Archiv:Eskenderuns Kinder (BB 17)

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Auge-grau.png Quelle: Bosparanisches Blatt Nr. 17, Seiten 16-17
Aventurisches Datum: Ende 1021 BF



Eskenderuns Kinder


"So waget ja nicht noch einmal die Ehre der lieblichen Dame Durnah zu beschmutzen!" erklang eine helle Knabenstimme vom Garten hinauf in den lichtdurchfluteten Raum. Baronin Delhena Naila sah nachdenklich von den Schriftstücken auf und legte die Feder beiseite.

Nun vernahm sie das Schlagen von Holz auf Holz - so als wäre jemand dort unten in einen Kampf verwickelt. "Ha, nimm das, du Wicht! Ich werde dich aufspießen!"

Delhena schüttelte amüsiert den Kopf. Diesem Ehrenhändel mußte sie kein Ende bereiten. Noch war er das Spiel zwischen Kindern, zwei Knaben, die ihr als Pagen anvertraut waren, um in einem anderen Hause als dem ihrer Eltern höfische Sitten zu erlernen.

Delhena stützte das Kinn auf die Hand. Zur gleichen Zeit weilten ihre jüngsten Kinder tief unten im Süden, am Hofe der Gräfin Lutisana und lernten, sich in der Welt zurechtzufinden, die ihr späteres Leben bestimmen würde. Und die Donna würde sich von den gewitzten Zwillingen sicherlich nicht so leicht hinters Licht führen lassen. Vor allem Tayim konnte viel von ihr lernen.

Ja, in wenigen Jahren schon würde das Spiel, das die Kinder dort unten trieben, zu bitterem Ernst werden, und die sorgenfreie Kindheit nur noch eine flüchtige Erinnerung sein.

Delhena erhob sich und blickte aus dem Fenster. In den Monaten, in denen die Erben von Thegûn bereits bei ihr weilten, waren sie ordentlich in die Höhe geschossen.

Ihr Vater würde sie nicht wiedererkennen, wenn er denn nun endlich aus Tobrien zurückkehrte. Immer noch drangen nur widersprüchliche Nachrichten aus dem Mittelreich - der Kampf zwischen den Mächten des Lichts und der Finsternis brandete vor und zurück wie Ebbe und Flut.

Die Baronin seufzte. Mit Schaudern dachte sie an ihre letzte Reise ins Mittelreich zurück. Auf Praske hatte sie die Macht des Sphärenschinders und seiner Spießgesellen am eigenen Leibe zu spüren bekommen, als diese den neu gekürten Herzog von Tobrien entführt hatten. In dem Chaos und der verzweifelten Suche danach war sie in die Gefangenschaft von Kultisten geraten und fast zum Opfer geworden. Wer einmal die blutige Herrin geschaut hatte, der vermochte sie so schnell nicht wieder zu vergessen, vor allem, wenn das nicht die erste Begegnung gewesen war ... Zitternd schlang Delhena die Arme um sich. Wie immer war alles schlimmer gekommen: Es hatte keine schnelle Rückkehr aus dem Kriegsgebiet gegeben. Der frühe Wintereinbruch hatte eine Heimreise unmöglich gemacht.

Ihr Blick fiel auf die beiden Jungen, die noch immer erbittert mit ihren Holzschwertern gegeneinander kämpften. Weder sie, noch deren Stiefmutter Lutisana durften jemals erfahren, daß die Freundschaft der Häuser Visterdi und Oikaldiki über das übliche Maß hinaus gegangen war, in jenem Winter in Ysilia, und daß sie Cedor von Eskenderun in den gemeinsamen Stunden Dinge anvertraut hatte, die sie eigentlich in ihrem Herzen hatte wahren wollen.

Ihr Blick fiel auf das im Gras sitzende Mädchen, das eine Katze streichelte und dem Kampf mit geröteten Wangen zusah. Durnah war so viel Aufmerksamkeit nicht gewohnt, aber sie floh auch nicht mehr vor ihr.

