [an Sal gerichtet] „Sal, Sal, Sa… wurden wir tatsächlich auserwählt, uns zur Göttin zu erheben?“ [Meister und Schüler schütteln unisono heftig mit dem Kopf, als könnten sie das Geschehen dadurch beeinflussen.] | |
| Sal: | „So wahrhaftig, wie ich euer treuester Diener, euer treuer Wolf wohl bin …“ [zwinkert wieder Raul zu, der zurückzwinkert] | |
| Hela: | „So sei es denn!“ | |
| Chor: | [aus dem Hintergrund] „Hela, wie kannst du nur … Nun ist es vorbei!“ [Hela sinkt schlagartig tot zu Boden.] | |
| Meister: | [resigniert] „Nunja, was darauf folgte, muss ich dir wohl gar nicht mehr erzählen, Scolarius …“ [Raul und Sal schreiten zum Kusliker Altar und zur Schriftensammlung und zerstören alles.] | |
| Schüler: | [schockiert] „Schrecklich. So hat sich damals alles zugetragen?“ | |
| Meister: | „Ja, in der Tat, schrecklich.“ [macht eine Pause, während Raul und Sal immer noch auf den Überresten der Kusliker Kultur herumspringen] „Und welche Lehren ziehen wir daraus, Scolarius?“ | |
| Schüler: | [fragend] „Traue niemals einem ‚Sal, Sal, Sa…‘, wie auch immer der weiter heißt?“ | |
| Meister: | „Formuliere es nicht als Frage.“ | |
| Schüler: | [bestimmt] „Traue niemals einem ‚Sal, Sal, Sa…‘, wie auch immer der weiter heißt!“ |
Pause.
Vierter Akt: Die Kunst der Perspektive
Nachdem das Publikum wieder Platz genommen hat, geht es mit dem ‚Schlachtfeld der Kusliker Kultur‘ weiter, ohne Raul und Sal freilich. Wichtig: In diesem Akt findet sämtliches Theaterspiel auf einer Linie nebeneinander statt, ohne die Tiefe des Raums zu nutzen (s.u.).
| Schüler: | [nach einigen stillen Augenblicken] „Und, ist dies nun das Ende der Geschichte?“ | |
| Meister: | „Mitnichten, Scolarius, sonst säßest du wohl kaum heute hier. Erst die Katastrophe brachte nämlich eine gänzlich neue Kunstform hervor, wenn man so will: die Kunst der Perspektive.“ | |
| Schüler: | [ungläubig] „Kunst der Perspektive?“ | |
| Meister: | „Nunja, vieles war nach Bosparans Fall verloren gegangen, Scolarius. Wissen vor allem, Kunstwerke, kulturelle Errungenschaften. Die Kusliker Bibliothek war zerstört, der Hesinde-Tempel mit ihr niedergebrannt worden. Doch sollten die Menschen deshalb den Glauben an ein kultiviertes, zivilisiertes, geistig anregendes Leben verlieren? Nein. Und sie taten es nicht.“ [Auftritt der Nach-Bosparaner, die die Trümmer aufsammeln und beiseite legen.] „Sie räumten auf. Sie arrangierten sich – zwangsläufig – damit in einer Zeit zu leben, die gegenüber dem Vergangenen rückständig, ja barbarisch erscheinen musste. Weil sie es war. Sie fingen von vorne an. Ihre Perspektive war nun eine andere.“ | |
| Schüler: | „Wurde der Hesinde-Tempel nicht wieder aufgebaut?“ | |
| Meister: | „Ja, sicher …“ [macht Handzeichen zu den Nach-Bosparanern, dass sie den Altar wieder aufbauen sollen] „Und Kuslik wurde sogar Hauptstadt des Lieblichen Feldes, wenn auch zunächst unter einer fremden Dynastie. Dennoch führten Kunst und Wissenschaft verglichen mit der Zeit vor Bosparans Fall ein Schattendasein. Der Wahn der Priesterkaiser schien sogar die neu erwachsenden Blüten wieder zerstören zu wollen.“ | |
