Chronik Ramaúds/Stapellauf/Efferdtempel
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Im Efferdtempel
Den Tempel von Wind und Wogen hatte Alesia bei ihrer neuerlichen Anfahrt über das Meer nur durch den Morgendunst gesehen. Aus unmittelbarer Nähe wirkte das Bauwerk mit seinen zyklopischen Dimensionen noch beeindruckender: Das teils bis ins Meer hinein ragende Hauptgebäude mit dem von steinernen Quadersäule getragenen Giebeldach war für eine Kleinstadt wie Ramaúd riesig. Es wirkte, als ob es schon immer hier gestanden habe, der Stein den Jahrhunderten oder gar Jahrtausenden glatt poliert, und aus einer Zeit, als ein Tempel stets das erste und größte Gebäude einer neuen Siedlung gewesen war.
Der blondlockige Herold Poldoron war den beiden Frauen bei ihrem kurzen Fußweg von der Werft zur nächsten Bucht vorangeschritten, an der der Tempel stand. Er hatte mit enthusiastischer Stimme Details zu einigen der Gebäude entlang der Strecke erzählt - und Alesia hatte nur halb zugehört. Zu stark war ihre Sorge wegen der möglichen Gefahr für das jungfräuliche Schiff.
Jetzt merkte sie, dass der junge Mann seine Erläuterungen zum Tempel beendet hatte und sie erwartungsvoll anblickte. Rahjadas Stimme beendete das Schweigen, ehe es peinlich werden kann: „Ja, Vetter Poldoron, bitte melde uns an. Ich bin sicher, dass Hochwürden Helaya Wert darauf legt, uns persönlich zu empfangen... was keinesfalls notwendig wäre“, fügte sie fast entschuldigend halblaut an, als Poldoron bereits die ersten Stufen der flachen, breiten, ausgetretenen Treppe hinaufgeeilt war. „Aber Ihr seid ja auch dabei, Meisterin Degano“, fuhr sie fort. „Und Ihr habt wirklich eine für die Vorsteherin des Efferdtempels bedeutsame Funktion.“
Das Tempelinnere bestand im wesentlichen aus einer einzigen Halle und war von einem diffusen, blau-grünen Licht erfüllt. Dieses drang durch ungezählte kleine, mit farbigem Glas gefüllte Öffnungen in den Wänden, die den Umrissen verschiedener Meerestiere nachempfunden waren.
In der Mitte der Halle befand sich ein wassergefülltes Bassin, dessen Dimensionen in Sewamund dem größten Badehaus zur Ehre gereicht hätten. Das muschelförmige Becken war mit einem prächtigen Mosaik im altbosparanischen Stil ausgelegt. viele Schritt über ihm war eine große Öffnung im Dach, durch welche man dahineilende Wolkenschiffe sehen konnte. Ihre Umfassung wies eine Kupferrinne mit einer Reihe direkt über das Bassin ragender Rohre auf, aus denen bei Regen frisches Wasser herabfließen würde. Ein leichter Luftzug kräuselte die Wasseroberfläche.
Am Rande des Bassins erwartete großgewachsene, etwas füllige Frau mittleren Alters die beiden Damen und ihren Begleiter. Ihr von grauen Strähnen durchzogenen, braunen Haare hatte sie zu einer aufwändigen Turmfrisur hochgesteckt und mit einem silbernen Diadem in Muschelornamentik gekrönt.
Während die drei sich der Geweihten näherten, fielen Alesia Zeichen des Alters an dem Tempel auf: Risse, in denen Wasser stand, durchzogen manche der von zahllosen Füßen glattgeschliffenen Bodenplatten; von der silbernen, lebensgroßen Delfinstatue auf einem Altar an der Seite der Halle hatte auch emsiges Polieren nicht alle schwarzen Spuren des Anlaufens getilgt; einige der langen Bilderteppiche an den Wänden wirkten verschlissen und waren unten ausgefranst. Ihre Aufmerksamkeit wurde durch die volltönende Stimme zurück auf die ältere Frau gelenkt: „Helaya, die Bewahrerin, heißt die Baronin ya Ramaúd und deren Begleiter im Tempel von Wind und Wogen willkommen!“, deklamierte sie geradezu, als Alesia und Rahjada den Rand des Beckens erreichten. „Welcher gute Wind des Herrn hat Euch hierher geführt, und was ist Euer Begehr?“ Rahjada gab Meisterin Degano ein Zeichen zu antworten.
