Briefspiel:Eine ruhige Travienfeier/Eklat
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Eklat
Mit dem Voranschreiten der Zeit waren weitere Gänge gekommen und gegangen, Wein wurde aus den Kellern, welche nur wenige Schritt unter den Füßen der Gäste lagen, hervorgeholt und freigiebig ausgeschenkt. Die di Asuriol nahmen offensichtlich die Gelegenheit wahr, ihr gesamtes Repertoire zur Geltung zu bringen. Sei es der kräftige Rotwein, der zum Lammfleisch im Teigmantel gereicht wurde oder der goldene, angenehm subtile Weißwein, der einen Gang von Meeresfrüchten und weißem Fisch begleitete, das Festessen war eine abwechslungsreiche Komposition von Aromen, wo selbst wählerische Esser auf ihre Kosten kamen. Sogar einige Flaschen des Excellentia ließ man öffnen und den edlen Schaumwein wurde an die wichtigeren Gäste ausschenken. Gleichzeitig mit den einzelnen Gängen traten zur Unterhaltung der Gäste Künstler auf, die die Aufmerksamkeit der Gäste fesseln und von den zahlreichen Dienern und Kellnern, die die Speisen auftrugen, ablenken sollten.
Die Dunkelheit war schließlich hereingebrochen und neben dem hellen Mondlicht einer klaren Frühlingsnacht erleuchteten zahlreiche Feuerschalen das Gelände. Das Festmahl neigte sich dem Ende zu. Als Nachspeisen waren vor kurzem salzige und süße Desserts, darunter von eingelegten Weinblättern umhüllter Weichkäse, Honiggebäck und diverse Obstpasteten mit geschlagenem Rahm serviert worden. Dazu reichten die Kellner weißen und roten Eiswein.
Die Gäste verabschiedeten gerade einen Zyklopäer, der in einem lyrischen Lobgesang über Ingerimms Flammen und Efferds Wogen seiner Heimat Ehre bereitet hatte, als Travin vortrat. Mittlerweile hatte er gegen die kühle Nachtluft des Peraine einen mit Pelz verbrämten Tappert übergeworfen. Der silberne Becher in seiner Hand reflektierte das Licht der zahlreichen Feuer. “Geehrte Gäste, es ist mir ein besonderes Vergnügen, einen aufstrebenden Künstler vorzustellen. Diesem jungen Mann, der mit geradezu zauberhaftem Talent glänzt, wird die besondere Ehre zuteil, den Abschluss dieses Mahls zu begleiten!” Einigen der Gäste mochte dieser Aufruf merkwürdig vorgekommen sein, denn bisher waren alle Künstler in Eigenregie aufgetreten und hatten keine persönliche curatio durch den Gastgeber erhalten. Doch als Travin in Richtung des Banners der Tuachall wies, wurde klar, dass dies der erste Künstler aus den Reihen der geladenen Gäste war, noch dazu ein Mitglied einer angesehenen Patrizierfamilie. “Willkommen, Sylvain Tuachall!”
Niando Tuachall schreckte hoch. Die Völlerei und der gute Wein hatten ihm die Sinne benebelt, doch bei diesem Namen war er plötzlich hellwach. Wollte Sylvain nicht nur mal schnell frische Luft schnappen? Der kecke Geck war vor einigen Monden an der Tür der Villa Carus aufgetaucht und hielt seitdem den Patriarch der Familie in Atem. Bei den Sheniloer Heldenfestspielen hatte der Jungspund etwas über die Stränge geschlagen, aber man konnte seinerzeit Schlimmeres verhindern (Niando hatte flugs einem Saalwächter ein nettes Zubrot gewährt, damit er den Barden hinaus komplimentierte, bevor er sein loses Mundwerk allzusehr zeigte). Seitdem gab es familienintern die Einigung, dass Sylvain etwaige Auftritte - gerade in höheren Kreisen - stets bei ihm, dem Patriarch, anzumelden hatte. Unterlief Sylvain einfach diese Abmachung oder gab es eine Absprache mit dem Hochzeitspaar? Entgeistert starrte der neue Familienoberste nach vorne und schloss dann kurz die Augen. Grade jetzt, wo die graue Eminenz der Familie die Geschäfte an ihn übergab… Die einzige Hoffnung war, dass der albernisch geprägte Barde es bei einigen Volksweisen beließ. Niando setzte sich wieder gerade hin und löste sein Gesicht aus den Handflächen, während der Rest der Gesellschaft bereits erwartungsvoll zu dem musikalischen Blondschopf blickte.