| Schüler: | „Aber dann kam Rohal der Weise …“ | |
| Meister: | „Die Rohalszeit brachte in der Tat erfrischende neue Ideen. Das Elfsein war plötzlich überall in Mode, die arkane Kunst stand hoch im Kurs.“ [Die Nach-Bosparaner setzen sich voller Begeisterung die Elfenohren auf. Zugleich Auftritt Argelions und Cordovans.] „Gleichzeitig drifteten aber auch die, die sich ihrer bedienten, in ihren Vorstellungen und Werten immer weiter auseinander.“ [Argelion und Cordovan beäugen sich kritisch und gehen auf Distanz zueinander.] „Und jene, die sich ihrer nicht selbst bedienen konnten, neideten es ihnen oder strebten danach, sie zu unterwerfen.“ | |
| Schüler: | „Meint ihr die Borbaradianer, Meister?“ | |
| Meister: | „Die auch, in erster Linie aber einen anderen von der Macht Verblendeten, der ein schlechtes Licht auf die Kirche der Herrin Hesinde selbst warf: Hergalf de Brisk, Magister der Magister.“ [Auftritt Hergalfs, vor dem sich die Nach-Bosparaner verneigen.] „Dieser zeigte, dass selbst die höchsten Diener Hesindes nicht davor gefeit sind, gegen die Interessen der Kunst zu handeln, als er die Magiergilden seinem Diktat zu unterwerfen versuchte und dabei in Cordovan Schlangenstab noch einen willfährigen Verbündeten fand.“ [Hergalf macht gegenüber Argelion und Cordovan herrische Gesten, verlangt ihre Unterwerfung. Cordovan gibt sich unschuldig und lenkt Hergalfs Aufmerksamkeit auf Argelion.] „Es war jedoch der Heilige Argelion, genannt ‚Schlangentreu‘, der zu dieser Zeit den Stab Magnavirtus‘ – ich sagte ja, der wird noch wichtig – meisterte, sich beiden entgegenstellte und triumphierte.“ [Argelion präsentiert den Schlangenstab und stellt sich den beiden anderen trotzig entgegen.] „Hesinde selbst schlug de Brisk mit Stumpfsinn.“ [Hergalf ist wie vom Schlag getroffen, wirkt danach gänzlich orientierungslos. Cordovan beobachtet das erschrocken und weicht einige Schritte zurück. Dann gehen beide von der Bühne, während Argelion als statuenhafte Verkörperung der Tugend bleibt.] | |
| Schüler: | „Eine neue … persönliche … Perspektive für ihn.“ | |
| Meister: | „Richtig, auch wenn ich darauf nicht unbedingt hinaus wollte. Neue Perspektiven eröffneten sich in viel größerem Umfang danach durch eine andere Entwicklung: Mit Kusliker Karracken und Kusliker Kompässen begann die Ära der ersten Güldenlandfahrten.“ [Auftritt des Kapitäns, der gestenreich in die weite Welt weist und selbst über den Horizont zu blicken versucht.] | |
| Schüler: | „Die Kunst der Perspektive scheint sehr vielschichtig zu sein, Meister.“ [steht auf, stellt sich in eine Linie mit den Darstellern auf der Bühne, guckt links und rechts dran vorbei] Gerade der bildlichen Kunst ist sie aber irgendwie doch verloren gegangen.“ | |
| Meister: | [grinst] Die Wiederentdeckung der Perspektive in der Malerei durch Miolag Korden ist ja auch kein Jahrhundert her, Scolarius. Aber schön, dass dir dieses subtile Detail nicht entgangen ist. [Diesmal verneigt sich der Schüler vor dem Publikum, die Darsteller verlassen die Bühne.] |
Fünfter Akt: Die Kunst der Liebe
Der Schüler setzt sich wieder.
