Briefspiel:Plötzlich Delegierte/Besuch im Tempel

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Stadt Urbasi.png Briefspiel in Urbasi Stadt Urbasi.png
Datiert auf: Frühjahr 1046 BF Schauplatz: Urbasi, Cassiena, Vinsalt Entstehungszeitraum: Sommer 2025
Protagonisten: Rahjada, Traviane und Rahjalin Solivino, Auricanius von Urbet u.w. Autoren/Beteiligte: Familie Solivino.png Bella, Haus Urbet.png Gonfaloniere
Zyklus: Übersicht · Rahjadas Brief · Besuch im Tempel · Von einem Monsignore zum anderen · In der Villa Ricarda I · II · III · IV · V · Auricanius' Einladung · Treffen in Vinsalt I · II · III · IV · V · VI


Rahjalin Solivino, Urbasis Gastgeber der Leidenschaft

Besuch im Tempel

Zwei Tage waren verstrichen, da fand Traviane Zeit, Rahjalin im Tempel der Heiligen Ricarda aufzusuchen. Es war etwa zwei Stunden nach Sonnenuntergang und der Tempel war gut besucht, aber nicht überfüllt.
„Ist Rahjalin da?“, fragte sie einen Novizen – Alricio, wenn sie nicht alles täuschte – der gerade dabei war, verwelkte Rosendekorationen durch frische auszutauschen.
„Hochwürden Rahjalin ist gerade nicht zu sprechen“, leierte dieser geistesabwesend herunter, während er ein zu Boden segelndes Blütenblatt beobachtete. Tiefe Augenringe und gelegentliches Gähnen zeugten von Nächten, in denen er wohl anderes zu tun gehabt hatte, als zu schlafen.
„Auch nicht für seine Schwägerin?“
Da sah der Junge sie erstmals genauer an und augenblicklich schoss ihm die Röte ins Gesicht.
„Äh, Verzeihung, ich habe Euch nicht erkannt, Signora Traviane! Das … äh, weiß ich nicht. Vielleicht schon. Er ist im Andachtsraum.“
„Danke“, schmunzelte sie und begab sich zielstrebig durch die Tempelhalle zu den für gewöhnliche Besucher verschlossenen Räumlichkeiten.
Sachte klopfte sie an die Tür zum Andachtsraum und öffnete sie einen Spaltbreit.
Ein ungewöhnliches Bild bot sich ihr: Rahjalin saß mit verschränkten Beinen auf einem weichen Teppich, die Augen geschlossen, wie in Trance und leise die Melodie eines Schlaflieds summend. Es klang seltsamerweise nicht nach einem Lied der Rahja-Kirche, Traviane hatte es noch nie gehört. Auf einem weichen Bett aus Kissen schlummerte vor ihm ein älterer Mann, der nur einen Lendenschurz trug und abgesehen davon mit einem überaus edel aussehenden, tiefroten Schleier bedeckt war. Rahjalin strich ihm ab und zu sanft durchs Haar und murmelte beruhigende Worte.
Traviane schloss die Tür leise wieder, denn sie hatte das Gefühl, hier etwas Heiliges zu stören. Sie beschloss, zu warten. Doch Rahjalin musste sie gehört haben, denn schon nach fünf Minuten huschte der Rahjadiener auf leisen Sohlen auf den Flur und schloss die Tür ohne das geringste Geräusch.
„Rahja zum Gruße, teuerste Schwägerin.“ Sein Lächeln war rein, herzlich, die Stimme weich und gedämpft. Er schloss sie in eine schnelle Umarmung, fest, aber nicht aufdringlich. „Er ist eingeschlafen. Ich habe jetzt Zeit für dich.“
„Rahja zum Gruße“, erwiderte Traviane ebenso leise. „Können wir vielleicht woanders hingehen?“
„Natürlich.“
Rahjalin nahm sie ganz nach höfischer Manier am Arm und führte sie den Gang entlang zu seinem Privatgemach. Ein wahrlich geschmackvoll, luftig eingerichtetes Zimmer, das Wärme ausstrahlte und zum gemütlichen Verweilen einlud. Er schloss die Tür hinter ihnen und wies auf zwei Sessel. Sie setzten sich.
„Was hast du da gemacht?“, fragte Traviane neugierig.
„Wie? Ach das.“ Rahjalin lächelte. „Das war ein hoffentlich erfolgreicher Einsatz des Schleiers der Träume. Ein uraltes, sehr effektives Rahjawunder, das es ermöglicht, schlechte Träume anderer zu besiegen. Der Mann war ein Veteran aus den Thronfolgekriegen und Überlebender der Katastrophe von Arivor, ein alter Bekannter meiner Mutter.“ Ganz kurz war Schmerz in seinem Blick zu sehen, doch dann fing er sich wieder. „Er hat zu viel gesehen für ein einziges Leben und das lässt ihn nicht mehr zur Ruhe kommen. Darum hat er den Weg hierher auf sich genommen, um ein einziges Mal ruhig zu schlafen. Mutter hat wohl irgendwann einmal stolz erzählt, dass ich solche Art des göttlichen Beistands von Rahja erbitten kann und er hat es sich gemerkt.“ Rahjalin sah sehr zufrieden aus. „Wenn alles gut geht, konnte ich seine Träume so beeinflussen, dass er diese Nacht nur schöne Erinnerungen mit seiner Jugendliebe durchleben wird.“