Sylvain Tuachall betrat grinsend die Tanzfläche. Er hatte sich erfolgreich davongestohlen, flink umgezogen und stolzierte nun in dem noblen, aber affektiert wirkenden Grangorer Puffärmel-Gewand die Reihen entlang. Fast wie ein Balletttänzer setzte er ausladend einen Fuß vor den anderen und riss mit jedem Schritt eine Saite seines Instruments an, was dem ganzen eine komödiantische Note gab. Schließlich blieb der Barde abrupt vor dem Hochzeitspaar stehen und machte eine Kunstpause - wohlwissend, dass bereits alle an seinen Lippen hingen, ohne dass er bislang ein Wort gesagt hatte. Er strich einmal über seine Laute, als würde er sich selbst eine Fanfare geben. Mit einem Räuspern blickte er zum Brautpaar. “Verehrtes Paar, geschätzte Feiernde, wir haben bereits ausgiebig die beiden glücklichen hochleben lassen - und das zurecht! Doch an einem solchen schönen Abend sollte man nicht nur im Jetzt verweilen oder nach vorne schauen, sondern auch zurück. Unsere heldenreiche Geschichte lehrt uns vieles, was auch dem Travienbund zugute kommt - so hörte ich zumindest!” Sylvain grinste schelmisch. Kurz blieb sein Blick am Tisch der Tuachalls hängen, wo dem Patriarchen wohl schon das Blut in den Adern gefror. Hätte der Alte ihm den Spaß auf den Festspielen doch besser gegönnt… Mit einem Schmunzeln im Mundwinkel fuhr der Barde fort: “Darum freut es mich ganz außerordentlich, dass mich unsere lieben Gastgeber im Gigas gehört und offensichtlich für gut empfunden haben und zum heutigen Tage um ein Lied baten, das ihnen und euch allen hiermit kredenzt sei…” Der Spielmann holte weit aus, spielte einen Akkord zur Einstimmung und klimperte dann eine gefällige Begleitmelodie, ehe er mit einem gewinnenden Lächeln zum Gesang ansetzte:
So hört, liebe Leut, die Weise des heil'gen Geron
Ihm fiel vieles leicht, doch hier mag sich mancher schwertun
Denn der strahlende Held tat, wie ihm gefällt
Sein Aug galt statt Geld nur den Damen dieser Welt
In euren Augen seh ich, ihr stellt euch eine Frage
Was will denn der Barde nun mit dieser alten Sage
zum Bund von euch zwei, da bin ich so frei
und nenne der Taten drei, womit der Held steht euch bei.
Ad primo ging der Einarm-Mann die Drachen stets von hinten an
Wenn man davon was lernen kann: Macht Euch so an die Gattin ran (und auch mal fort)
Denn was das Wesen zu oft sieht in seinem eig'nen Jagdgebiet,
das scheint ihm bald ein Störenfried, drum schlau, wer sich dem Blick entzieht!
Ref:
Der Held sei euch Vorbild, der Heilige ein Quell,
Der Liebhaber ein Leitstern, der Stecher Modell,
Liebe und Rebsaft wie Hopfen und Malz
Rahja geb's in Fülle und Travia erhalt's!
