Briefspiel:Rebenblut (6)
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Wie Eis und Feuer
15. Travia, tagsüber
Den Spazierstock in der Armbeuge, in einen starren Brokatmantel gehüllt und in schwarzen Stulpenstiefeln steckend fühlte sich Rahdrigo bereit für einen kleinen Bummel durch Urbasi, der ihm den nötigen freien Schädel verschaffen sollte, den er für die anstehende Festivität dringend benötigte. Der Bart lag frisch getrimmt über dem Doppelkinn und auf den Wangen glänzte stumpf ein Hauch von Puder, der die unerwünschten Unreinheiten katschierte. Seine Beinkleider strahlten in hellstem Weiß, als Datames das doppelflügelige Portal schwungvoll aufhebelte und der Strahl des jungen Tages den edlen Kaufmann umfing. Er tat den ersten Schritt ins Freie und ein energetisches Prickeln fuhr durch seinen Körper, so vollends von der frischen, reinen Luft umgeben. Kaum war er einen Schritt gegangen, in Freude über diesen schönen Tag, da huschte ein Schatten der Vorahnung über seine Miene.
Ganz am Ende der leeren Prachtstraße war eine Gestalt erschienen, die sich mit jedem verstreichenden Augenblick beständig vergrößerte. Eine Pracht trug diese Person, die sie unverkennbar als Diener der Rahja auswies und Rahdrigos Schläfen zum explodieren brachte. Es konnte doch nicht …! Die schlimmste Befürchtung wurde bitterste Erkenntnis. Rahjalin war tatsächlich gekommen.
Das Haar zu strenger Kürze zurückgeschnitten, das Gesicht glattrasiert, das bleiche Antlitz starr wie eine Totenmaske. Fasst hätte man diese Erscheinung für ein höheres Wesen halten können, doch Rahdrigo sah sie eher als Heimsuchung der schlimmsten Sorte. Seine Augenlider flackerten und kurz musste er blinzeln. Donnernde Streitwagen schienen in seinem Kopf um die Wette zu jagen und brachten ihm übelste Pein bei. Doch als sich sein verfluchter Bruder noch weiter näherte rief er sich zur Ordnung. Kerzengerade streckte er seine Wirbelsäule durch und drückte die Brust nach vorne; ins Angesicht zauberte er eine herrschaftliche Miene!
Schon war sein Rahjalin heran. Seltsam leise waren seine Bewegungen, ein wenig sphärisch vielleicht. Rahdrigo würde jedoch der Felsen sein. Beide schwiegen, der eine stehend, der andere nahezu schwebend. Beide musterten sich geringschätzig, gleichzeitig lauernd.
„Was für eine Ehre Euer geschätztes Dasein endlich wieder genießen zu dürfen, nachdem Ihro Heiligkeit solch lange Tage als verschollen angesehen werden musste“, Rahdrigo wollte seinen Bruder provozieren, ihn aber zur Gegenrede auffordern.
Dieser überging die falsche Begrüßung mit disziplinierter Ignoranz, hob jetzt aber selbst zum Sprechen an: „Lasst uns doch endlich einmal auf vernünftige Weise einen Dialog führen, oder ist dieses in Eurer Welt der Kabale nicht durchführbar.“
„Wie könnt Ihr mir mit Vernunft kommen“, knurrte Rahdrigo wutentbrannt, „wo doch Euer ganzes Wesen ganz der Narretei und dem Mummenschanz eingenommen wird. Ginge es nach Eurer verquerer Vorstellung, so würde jedes Geschäft zu Grunde gehen und alles bestände nur noch aus liebestoller Rauferei. Es gibt ein Weltengefüge, das unberührbar gleich unserer Götter ist. Ihr jedoch wollt dieses nicht einsehen und flüchtet Euch in Euren Traum von Liebe und Gerechtigkeit. Ich fordere Euch zum letzten Mal auf: Öffnet die Augen und erkennt!“
Blitze stoben aus den dunklen Höhlen des Patriziers und bohrten sich in die seines Bruders.
Dieser wirkte jedoch voller gelassener Bestimmtheit, als er sprach: „Alles, was aus Eurem Mund sprudelt ist Gift, das jedoch nur Euch selbst vergiften kann. Ihr sinkt tief herab, indem Ihr die Welt nur nach Eurer Profitgier hin ausrichtet. Ihr sprecht wider die göttliche Sphäre! Tut auf die dunklen Kammern Eurer Seele und lasst ausfahren den bösen Geist, der Euch zerfrisst.“
Mit einem Satz sprang Rahdrigo seinem Bruder entgegen, kaum hatte dieser zu Ende gesprochen, und schüttelte ihn unsanft: „Schweig endlich! Hör endlich mit diesen gedrechselten Götterlitaneien auf!!! Was habe ich von Euch verlangt, dass Ihr mir solche Vorwürfe macht. Eine Gattin solltet Ihr Euch suchen und Ihr macht ein Sakrileg daraus. Euch einen Ratschlag geben wollte ich und Ihr stranguliert mich mit den heiligen Worten Rahjas!!!“
Seine Haut war quastenrot und dicke Adern pulsierten unter seiner talgigen Haut. Schütteln wollte er seinen Bruder, würgen, zum schweigen bringen. Rasselnd ging jeder Atemzug.
Rahjalin wollte sich aus dem Griff des Bruders winden, doch dieser hielt ihn weiter fest: „Ein Weib sollst du mir finden!!! Geschäftsmann sollst du sein. Familienoberhaupt!!!“
Speichel lief ihm über den Bart! Die Röte im Gesicht nahm noch zu, die Stimme überschlug sich. Klang tief drohend, dann wieder hysterisch schrill. Neben dem Schweiß schienen es auch Tränen zu sein, die ihren Weg über das gedunsene Gesicht suchten.
Rahjalin fühlte sich wie von Ingerimm selbst in die Mangel genommen. Sah sich vor einer lodernden Flamme stehen, die alles zu verbrennen drohte und … verstand. Verstand seine Schwester, verstand sein Fehldenken, kam zu der Erkenntnis, dass …
Rahdrigo begann zu röcheln und der Druck der Hände lockerte sich. Mit blauem Gesicht stolperte er zurück, strauchelte, fiel. Der Spazierstock rutschte aus der Armbeuge und rollte davon. Rahjalin eilte zu seinem Bruder, der flach auf dem rauen Pflasterstein lag, die Augen dem Himmel zugewendet.
Das Eis in Rahjalin brach: Er schrie, er schrie; Er schrie nach Hilfe und schrie gegen den Himmel …