Delhena betrachtete das Mädchen liebevoll, das Kind einer Tochter, die sie niemals richtig kennengelernt hatte. Über verschlungene Wege hatte sie die Spur des Kindes, das sie in Al'Anfa geboren hatte, wiedergefunden - und nur noch deren Tochter vor einem ähnlichen Lebensweg retten können. Auch wenn Durnah die Sklavenjahre vergessen zu haben schien - und nun immer schneller zu einer jungen Frau heranreifte, so war sie still und zurückhaltend geblieben. Delhena schien es manchmal, als lebe sie in einer anderen Welt.

Nun endlich hatte Tizzo seinen Bruder niedergerungen und setzte dem am Boden liegenden Jungen das Holzschwert auf die Brust. Triumphierend blickte er zu Durnah, doch das Mädchen biß sich nur verlegen auf die Lippen, und schenkte ihm nicht den erhofften Gunstbeweis.

Tizzo verzog das Gesicht, ließ das Schwert fallen, reichte seinem Bruder die Hand und half ihm auf, während er dem anderen etwas zuflüsterte, das Delhena nicht verstehen konnte. Durnah senkte den Kopf. "Ihr mußtet doch nicht für mich kämpfen!" sagte sie leise.

"Aber Tilfur hat dich beleidigt! Er findet dich langweilig!" entgegnete der Junge laut. "Und ein wahrer Held muß seine Dame verteidigen. Warum verstehst du das denn nicht?"

"Ich versteh schon, nur ... nur ich will das nicht!"

"Warum denn nicht?" Tizzo kauerte sich vor Durnah und reichte ihr die Hand. Sein Lächeln zeigte unverkennbar, wessen Sohn er war. "Immerhin bist du eine Dame, und eine sehr schöne dazu!"

Delhena beschloß der Szene ein Ende zu bereiten. Ihr war plötzlich ein wenig mulmig geworden. Normalerweise zeigten sich Jungen in diesem Alter nicht so interessiert an Mädchen, doch Tizzo schien von Durnah mehr als begeistert zu sein. Was sah er in ihr? Die Baronin beschloß diese Frage ein anderes Mal zu ergründen. "Kinder, es ist Zeit, für eure Stunde in höfischem Benehmen!"


Später am Abend - es war Zeit, für die Kinder ins Bett zu gehen - wandte sich Tizzo noch einmal zu Delhena um. "Was ist mein Junge?"

Tizzo blickte sich verlegen um. "Ich habe da eine Frage ehrenwerte Tante."

"Dann stell sie nur!"

"Allein!"

Mit einem Nicken schickte Delhena Durnah und den Sohn des Barons von Crumold fort, der ebenfalls bei ihr Page war. Tilfur verschwand mit Murren erst nach einer weiteren Geste, während Tizzo zu ihr herantrat.

"Was möchtest du wissen?"

"Tante ... ist es möglich, daß wie bei Tayim und Tilfur ... na du weißt schon ... ist es möglich, daß Vater und du ... wenn ich groß bin möchte ich nämlich Durnah heiraten, und nicht so eine blöde Prinzessin aus dem Mittelreich!"

Delhena unterdrückte ihr Schmunzeln. "Warum machst du dir jetzt schon Gedanken darüber? Und warum gerade Durnah?"

"Weil ich Vater und ... Mutter ab und zu mal belauscht habe, und sie über das Zeug hab' reden hören. Na ja, du siehst ja, wie Tayim und Tilfur sich immer streiten, und das will ich nicht. Ich will mal keine Frau haben, die mich haut, oder von der ich nichts weiß! Ich kenne Durnah wenigstens. Sie ist ... schön und lieb, und einfach zum Gernhaben."

Delhena holte tief Luft. Wie sollte sie dem Jungen nur klar machen, daß dies unmöglich war. Nicht nur Standesunterschiede trennten ihre Enkeltochter und den Sohn des Grafen von Thegûn. Aber sie war doch über die Gedankengänge des Jungen erheitert, einer vereinbarten Ehe aus dem Weg gehen zu wollen. Nun, in einigen Jahren würde er sicher anders darüber denken, aber nun durfte sie ihn nicht enttäuschen.