Ad secundo denkt daran, wie es läuft mit der Kraft beim Mann
Als Geron musste öfter ran, er immer länger brauchte dann
Drum liebe Gattin gebt fein acht, dass ihr auch mal schön Pause macht
aber es auch nicht arg verflacht, damit er euch weiter so anschmacht'
(und nicht nach andren Drachen tracht)
[Refrain]
Ad tertio, lieber Ehemann, nehmt das, was heute hier begann,
schmückt Travias Heim und geht voran als Rahjas Held, nie als Tyrann
Seid Geron gleich als Herr stets fein, zur Dame gut, zum Feind gemein
[vergnügt & scheinbar verlegen murmelnd] in beide stach er gerne rein, doch von mir soll's das jetzt sein
[Refrain]
Zum Schluss sei euch noch schnell bericht'
was die Moral von der Geschicht:
Wer zu viel in der Fremde weilt
den bald ein schweres Los ereilt
denn unser größter Lebemann
sah Shenilo schnell von unten an
Um solch Schicksal nicht zu haben
und euch an Rahjas Schoß zu laben
seid wie Geron, nur halt treuer
mit Sulvas Glanz und Levthans Feuer
Furios strich Sylvain beim Schlussakkord über die Saiten und ging in einer flüssigen Bewegung zur Verneigung vor dem Hochzeitspaar über. Mit einem grinsenden Nicken zu mehreren jungen Damen und Herren vergewisserte er sich, mit seinen spitzen Zoten den Ton getroffen zu haben, nicht ohne eine gewisse Würze ins Abendprogramm zu bringen. Zufrieden über seinen Auftritt breitete er nochmals die Arme aus, dankte abermals überschwänglich dem Brautpaar und schritt dann mit leichten Verbeugungen nach links und rechts die Reihen entlang, bis ihn der erste Gesprächspartner abfing.
Selbst als der letzte Akkord schon einige Sekunden verklungen war und allenthalben johlender und feixender Applaus aufbrandete, starrte Niando Tuachall mit finsterer Miene nach vorne zu seinem neuen Verwandten, der mit seinem Ständchen fast beiläufig den Heiligen der Lächerlichkeit preisgab. Jegliche Worte des Protests waren ihm im Halse stecken geblieben, wohlwissend oder furchtvoll ahnend, was folgen würde, doch das Brautpaar hatte sich die Einlage von Sylvain “Goldklang” ja gewünscht. Erbost pfefferte er seine Serviette auf den Teller und führte tief einschnaufend den schweren Roten zum Mund. Der Blick in die Runde offenbarte ihm neben der amüsierten Jugend ebenfalls einige offenstehende Münder der älteren Generation, die es mit der Ehre der Helden und der Mutter Travia noch ernst nahm. Auch sie starrten gerade noch ungläubig in Richtung des Barden, wohl ebenso unschlüssig, wie darauf öffentlich zu reagieren sei. Niando hoffte und bangte, dass ihr Urteil über Sylvains Affront nicht den Ruf der Familie beschmutzen würde (und natürlich würde er in diesem Fall dafür Sorge tragen, dass es allein Sylvain beträfe) und dass die fröhliche Stimmung die dunklen Wolken vertreibe. Er wandte kurz den Blick nach oben für ein Stoßgebet zu den Zwölfen, bat inständig Travia um Verzeihung und musterte dann wieder die Gesichter der feinen Damen und Herren.
“Bravo. Wahrlich ein Meisterwerk zeitgenössischen Liedguts.", rief Tamino ap Thergourian in den Raum und um seine Worte zu festigen, stand er demonstrativ auf und klatschte laut Beifall. Dabei konnte man sehen, dass er wohl schon etwas Wein genossen hatte, klang seine Stimme doch etwas belegt und er schwankte auch leicht.
Sein Vater Phorgos lief im Gesicht rot an, konnte sich aber gerade noch beherrschen, während seine Mutter beschämt den Blick abwendete.