| Schüler: | „Meister, eure Ausführungen sind faszinierend. Vor allem das vielfache Wirken der Heiligen des Hesinde-Kults in unserer Stadt ist mir dadurch erst so richtig bewusst geworden. Aber erschöpft sich die Kusliker Kunst denn tatsächlich darin? Es gibt doch noch weitere Künste, wie mir scheint … solche, die eher einem der anderen Zwölfe nahestehen …“ | |
| Meister: | „Sprich, Scolarius, welche kommen dir da in den Sinn?“ | |
| Schüler: | „Nun, vor allem die Künste Rahjas, Tanz und Musik, die Liebe …“ | |
| Meister: | „Ich hätte mir denken können, dass du daran als allererstes denkst, Scolarius.“ [Der Schüler wirkt ertappt, macht eine abwehrende Geste.] „Kein Grund sich deswegen zu schämen. Tatsächlich ist unsere Heimatstadt auch in dieser Hinsicht ja kein unbeschriebenes Blatt. Wenn ich bitten darf: die Kuslikana …“ [Auftritt der Tänzer, darunter Marika und Harderin. Meister und Schüler folgen dem Geschehen eine Weile schweigend.] „Erfunden wurde dieser Schreittanz wie auch einige andere angeblich während der Hundert Tage von Kuslik, Scolarius, inmitten des Unabhängigkeitskriegs des Lieblichen Feldes. Überprüfen lässt sich das leider kaum mehr. Dass die eingeschlossenen Herzogsgetreuen unter Olruk dem Trinker …“ [Auftritt Olruks mit Trinkpokal. Er beobachtet die Tanzenden, ist wohl angesäuselt. Besonders Marika gelten seine Blicke.] „… für derlei Zeitvertreib mehr Gelegenheit hatten als viele andere vor oder nach ihnen, macht diese Theorie zumindest sehr glaubwürdig.“ | |
| Schüler: | „Zu wem blickt der Herzog denn die ganze Zeit, Meister?“ | |
| Meister: | „Das ist … oder war … eine seiner Mätressen, Scolarius, die berühmte Marika ya Morresa. Eine unglückselige Liebesgeschichte …“ | |
| Schüler: | „Wieso?“ | |
| Meister: | „Der Herzog verstieß sie, ertrug es aber auch nicht, dass sie einen anderen Mann noch lieben könnte. Schließlich forderte er einen seiner Getreuen, den Comto Harderin deshalb auf, Marika nächtens heimlich zu erwürgen.“ [Harderin geht auf ein Handzeichen zum Herzog, erhält offenbar einen Auftrag.] „Comto Harderin war jedoch ein gerechter Mann, dem es gar nicht in den Sinn kam, ein solch ehrloses Verbrechen zu begehen. So unterrichtete er stattdessen die ya Morresa über die sinistren Pläne, die der Herzog mit ihr hatte. Es kam, wie es kommen musste …“ [Marika geht, nachdem (der rosenbewehrte) Harderin ihr berichtet hat, selbst zu Olruk und erwürgt ihn.] „Und so ward der Krieg gewonnen … durch die Hand einer Mätresse … und die Rechtschaffenheit des Comtos Harderin.“ [Beide verbeugen sich vor dem Publikum, ehe sie mit dem Rest abgehen.] |
Sechster Akt: Die Kunst des Krieges
Meister und Schüler blicken beiden noch verzückt nach.
| Schüler: | „Hübsch war sie wohl. Aber, Meister, ich dachte bislang immer, dass Graf Khadan den Krieg durch seine Feldzüge gewann.“ | |
| Meister: | [winkt ab] „Die trugen auch dazu bei, gewiss. Nicht jeder Krieg wird am Ende jedoch zwangsläufig durch das Schwert gewonnen.“ | |
| Schüler: | „Interessant, zu was verschiedene Künste so alles fähig sind … Aber ist die Kunst des Krieges denn auch eine echte Kunst, Meister?“ | |
| Meister: | „Beantworte du mir diese Frage, Scolarius.“ | |
| Schüler: | [wägt zum Publikum blickend ab] „Krieg … Kunst? … Kunst … Krieg? … Keine Kunst? … oder doch?“ | |
| Meister: | „Vielleicht können dich diese beiden Kusliker Meister überzeugen, Scolarius?“ [Auftritt Thorben und Rondrigo.] „Thorben Mescator begründete die Seesöldnergilde der Schwarzen Säbel von Kuslik …“ [Thorben reißt seine Waffe hoch.] „Rondrigo Brannder erfand ‚den‘ Kusliker Säbel, jene schwertähnliche Waffe mit Griffkorb.“ [Rondrigo hebt seine Waffe.] | |
| Rondrigo: | [zu Thorben] „Ich bin der Erfinder des Kusliker Säbels.“ | |