"Ich werde mir darüber Gedanken machen!" erwiderte sie dann ernst und legte dem Jungen eine Hand auf die Schulter. "Das verspreche ich dir, und nun geh auch schlafen!"

Tizzo verbeugte sich leicht. "Ja, ehrenwerte Tante, auch Euch eine gute Nacht!"

Delhena blieb noch am Tisch sitzen, als der Junge schon längst verschwunden war. Nun konnte sie ihr Schmunzeln nicht länger verbergen.

Gerade als sie sich erheben wollte, trat Maestro Djanzeno ein, der oberste Diener. "Euer Hochgeboren, ein Beilunker Reiter wartet an der Pforte. Er hat eine dringende Nachricht für Euch, die er nur Euch selber übergeben will."

"Zu einer solch späten Stunde?" Verwirrt folgte Delhena der Bitte.

Das Pferd des Boten tänzelte unruhig vor sich hin, während der staubbedeckte Mann ihr entgegentrat. Mit ernstem Gesicht verbeugte sich der Reiter vor Delhena und überreichte ihr ein gesiegeltes Pergament: Schwarzer Lack mit gebrochenem Rad ...

Noch ehe Delhena etwas sagen konnte, sprang er wieder auf und sprengte davon.

Verwirrt brach die Baronin das Siegel und entfaltete im schwindenden Licht der Abenddämmerung das Blatt. Stockend folgte sie der schwarzen Tinte auf dem bleichen Pergament:


Aut Cedor Aut Nihil

Seine Hochwohlgeboren
Cedor ay Oikaldiki


Delhena brauchte nur einen Augenblick, um zu begreifen, was das bedeutete. Wortlos drehte sie sich um und kehrte in den Palazzo zurück, während sich draußen die Dunkelheit wie ein Leichentuch über das Land senkte.


‚Habe ich das Recht, seinen Söhnen von dem Tod ihres Vaters zu berichten? Von wem anderen sollen sie es erfahren, als von mir? Wenn ich schweige, dann kann ein unbedachtes Wort schweren Schaden anrichten.' Delhena stützte den Kopf auf die Hände. Schon kurz danach hatte sich die Nachricht des Boten bestätigt.

Delhena hatte in der vergangenen Nacht nicht geschlafen, weil ihr diese kurze Botschaft nahegegangen war. ‚Er war ein guter Freund, und der Gefährte in düsteren Stunden. Ich bin es ihm einfach schuldig, seine Söhne darauf vorzubereiten, daß sie nun beide Eltern verloren haben'

Denn die Mutter der Jungen und ihrer kleinen Schwester war vor einigen Jahren durch Gift gestorben. Damals hatten sie noch nicht begriffen, was geschehen war, und in Lutisana, ihrer Stiefmutter rasch Ersatz gefunden, doch diesmal waren sie alt genug um zu verstehen, was das bedeutete. Delhena strich sich das Haar aus den Augen. Doch vorher mußte sie genügend Kraft sammeln.


"Du wolltest uns beide sprechen, ehrenwerte Tante?" fragten Tizzo und Tilfur gleichzeitig.

"Ja, das wollte ich. Kommt nur her, ihr beiden." Delhena winkte die Knaben zu sich heran, und hieß sie, sich neben sie niederzusetzen. Dann holte sie tief Luft und versuchte die richtigen Worte zu finden, um den Jungen beizubringen, was geschehen war. Sie hatte sich lange überlegt, wie sie den Kindern die traurige Nachricht nahebringen konnte, und hoffte nun, daß Tizzo und Tilfur sie verstehen konnten.

Als sie geendet hatte, war es sehr still in dem Raum.

Die zwitschernden Vögel übertönten die gepreßten Atemzüge der Jungen jedoch nicht. Tizzo und Tilfur bissen sich auf die Lippen. Tränen standen in ihren Augen, aber sie verbaten sich zu weinen. Sie wollten stark und tapfer wie die Erwachsenen sein!