Feodora ya Pirras stand ebenfalls auf, lange nicht so enthusiastisch wie ihr Gatte, aber auch sie spendete leise Applaus. “Eine interessante Sichtweise, fürwahr. Aber nun setz dich wieder. Der junge Künstler wird ja völlig erschlagen von deiner Begeisterung.” Sanft legte sie ihre Hand auf seine Schulter und drückte diese. Erst vorsichtig, aber dann mit Nachdruck. Widerwillig ließ sich Tamino auf seinen Stuhl fallen. Feodora blickte entschuldigend in die Runde, behielt aber ihr Lächeln bei . “Was habe ich dir auf der Fahrt hierhin gesagt?”, flüsterte sie Tamino zu, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. “Halt dich zurück und fröne Rahja nicht übermäßig. Aber nein, der feine Herr schlägt wieder über die Stränge. Du bist und bleibst eine Schande für die Familie.” “Was erlaubst du …..”, wollte Tamino aufbegehren, aber ein Blick seines Vater brachte ihn zum Verstummen. “Du hörst besser auf deine Frau, Sohn.”, war das einzige, was er dazu sagte.
“Vielleicht solltest du dich zurückziehen, solange du es noch kannst. Zumindest laufend.” Taminos Antwort war einfach. Er griff nach der Karaffe mit dem Wein und schenkte sich nach. Feodora ergriff den Arm mit dem Weinbecher und hielt ihn eisern fest. “Es reicht wirklich.”, flüsterte sie leise und nur für Taminos Ohren verständlich. “Du hast mir nicht zu sagen, was ich zu tun und zu lassen habe.”, schrie Tamino und riss sich los. Dabei kippte der gefüllte Becher und der Wein ergoss sich über den Tisch und traf auch Feodoras Kleid und Gesicht.
Danach ging alles ganz schnell. Tamino stand auf und erhob seine Hand, als sich von der Seite ein Schatten näherte und sich zwischen ihn und seine Frau stellte. Der kalte Stahl eines Dolches lang an der Kehle Taminos, bereit jederzeit einen kurzen Schnitt durchzuführen, geführt von Sefira saba Karim. Die persönliche Leibwächterin Feodoras stand wie eine Statue zwischen den Eheleuten, bereit jeden Befehl ihrer Herrin auszuführen.
Während ein junger Bursche, der zunächst hinzugeeilt war, um zumindest einen Großteil des weißen Tischtuchs vor roten Flecken zu bewahren und Signora ya Pirras ein sauberes Tuch zu reichen, mit dem sie den Wein zumindest von ihrem Gesicht entfernen konnte, fielen auch an einem anderen Tisch mehrere Becher um. Taminos lautstarker Ausdruck des Missfallens gegenüber Feodora hatte unter anderem auch Athaon di Asuriols Aufmerksamkeit erregt. Als dieser sah, wie Tamino die Hand gegen seine Frau erhoben hatte, war auch er aufgesprungen, hatte dabei die Tafel, an der er gesessen hatte, beinahe umgeworfen und das Kriegsmesser gegriffen, das in seiner Scheide an Athaons Stuhl gelehnt hatte. Danach war er, dem man sonst in so vielen Belangen des Lebens Trägheit nachsagte, weit ausschreitend zur Tafel derer ya Pirras und ap Thergourian geeilt. Dort angekommen, stieß er den Knaben zur Seite, der seit Sefira ihren Dolch gezogen hatte, erschreckend bleich geworden war. “Ich bitte Euch, in aller Götter Namen, steckt Euer Messer wieder weg. Der Herr ap Thergourian steht, so wie Ihr auch, der uralten Tradition des Gastrechts folgend, unter dem Schutz des Gastgebers, das heißt auch: unter meinem. Ich sehe, dass Ihr allein eure Pflicht tut. Falls ihr aber nicht aufhört, unsere Gäste zu bedrohen, damit das Gastrecht zu missachten und Travia zu freveln, bleibt mir nichts anderes, als die meine zu tun.” Mit diesen Worten legte er die Rechte um das Heft des langen Säbels, den er bisher in der Scheide unter dem kurzen Mantel gehalten hatte, der über seiner Schulter hing. Die Sehnen seiner Finger spannten sich, als sie den Griff der langen Waffe umfassten. “Ich würde ein Blutvergießen auf der Travienfeier meiner Schwester gern vermeiden”, zischte er. “Falls Ihr es beginnt, zwingt Ihr mich, es zu beenden.”
