Briefspiel:Das Gold der Distel
27. Travia 1046 BF, Castell della Leonis bei Nupercanti und Veliris
Autor: Amarinto
Zusammenfassung: Ariano Sal von Veliris besetzt das Castell della Leonis kampflos, nachdem Condottiere Cardolfo della Carenio mit seiner Goldenen Distel gegen eine üppige Zahlung abzieht.
Der Morgen roch nach kaltem Eisen und uraltem Groll.
Die Mauern des Castells della Leonis, auf den schroffen Felsen oberhalb der Sewakfurt gebaut, wirkten wie ein zorniger Wächter, der nie vergessen hatte, die unzähligen Kämpfe die um diese Grenze ausgefochten worden waren, das Blut das hier vergossen wurde. Der Condottiere Cardolfo della Carenio stand auf den Zinnen, den Blick nach Osten gerichtet, wo sich das Banner der Baronie Veliris im sich auflösenden Morgennebel wie ein Fleck gegen das blasse Licht der Sonne abhob. Neben ihm stand seine Tochter Marbis, das Antlitz so unbewegt wie das einer Statue, ihre Augen jedoch wachsam, rechnend – wie die eines Fuchses, der weiß, dass der nächste Schritt sein letzter sein könnte.
"Sie marschieren, als wären sie die Horaslegion", murmelte Khorena Sewakiani, Cardolfos Adjutantin, mit zusammengezogenen Brauen und Belustigung in der Stimme. Tief unter ihnen dröhnten die Trommeln, als würden sie den Boden selbst zur Kapitulation zwingen. Reihen um Reihen schwer gerüsteter Soldaten bewegten sich über die Furt. Ihre Helme glänzten, ihre Banner flatterten, ihre Waffen klirrten. Cardolfo kratzte sich den schwarzen, krausen Bart. Der Wind spielte mit dem goldenen Saum seines Waffenrocks, der das Emblem der Goldenen Distel trug: eine goldene Distel mit scharfen Dornen auf blauem Grund. Kein Zeichen für Frieden.
"Ist das Gold in Pagon hinterlegt worden?", fragte er, ohne die Augen von der Furt abzuwenden.
Marbis nickte knapp. "Ja, sogar mehr als vereinbart. Ich habe selbst mit Ariano Sal von Veliris verhandelt. Er kannte unseren Preis – und er verdoppelte ihn. Ein kluger Mann."
Ein langer, tonloser Moment verstrich. Nur das Schlagen der Trommeln blieb. Dann drehte sich der Condottiere um. "Khorena. Das Banner."
Die Adjutantin nickte knapp, ihre sonnengebräunte Haut spannte sich über die Wangenknochen, als sie sich abwandte, um den Befehl auszuführen. Kurze Zeit später wehte das Banner der Barone von Sewamund nicht mehr über den Zinnen. Stattdessen: Leere. Kein neues Zeichen – nur die Stille des Interregnums.
"Bereitet den Abmarsch vor", sprach Cardolfo, und seine Stimme war so ruhig wie ein Urteil.
Kurze Zeit später
Die Tore des Castells öffneten sich. Schwer und mit einem Ächzen, als würde der Stein selbst zögern. Dann setzte sich die Goldene Distel in Bewegung – dutzende Söldner, hartgesotten, teuer bezahlt, bereit, jeden Krieg zu beginnen oder zu beenden. Sofern der Preis stimmte.
Auf dem Weg hinaus begegneten sie den Kolonnen aus Veliris. Es war wie das Zusammentreffen zweier Flüsse: kalt und heiß, träge und reißend. Doch keiner sprach. Kein Schild stieß an Schild, kein Blick blieb zu lange haften. An der Spitze der verlirischen Truppen ritt Ariano Sal, Baronet von Veliris, in glänzendem Harnisch, das Visier seines Helms offen, der Blick geradeaus – auf das Castell della Leonis gerichtet.
Cardolfo und Marbis nickten ihm zu. Wortlos. Auch Ariano nickte. Ebenso stumm.
So ging es zu Ende, wie es begonnen hatte: Mit Geld, nicht mit Blut. Denn auch wenn das Castell kampflos fiel, war der Preis nicht nur in Münzen gezahlt worden. Sondern auch in Schweigen, Stolz und Schuld. Und Cardolfo della Carenio wusste: Das Spiel war nicht vorbei. Vielleicht gab es bald wieder Arbeit für seine Distel.