Beide zuckten zusammen, als Delhena die Arme um sie legte. "Es ist keine Schande Tränen der Trauer zu vergießen", sagte sie dann langsam. "Wenn ihr um euren Vater weint, dann habt ihr jedes Recht der Welt dazu. Außerdem sieht uns hier keiner - und ich werde schweigen wie ein Grab."

Das löste die Verbissenheit der Jungen, männlich und stark sein zu wollen, obgleich Delhena ihnen das Elend ansah.

Während der Baronin ebenfalls die Tränen über die Wangen rannen, schmiegten sich die Knaben an sie und ließen ihren Tränen freien Lauf. Delhena streichelte ihre Rücken und drückte sie fest an sich. Was die Kinder jetzt brauchten, war Trost und die Gewißheit, nicht nun nicht ganz allein auf der Welt zu sein.

Irgendwann schreckte Delhena durch eine zarte Berührung zusammen. Sie hatte gar nicht gemerkt, daß Durnah in das Zimmer gekommen und an sie herangetreten war. Bestürzt blickte das Mädchen auf ihre Großmutter und die weinenden Jungen.

Dann plötzlich kauerte sie sich hin und legte ihre Arme um die Jungen, als wolle sie ihr Leid teilen. Die Knaben zuckten zusammen, doch dann entspannten sie sich sichtlich, während Delhena wie gebannt auf das blasse Gesicht ihrer Enkeltochter blickte, das von einem underischen Glanz umgeben war. Sie spürte, wie die Trauer zu einem Teil von ihr wurde und darum leichter zu ertragen. Um so mehr mußte sie nun Sorge darum tragen, daß Durnah nicht eines Tages in eine Welt hineingerissen werden würde, die sie zerstörte. Das Kind war wirklich von den Zwölfen gesegnet.


Betriebsame Geschäftigkeit herrschte im Palazzo, während die Dienerschaft die Habseligkeiten der Oikaldiki-Zwillinge zusammenpackten, denn nun wo ihr Vater tot war, würde ihre Anwesenheit bei der eigenen Familie unbedingt erforderlich sein. So hatte es der Abgesandte Gräfin Lutisanas ausgedrückt, der schon zwei Tage später in Ankram eingetroffen war. Nun wartete der Mann geduldig darauf, das alles gepackt und die Kutschen vorbereitet wurden. Denn Delhena wollte die beiden Jungen nicht alleine lassen, und man hatte sie darum gebeten - sie und Durnah.

"Euer Hochgeboren, auch Eure Anwesenheit wird erforderlich sein", hatte der Cavalliero enthüllt. "Seine Hochwohlgeboren der Graf von Thegûn hat verfügt, daß auch Ihr ... und Eure Enkeltochter Durnah bei der Verlesung seines letzten Willens zugegen sein sollt!"

So war die Abreise für Delhena von gemischten Gefühlen geprägt. Voller Sorge betrachtete sie Tizzo und Tilfur, die von ihrer Traurigkeit abzulenken suchten, indem sie sich besonders um Durnah bemühten, während sie sich fragte, was das zu bedeuten hatte.

War es ein Fehler gewesen, Cedor ay Oikaldiki ein Geheimnis anzuvertrauen, über das sie besser geschwiegen hätte? Was hatte er danach getan? Zeit genug war gewesen, um Nachrichten an seine Familie zu senden, und offizielle Dokumente zu verfassen.

Delhena wurde immer unruhiger, während sie eine Hand auf Durnahs Schulter legte. Sie spürte mit jeder Faser ihres Körpers, daß ihr Geheimnis bald keines mehr sein würde.


Das Mädchen Durnah war nicht nur ihre Enkelin, das Kind ihrer Tochter Chamirah, sondern auch der älteste Sproß Cedor ay Oikaldikis, die Halbschwester Tizzos und Tilfurs!

Christel Scheja