Briefspiel:Rebenblut (7)
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Ist er tot?
Autor: Gonfaloniere
„Monsignor.“
„Praios zum Gruß!“
„Ehrwürden.“
„Verzeiht, Monsignor.“
Die Ehrbezeugungen der Popoli galten Auricanius, dem Praios-Geweihten aus dem Haus Urbet, der sie gleichwohl nur noch am Rande wahrnahm. Er nickte in geübter Manier, bei jedem weiteren Gesicht, das seinen Weg durch die Stadt querte. Kaum ein Urbasier wagte es, ihn nicht zu grüßen, wenn er ihn passierte. Doch Auricanius war mit seinen Gedanken ganz woanders. Dass die Hälfte der Popoli ihn falsch ansprach, als Hochgeweihten, der er nicht war, kümmerte ihn ohnehin schon lange nicht mehr. Sie würden’s wohl sowieso erst lernen, wenn er endlich einer war …
Nein, Auricanius nutzte seine ‘Spaziergänge’, wie er sie gerne nannte, vom Kloster zum Magistratspalast vor allem, wo ihn ‘seine’ Amtsgeschäfte als Priore pecunis häufig genug in Beschlag nahmen, viel lieber um seine Gedanken schweifen zu lassen. Gedanken, die seit der Feuernacht häufig düster waren, in die sich immer wieder aber auch eine trotzige Heiterkeit mischte. ‘Was nützt es zu verzagen’, rief er sich dann immer wieder ins Gedächtnis, ‘die Welt bietet soviel Schönes, das unsere Würdigung verdient …’ Und diesmal war es, so unwahrscheinlich es ihm selbst erscheinen musste, das Wetter!
Das Praiosmal stand hoch am Himmel über der Silberstadt, schickte in diesen Herbsttagen seine wärmenden Strahlen wie zur Wiedergutmachung überreichlich auf die Hügel und Berge des Aurelats herab, die es in einem verregneten, von Trauer getragenen Spätsommer so kläglich im Stich gelassen hatte. Nun nicht mehr, schien es sagen zu wollen.
„Dein Diener bin ich“, murmelte Auricanius fast überschwänglich, als er das alte Inquisitionstor im Südwesten der Oberstadt passierte, jene Stelle, die das erhabene Magistralia vom farbenfrohen Sikramargino schied. Kurz überlegte er, welchen Weg er weiter einschlagen sollte: den nördlichen zum Gonfalonieregarten, den östlichen am Salsavûr-Palast vorbei oder die vor ihm liegende Treppe zum Agendayo-Platz hinauf? „Himmelwärts ich schreiten will, dir entgegen …“, fiel ihm die Entscheidung nicht schwer. Und so stapfte er die Treppe hoch.
Doch was war das? Ein Schrei durchbrach die heitere Stimmung des Praioten, so plötzlich, dass dieser regelrecht zusammenschrak und um sein Gleichgewicht ringen musste, wollte er die Treppe nicht rückwärts polternd wieder hinunter fallen. ‘Wer schreit? Wo? Warum?’ Sein Gehirn fing kurz darauf wieder zu arbeiten an. ‘Das kommt von oben’, war er sich rasch sicher und nahm die noch ausstehenden Treppenstufen bis zum Platz im Eiltempo. ‘Das ist eine Männerstimme, aber eine recht hell klingende’, setzte er das Puzzle weiter zusammen. Und als er endlich über den Platz blicken konnte, beantwortete sich auch die letzte Frage: ‘Da liegt jemand zusammengesackt auf dem Boden, direkt zwischen dem Arbiato- und dem Solivino-Palast …’
Nun rannte Auricanius, dem Zusammengesackten und den bereits bei diesem befindlichen Personen entgegen. Er erkannte Rahjalin, den Hochgeweihten der Rahja, mit schmerzverzerrtem Gesicht – einem Gesicht, das er vielfach zuletzt während der Feuernacht gesehen hatte, unter denen, die ihre Angehörigen verloren hatten … Ein Schwall düsterer Gedanken flutete sein Gehirn. Dann erkannte er, dass der Zusammengesackte niemand geringerer als Rahdrigo Solivino war, der Patriarch der Familie!
Auricanius schossen immer mehr Gedanken durch den Kopf, doch einer besonders – und ehe er sich selbst zurückhalten konnte, formulierte er ihn aus: “Ist er tot?”
Autor: Dunkelklinge
Rahjalin fühlte sich wie in einen Alptraum versetzt. Verzweifelt blickte er auf den leblosen Körper vor ihm auf dem Boden. Klar umrissen erschien ihm jedes einzelne Barthaar, das aus der dunkelblau angelaufenen Haut Rahdrigos spross, und jede Schweißperle war groß und eindringlich wie unter dem Lupenglas betrachtet. In den Ohren des schlanken Mannes rauschte das Blut und verdrängte jeden anderen Laut. Die Welt schrumpfte rapide zusammen und schwarze Ränder flackerten in den Winkeln seines Sichtfeldes. Keinen Finger konnte er rühren und die Lähmung seines Körpers zwang ihn in die Rolle des machtlosen Zuschauers. Das Erdreich unter seinen Sohlen verlor an Konsistenz, bröckelte und ächzte unter seinem Gewicht. Rahjalin fiel in eine Grube aus Dunkelheit in der nur noch ein Grablicht flackerte, in deren Kegel die massige Gestalt seines Bruders lag. Er schrie stimmlos, denn alles Geräusch wurde vom endlosen Strudel der Finsternis verschlungen. Er wusste, dass dies das Ende war.
„Ist er tot?“, drang es mit plötzlicher Macht an sein Ohr heran. Rahjalin stand wieder auf festem Grund. Tageslicht umgab ihn und zeigte ihm an, dass er ins Diesseits zurückgekehrt war.
'Woher war diese Frage gekommen?'
Verwirrt wendete er den Kopf, blickte direkt in die sorgenvolle Miene eines wohlbekannten Mannes.
„Ihr seid es, Auricanius. Ihr fragtet ob er tot ist und ich kann Euch nicht sagen“, salzige Tränen benetzten seine Zungenspitze, während er die Worte hervorpresste, „ihr seid doch hier um zu helfen?! Sagt mir, dass ihr deswegen gekommen seid. Lasst ihn nicht gegangen sein! Lasst ihn wieder atmen!“
Er war auf die Knie gegangen und strich durch die langen, schwarzen Strähnen Rahdrigos.
„Seht Ihr seine Miene?“, er berührte die verzerrten Lippen des Bruders, „Ihr wisst was mit Menschen passiert, die im Zorn auf die Götter hingeschieden sind? … Sie werden niemals zu wirklicher Ruhe kommen und ihre Astralleiber erwartet ein strenges Gericht! Wird es ihm auf diese Weise ergehen!“ Geradezu flehend wendete er seinen Blick zu Auricanius ...