Feodora legte ihre Hand auf den Arm Sefiras und diese ließ den Dolch sinken, um ihn dann wieder unterhalb ihres Handgelenks verschwinden zu lassen. Danach entfernte sie sich ein paar Schritte, hielt aber Tamino und Athaon im Auge. Tamino hatte seine Augen schreckgeweitet aufgerissen. Sein Atem ging schwer. Feodora schaute ihm tief in die Augen. “Geh jetzt auf unser Zimmer.” Tamino nickte nur. Schwerfällig drehte er sich um und verließ die Szenerie. Feodora wandte sich danach den Gästen zu. "Hochverehrter Signor Athaon, gesegnetes Brautpaar, werte Gäste. Ihr seht mich zutiefst beschämt aufgrund dieses unendschuldbaren Affronts, dessen Zeugen ihr allesamt wart. Weder sollte die traviagefällige Gastfreundschaft missachtet noch Blut vergossen werden. Ich kann mich nur dafür entschuldigen und alle Anwesenden um Verzeihung bitten. Wir werden morgen, sobald die Praiosscheibe den Horizont berührt Euer Heim verlassen und im Donatorienkloster um die Vergebung der gültigen Mutter bitten.”
“Das kam überraschend”, flüsterte Rondriana ihrem Vater zu. Orsino nickte nachdenklich. Rondriana sah ihm an, dass er darüber nachdachte, was dieser Eklat für Folgen nach sich ziehen konnte. Und im welchem Zusammenhang. Sowohl die Ehe schien nicht gerade harmonisch zu verlaufen. Vielleicht würde man versuchen, alles auf den ungezogenen Barden zu schieben, aber Familie blieb Familie und dazu müssten immer auch die Eltern des Brautpaares bereit sein. In jedem Fall könnte dies unangenehm werden. Und Rondriana wusste, dass Orsino derzeit viel Wert darauf legte, Streit innerhalb Shenilos zu vermeiden. Es braute sich etwas Politisches zusammen und da wären innere Geschlossenheit und Frieden wichtig. Aber dies alles hatte nicht nur eine politische Seite. “Das kommt davon, wenn man Geron auf eine solch unpassend, und wie ich natürlich hinzufügen möchte und kann, völlig unpassende Weise darstellt. Wie einen von Levthan gerittenen einhändigen Floretti.” Das war er sicher nicht, auch wenn sie selbst zu wissen glaubt, dass der Held auch ein Mensch war, ein Mensch und ein Mann. Sicherlich hatte er sein Tage nicht allein damit verbracht, Monster zu finden und zu erschlagen und sich anschließend den Dank der Geretteten in rondragefälliger Demut anzuhören. Sie überlegte kurz, sich entsprechend einzumischen, aber die Reaktion großer Teile des Publikums, Jugend und Wein taten wie immer zuverlässig ihr Werk, deuteten stark darauf hin, dass ihre Expertise weder sonderlich gefragt sei, noch hilfreich. Das Kind war bereits den Brunnen hinab gestürzt, ein Hinweis darauf, dass man es nicht hätte auf dem Brunnenrand Purzelbäume schlagen lassen dürfen, würde bestenfalls ignoriert.
Von Aurelias Standpunkt aus konnte die Situation kaum schlimmer aussehen: auf ihrer eigenen Hochzeit war in Anwesenheit einiger der wichtigsten Gesichter Shenilos der Name Gerons auf lästerliche Weise verunglimpft worden, innerhalb der Schar der Gäste hatte bereits ein Tuscheln und Flüstern begonnen und ihr Bruder hatte nichts besseres zu tun, als über die herrschaftliche Tafel hinwegzusetzen, als wolle er eine Kneipenschlägerei anfangen.