| Thorben: | [zu Rondrigo] „Ich bin der Erfinder der Kusliker Säbel.“ [beide fechten miteinander] | |
| Meister: | „Vielleicht verstehst du unter der Kunst des Krieges aber auch etwas ganz anderes … Kommt dir er hier aus der jüngeren Geschichte unserer Stadt da eher in den Sinn?“ [Auftritt Ralmans mit Augenklappe und Marschallsstab. Er befiehlt den anderen beiden mit ihrem Duell aufzuhören. Sie begeben sich vor Ralman in Formation.] | |
| Schüler: | „Selbst die Kunst des Krieges ist nicht gleich die Kunst des Krieges … wollt ihr mir das dadurch verdeutlichen, Meister?“ | |
| Meister: | „Dieses Urteil überlasse ich ganz dir, Scolarius.“ [an die Kämpfer:] „Weggetreten!“ [die drei verlassen die Bühne] |
Siebter Akt/Epilog: Die Kunst der Künste
…
| Schüler: | [nachdenklich] „Eine Frage hätte ich jetzt noch, Meister …“ | |
| Meister: | „Nur eine? Das würde mich überraschen. Aber nur zu: Welche Frage ist das?“ | |
| Schüler: | „Welche ist die höchste Kunst, Meister, welche die Kunst der Künste?“ | |
| Meister: | [lacht] „Die Kunst der Künste? Du stellst Fragen, Scolarius, für die es keine einfachen Antworten gibt. Nur noch mehr Fragen … Wie etwa: Worin bemisst sich der Wert der Kunst?“ [Auftritt Kedios.] „Ist die Kunst um ihrer selbst willen werthaftiger, oder wenn sie sich in den Dienst anderer stellt? Willst du diese Frage vielleicht ihm stellen?“ [weist auf Kedio] | |
| Schüler: | „Wer ist das?“ | |
| Meister: | „Das ist der Heilige Kedio d'Horanzio, Magister der Halle der Metamorphosen, der sich vor zwei Jahrzehnten selbst opferte um eine Heilung für die im Süden grassierende Rote Keuche zu finden. Kennst du ihn nicht?“ | |
| Schüler: | „Doch, natürlich … Ist die Heilkunst also die Kunst der Künste?“ | |
| Meister: | „Deine Schlüsse sind voreilig, Scolarius, du musst lernen mit deinem Geist geduldiger zu sein. Wer sagt denn, dass Meister Kedio nur für die Heilkunst steht? Steht er nicht auch für die Kunst der Selbstaufopferung?“ [Auftritt Aldares.] „Und wofür steht sie, die mit dem Gnadenerlass unserer Heimatstadt ausgangs des Thronfolgekriegs einen Ausweg aus all dem Zwist und Hader bot?“ | |
| Schüler: | „Königin Aldare?“ | |
| Meister: | „Aldare Firdayon, ja, die Magisterin der Magister und höchste Dienerin Hesindes, der Schirmherrin der Künste.“ | |
| Schüler: | „Ist der Glaube also die Kunst der Künste?“ | |
| Meister: | [Auftritt Ariostos.] „Frag ihn, Meister Ariosto ya Galetta, den Geweihten des Praios an unserer Halle der Antimagie, den Begründer des Prinzipismus, der auf die Vereinbarkeit von theologischer und arkaner Kunst abzielt …“ | |
| Schüler: | „Ist die Magie die Kunst der Künste?“ | |
| Meister: | [Auftritt des Magietheoretikers.] „Geht es nach den arkanen Meistern, die sich jedes Quartal zu den Kusliker Kolloquien am Institut der Arkanen Analysen treffen, ganz sicher. Aber glaubst du ihnen das auch?“ [Auftritt des Künstlers.] „Oder glaubst du eher den Künstlern des Kusliker Kreises, deren Werke und Graphiken eine solche Sorgfalt aufweisen, derart vor Hinweisen und subtilen Details strotzen, dass sie ein Lexikon in Bildform sein könnten?“ | |
| Schüler: | „Ist die Malerei also … Nein, ist die Philosophie also die Kunst der Künste?“ | |
| Meister: | „Du fängst an dir die richtigen Fragen zu stellen, Scolarius.“ [wendet sich vom Schüler ans Publikum] „Doch ist dies erst der Anfang eines langen Weges. Eines Weges, der immer wieder mehr Fragen als Antworten aufzuweisen scheint … Vielleicht ist am Ende ja auch das Theater die Kunst der Künste?“ [Meister und Schüler stehen auf, stellen sich neben die anderen Künstler und verbeugen sich allesamt.] |
Quellen
- Bosparanisches Blatt Nr. 42, Seiten 32, 36 (Rezeption und Reaktionen)