„Das ist … wunderschön.“ Traviane lächelte gerührt. „Was für ein Schlaflied hast du gesummt? Nichts mir Bekanntes, wenn ich mich nicht recht irre.“
„Oh, es war ursprünglich ein rondrianisches Kriegslied, das Mutter Rahdrigo, Cerceri und mir früher immer zum Einschlafen gesungen hat. Ich dachte, für einen Rondragläubigen genau das Richtige, wenn er es auch aus seiner Kindheit kennt. Tatsächlich hat es ziemlich schnell geholfen.“
Fasziniert nickte Traviane. „Ich wusste gar nicht, dass du so etwas kannst. Jemandem die Alpträume nehmen.“
„Ich erzähle es bewusst nicht jedem. Sonst würde irgendwann die ganze Stadt vor meiner Tür stehen. Rahjas Gaben dürfen nur für diejenigen eingesetzt werden, die sie wirklich dringend benötigen. Und ich würde in Erklärungsnot geraten, würde ich beispielsweise ein Mitglied aus dem einen Adelshaus bevorzugen, wenn du verstehst. Es gäbe Streit und Unverständnis und das ist das letzte, was ich will.“
Trotz des ernsten Themas klang er beinahe heiter.
„Ich verstehe.“ Sie seufzte. „Politik … was will man machen?“
Darauf lachte er herzlich. „Sie denjenigen überlassen, die aus unerfindlichen Gründen Spaß daran zu haben scheinen.“
Er machte eine Pause.
„Doch du bist nicht hergekommen, um einen netten Plausch zu halten? Nicht nur, nehme ich an.“
„Das ist richtig.“ Travianes ausgelassener Gesichtsausdruck wurde etwas ernster. Langsam holte sie den Brief hervor und hielt ihn dem Hochgeweihten hin. „Er ist von Rahjada“, sagte sie behutsam.
Augenblicklich änderte sich Rahjalins Miene. Reue flammte auf, wie immer, wenn seine Tochter erwähnt wurde, aber auch Freude.
„An mich?“, fragte er zaghaft, so hoffnungsvoll, dass Traviane sich dafür hasste, die Hoffnung zerstören zu müssen. Sie schüttelte den Kopf.
„Tut mir Leid. Ich dachte, du solltest auch davon erfahren.“
Enttäuschung ließ alle Hoffnung in Sekundenschnelle dahinschmelzen.
„Verzeihung“, murmelte er. „Es … es ist nicht deine Schuld. Sie hat noch nie einen ihrer Briefe an mich addressiert. Ich … ich weiß nicht wieso ich ...“
Traviane hatte ihn noch nie um Worte ringen sehen. Hilflos legte sie ihm eine Hand auf den Arm.
„Ich verstehe“, sagte sie zum zweiten Mal und legte all ihr Mitgefühl in die Worte. „Lies, es wird dich stolz machen“, forderte sie ihn auf.
Er las gründlich, als würde er jedes der Worte aufsaugen, jede noch so kleine Bemerkung darüber, wie es ihr ging, zwischendurch lächelte er stolz. Traviane konnte sich nicht vorstellen, wie unerträglich es sein musste, völlig im Dunkeln über das Wohlbefinden seines Kindes gelassen zu werden. Ricardo und Alvinia sah sie täglich, Innocencia und Doriana schrieben regelmäßig ausführliche Briefe.
Als Rahjalin fertig war, musste er sichtlich um Fassung ringen.
„Danke. Ja, du hattest Recht, ich bin wirklich stolz. Ein wenig überrascht schon, aber stolz.“
Danach verfiel er für ein paar Wimpernschläge in Schweigen.
„Dürfte ich den Brief behalten? Für eine Weile nur, versteht sich, doch ich würde gerne Auricanius von Urbet kontaktieren und ihn … nun ja, über Details ausfragen.“
Er wirkte verlegen.
Traviane strich ihm sanft über den Arm. „Er soll ein recht vernünftiger Praiosgeweihter sein, habe ich gehört. Natürlich, behalte den Brief, rede mit ihm. Du …“ Sie zögerte, die nächsten Worte auszusprechen, entschied sich dann doch dafür. „Du hast allen so sehr geholfen nach der Feuernacht, du hilfst immer allen hier so sehr. Es wird Zeit, dass sich mal jemand um dich kümmert, dass jemand mal dir hilft. Und sei es nur mit ein paar Informationen über deine Tochter.“
Überrascht sah Rahjalin seine Schwägerin an, nachdenklich. „Vielleicht hast du Recht. Es kann jedenfalls nicht schaden, ein wenig mit ihm zu plaudern, nun, da er Vertrauen in meine Tochter setzt und mehr mit ihr zu tun hat als ich.“
„So sehe ich das auch.“ Traviane nickte zufrieden und erhob sich. „Lass deinen Patienten nicht zu lange warten, ich will dich nicht aufhalten.“
Sie umarmten sich und er geleitete sie zur Tür.
„Du hältst mich nicht auf. Das hier ist mir wichtiger als alles andere.“
Noch während er es aussprach, erkannten beide die Wahrheit hinter diesen Worten.