Die meisten Anwesenden schienen sich an Sylvain Tuachall sattgesehen zu haben, als dieser seinen Auftritt beendet hatte und blickten stattdessen auf den Sohn des Gastgebers, als dieser höchstpersönlich und mit griffbereitem Säbel über die freie Fläche geeilt war. Die lauten Rufe Taminos, der Anblick eines gezückten Dolches und die direkte Konfrontation hatten alle den Atem anhalten lassen. - Doch nun, als die letzten Akkorde vom Instrument des Barden längst verhallt waren und das blitzende Messer seit einigen Augenblicken verschwunden war, schien es, als sei ein Bann vom Publikum genommen worden. Einige hatten den Bruch der Festordnung zum Anlass genommen, ihre bisher höchstens geflüsterten Meinungsäußerungen deutlich lauter kund zu tun. Auf einer Tribüne entlud sich die Anspannung in einem Streitgespräch zwischen zwei Altmeistern der Rebleute. Sogleich bildete sich eine immer dichter drängende Menschentraube, in der es langsam zu brodeln begann.
Aurelia blickte zu der Stelle am Tisch der Therguorian und ya Pirras, wo bis vor kurzem noch ihr Bruder gestanden und der Leibwächterin Feodoras die Stirn geboten hatte. Dort lag jedoch nur der Mantel im Staub, den Athaon über der Schulter getragen hatte. Der Träger selbst war verschwunden. Lediglich das Aufblitzen des goldenen Ortblechs der Säbelscheide verriet, dass er soeben von der Menge um den Baldachin der Innung der Rebleute verschluckt worden war. Die Erkenntnis, dass ihr Athaon gerade zum zweiten Mal seinen Hals riskierte, riss Aurelia aus ihrer Starre. Sie sprang von ihrem Stuhl auf und rief einige Befehle zu den Trabanten, die den Tisch ihrer eigenen Familie flankiert hatten. Daraufhin preschten sechs Gerüstete durch den Korridor. Vorbei an den Tafeln des Patriziats und hinein in eine Menge aus johlenden Handwerkern. Diese wurden mit Hellebardenschäften grob zur Seite gestoßen und eine Gasse wurde mit den hölzernen Stangen freigehauen. Rufe des Missfallens prasselten daraufhin auf die Gerüsteten ein, die äußerst unsanft zum Kern des Geschehens vordrangen. An der Stelle, wo ursprüngliche der Streit zwischen zwei Meistern ausgebrochen war, rangen nunmehr sieben Frauen und Männer miteinander. Unter diesen war auch Athaon selbst. Zwei der beteiligten Personen flossen dünne Rinnsale aus Blut über Mund und Kinn, andere trugen Schrammen davon. Das zur Schlägerei eskalierte Streitgespräch wurde durch das plötzliche Eintreffen der Trabanten der di Asuriol beendet. Als die Streithähne von Armen, die in Panzerhemden statt feinen Zwirn gehüllt waren, auseinandergerissen und in unterschiedliche Richtungen gestoßen wurden, kühlten die Gemüter jedoch nur wenig ab. “Frieden! Erklärt euch!” Der schrille, vor Aufregung gebrochene Ruf Aurelia di Asuriols rief die Streitenden und das pöbelnde Publikum schließlich zur Ordnung. Gefasster fuhr Travin selbst fort: “Euer Benehmen ist eine offene Beleidigung der Gastfreundschaft, und damit eine Beleidigung gegenüber mir selbst, eurem Gastgeber. Was ist der Grund hierfür?” Die Stille, die einige Augenblicke andauerte, wurde schließlich von einer Altmeisterin der Rebleute gebrochen: “Auf eurem Grund und Boden werden lästerliche Worte über Geron den Einhändigen gesprochen. Ihr