Briefspiel:Ein Sommer in Rethis/Niedlich
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Übersicht | Prolog | Auftakt | Niedlich | Lysia | Moussaka | Heimweh |
Rethis, Sommer 1042 BF
Der Zyklopäer lächelte zufrieden. In diesem Moment begriff Alesia, dass sie sich da gerade weit unter Wert verkauft hatte und es sehr wahrscheinlich genau das gewesen war, worauf es ihr Gegenüber mit seinen Worten auch abgesehen hatte. Er stand auf und streckte ihr auffordernd die Hand entgegen, wobei er erneut wissen wollte: „Wie lange wollt Ihr bleiben?“
„Den Sommer über“, erwiderte sie seufzend und schlug ein, „den Sommer über.“
„Gut“, sein Lächeln wurde breiter. Er umfasste ihre Hand fest. Sehr fest. „Das freut mich. Das freut mich wirklich sehr. Ich bin Aerelaos.“
„Alesia“, erwiderte sie und musterte ihr Gegenüber nun ausgiebig. Er war ein hochgewachsener, wirklich gut gebauter und starker Mann mit einem festem Händedruck. Sein Haar war wie üblich für einen Zyklopäer tiefschwarz und stark gelockt. Er trug es recht kurz. Einzelne Locken fielen ihm immer wieder ins Gesicht, immer wieder strich er sie zurück. Auch hatte er die hier verbreiteten dunkelbraunen Augen. Sein Lächeln war warm und freundlich. Seine Haut etwas dunkler als die ihre. Ein stoppeliger Bart zierte seine Wangen. Und als er merkte, dass ihr Blick daran hängen blieb, ließ er ihre Hand los und strich sich instinktiv darüber.
„Wollt Ihr mir nicht...“, sie hielt einen Moment inne, „... nicht die Werft hier zeigen, Aerelaos?“
Nun war er es, der sie intensiv musterte. Langsam ließ er seinen Blick über sie gleiten. Blieb an ihren blauen Augen hängen und nickte: „Selbstredend, Alesia, selbstredend. Kommt. Ich werde Euch alles zeigen.“
Damit führte er sie durch die Werft. Erst nur durch das Gebäude, stellte ihr dort verschiedene Mitglieder seiner Familie und auch einige Arbeiter vor. Seine Familie war groß, vielleicht nicht so groß wie ihre, aber groß genug. Zwar konnte sich Alesia aufgrund ihres guten Gedächtnisses die ganzen Namen merken, doch weil sich die Zyklopäer alle recht ähnlich sahen, nicht die dazu gehörenden Gesichter. Nur eine, ja eine stach dabei heraus. Das war eine hart aussehende ältere Frau, die Alesia verbittert und abschätzend musterte. „Das ist Kalliope“, stellte er sie auf Garethi vor, „sie führt hier die Bücher.“ Die Frau nickte Alesia distanziert zu und musterte sie einen Moment etwas zu eindringlich, dann wandte sie sich auf zyklopäisch an ihren Verwandten: „Ist es wirklich notwendig, dass du nun jede deiner... Bekanntschaften hier durch die Werft deiner Familie führst? Reicht dein Schlafzimmer nicht mehr aus?“ Sie hielt einen Moment inne. „Und dann auch noch eine vom Festland! Wie sieht denn das aus, Aerelaos? Was sollen denn die Leute denken?“ Abfällig schüttelte sie den Kopf. Der Zyklopäer machte gute Miene zum bösen Spiel und erwiderte auf Garethi: „Darüber reden wir später, Tante Kalliope, darüber reden wir später.“
Er führte sie weiter durch die Werft und nachdem sie alles innerhalb des Gebäudes gesehen hatten, traten sie hinaus. Draußen zeigte er ihr die beiden in Bau befindlichen Schiffe und führte aus, was gerade für Arbeiten daran ausgeführt wurden. Alesia lauschte und beobachtete aufmerksam. Aerelaos stellte sie auch den Mitarbeitern auf der Werft vor. Er tat das auf zyklopäisch: „Das ist Signora Degano, sie wird uns hier bei Bau und Konstruktion den Sommer über unterstützen.“
„Uns unterstützen oder doch eher dir zur Hand gehen?“, lachte einer und schüttelte energisch seinen Kopf.
„Die ist doch vom Festland, was kann die denn schon für Schiffe bauen?“, fügte ein weiterer hinzu, „Belhankaner Schiffe? Karavellen und Schivonen?“
„Sollen wir fortan vielleicht Schivoneeren bauen“, frotzelte ein anderer. Ein herzliches Lachen ging durch die Anwesenden, auch ihr Gegenüber musste grinsen.
„Ach“, winkte Aerelaos ab, „sie scheint klug zu sein und durchaus das ein oder andere vom Schiffbau zu verstehen, obgleich sie sich eher mit belhankaner Schiffen auskennt. Den Rest wird sie lernen. Dafür ist sie hier. Seid also nett zu ihr.“
„Für das nett sein bist du doch zuständig“, mischte sich nun jemand ein, der ihrem Gegenüber recht ähnlich sah, aber noch etwas älter und erfahrener wirkte. Er kam zu ihnen herüber und musterte Alesia eindringlich. „Ich kann mich nicht daran erinnern, dass du mich gefragt hast, ob wir so jemanden hier gebrauchen können.“
„Sie ist Abgängerin der Universität Methumis, ihre Familie hat eine Werft in Sewamund und sie arbeitet ohne Lohn“, erwiderte Aerelaos da lächelnd, „Der Herr Praios hat es mal wieder gut mit uns gemeint.“
Da lachte der andere: „Dann sei es so. Du passt aber auf sie auf. Sie soll hier keinen Unsinn anstellen. Wir bauen zyklopäische Schiffe, dabei soll es bleiben.“ Er hielt einen Augenblick inne. „Wobei das schwierig wird ihr etwas beizubringen, wenn sie kein zyklopäisch versteht.“
„Sie“, mischte sich nun die Degano auf zyklopäisch ein, „versteht sehr gut zyklopäisch.“ Ein vielsagendes Lächeln legte sich über ihre Wangen. Abwartend ließ sie ihren Blick über die Anwesenden gleiten.
Alle schauten sie einen Moment irritiert an. Das schienen sie irgendwie nicht erwartet zu haben. Warum eigentlich nicht? Das Zyklopäisch war nun wirklich nicht sonderlich schwer zu erlernen.
„Wirklich niedlich“, kommentierte da Aerelaos unfassbar trocken, „Euer horasischer Akzent ist wirklich niedlich.“
Der andere streckte ihr die Hand entgegen. Sie schüttelte sie. „Willkommen auf der Werft der Familie Lysandros. Ich bin Laertes. Ich leite diese Werft. Aerelaos ist mein Bruder.“