selbst hattet diesen ‘Barden’ “ - nach diesem Wort spuckte sie einige Tropfen Blut in Staub - “sogar persönlich hervorgehoben und empfohlen, Travin.” “Ich werden mit dem jungen Sylvain Tuachall ein persönliches Gespräch über seine Äußerungen über den Heiligen Geron führen, seid euch da gewiss. Er hat mir im Vornherein zugesichert, dass seine Lobeshymne auf den Schutzheiligen unserer Stadt von dessen sieben Heldentaten handeln solle. Mit keinem Wort -” Weiter kam Travin nicht, denn erneut brachen Rufe des Missfallens los. “Pax! Frieden!” Aurelia, die ihre Fassung zurückgewonnen hatte, ergriff das Wort. “Nichts davon gibt Euch Recht, den Frieden derart zu stören. Ihr werdet die Gastfreundschaft meiner Familie nicht weiter beleidigen, solange Ihr euch, wie Ihr selbst bemerkt habt, auf unserem Grund und Boden aufhaltet. Zieht Euch zurück! Nehmt Eure Gesellen mit und verhaltet Euch ruhig und gesittet.” “Ruhig und gesittet? Ihr redet von Gastfreundschaft, von den Geboten der Frau Travia. Dabei war es doch Euer Bruder, Aurelia, Euer Sohn, Signor di Asuriol, der die guten Sitten gestört hat. Das Streitgespräch wurde durch seine Unverfrorenheit zur Schlägerei, als er -” Diesmal schnitt Travin seinem Gegenüber das Wort ab: “Es tut nichts zur Sache, wer wem zuerst Unrecht getan hat. Kein Unrecht rechtfertigt ein anderes Unrecht. Tut jetzt, wie Euch geheißen. Das Verhalten meines Sohns ist Angelegenheit der Familie. ” Als er über seinen Sohn sprach, blickte Travin diesen eindringlich an. Athaon hatte die Arme vor der Brust verschränkt und blickte stur geradeaus. Obwohl sein Ausdruck soldatische Disziplin und Gleichgültigkeit ausdrücken sollte, wurde Athaon durch die angespannten Kiefermuskeln und blutigen Fingerknöchel verraten, sodass er eher wie ein trotziger Bauernbursche wirkte. Die Handwerker schienen sich mit dieser Erklärung zufrieden zu geben, denn nach und nach zogen sich diese tatsächlich zurück. Als letztes verließen schließlich auch die Meister und Altmeister das Festgelände. Bei deren Abschied waren unter einigen steifen “Die Zwölf mit Euch” noch gemurmelte Worte zu hören, aus denen sich die allgemeine Unzufriedenheit mit dem Ausgang der Situation heraushören ließ.
“Signori! Freunde!”, Aurelias Stimme verklang laut zwischen den Baldachinen der Patrizier. Bevor sie fortfuhr, nahm sie einen Schluck aus ihrem Becher und wartete einen Augenblick, bis die Aufmerksamkeit auf ihr ruhte. “Ich möchte Euch wegen dieses unsittlichen Zwischenfalls um Eure Vergebung bitten. Die Grenzen des guten Geschmacks und der althergebrachten Sitten wurden wahrhaftig verletzt. Ich versichere Euch, dass die Äußerungen des Barden Tuachall nicht den Ansichten derer di Asuriol entspricht. Uns wurde von ihm zugesichert, dass er das Publikum und den Anlass respektieren und nur den Göttern gefällige Verse über seine Lippen kommen würden. Als kleine, wenn auch wenig verhältnismäßige Entschädigung für den Unfrieden und die eklatanten Verstöße gegen die guten Sitten sollen nun, als kleine Aufmerksamkeit der Familien di Asuriol und di Ulfaran, einige weitere Flaschen des Traviana Divina geöffnet und ausgeschenkt werden, auf dass wir den Tag in Harmonie ausklingen lassen können.”