„Efferd zum Gruße, Hochwürden Helaya.“, grüßte die Degano voller Ehrfurcht und Respekt. „Es ehrt mich sehr, Eure Bekanntschaft zu machen, Euer Hochwürden. Ich bin Alesia Degano, Werftleiterin der Deganowerft in Sewamund und hierher angereist, um beim Stapellauf der Rahjalina auf den Wellen, an deren Bau die Familie Degano beteiligt ist, dabei zu sein.“
Sie machte eine kurze Pause: „Doch sowohl Signora re Kust als auch mich selbst treibt die Sorge um, weswegen wir es für ratsam hielten, den Tempel des Herrn Efferd aufzusuchen, um ihn um Milde und Schutz zu bitten, denn bereits schon einmal wurde ein hinterhältiger Anschlag auf die Karavelle verübt und der Täter bisher nicht gefasst und welch besseren Zeitpunkt gäbe es, erneut zu versuchen, jenes Schiff niederzubrennen als jetzt, da es nur noch auf den Stapellauf wartet und der anzurichtende Schaden wohl kaum größer sein könnte?“
Bei der Erwähnung der Rahjalina leuchteten die nebelgrauen Augen der Geweihten auf, nur um bei der Erinnerung an deren vereitelte Zerstörung ins Sorgenvolle zu wechseln: „Feuer gegen ein Gefährt, auf dem doch der Segen des Herrn der Meere liegen soll...!“ Sie schnaubte empört: „Wer tut sowas!? Euer Vorhaben erfüllt doch die Gläubigen Efferds, wie auch jene des Händlergotts, mit Zuversicht, dass unsere Stadt einer Zeit entgegen strebt, die ihrer Lage und Geschichte gerecht wird!“
Helaya winkte die jüngeren Frauen zu sich - Poldoron blieb zurück am Eingang - und wies sie an, am Rand des Bassins niederzuknien. Dann formte sie die rechte Hand zur Schale und begann zu beten. „Herr der Gezeiten, spende heiliges Wasser, um diese Deine Dienerinnen zu segnen!“, schloss sie. Und mit Erstaunen sah Alesia, dass sich die hohle Hand aus dem Nichts mit Wasser füllte. Helaya tauchte die Fingerspitzen der Linken hinein und strich dann in einem Wellenmuster über die Stirnen der Adeligen und der Schiffsbaumeisterin: „Gesegnet seien Eure Werke, die Ihr in Furcht und Verehrung Efferds tut.“
Sie hieß die beiden, sich wieder zu erheben und führte sie zu einer Nische der Cella, wo sie auf einer in den Stein gehauenen Bank Platz nahmen. Ein leises Rauschen umfing die Frauen, wohl vom nahen Meer, blaues und grünes Licht schien durch Wandöffnungen auf sie.
„Nachdem Ihr den Segen empfangen habt, wollen wir über Eure Sorgen reden.“ Sie reichte Rahjada und Alesia eine tellergroße Muschel, in der Hörnchen aus gepresstem Seetang lagen, gefüllt mit Getreidesprossen und Stücken rohen Fischs, ehe sie weitersprach: „In die wirren Gedankengänge eines Brandstifters versetze ich mich ungern. Gleichwohl gebe ich Euch Recht, Meisterin Degano. Es steht zu befürchten, dass er noch einmal versuchen wird, sein Zerstörungswerk zu vollenden. Gebe der Herr, dass es dem Baron gelingt, dies zu verhindern!“
Jetzt schaute Signora Rahjada auf und sprach: „Ich bedauere, aber mein Gemahl ist auf Reisen und wird erst zur Schiffstaufe zurückkehren. Und die Nachforschungen der verschiedenen Wachen haben keine - verzeiht das Wortspiel - heiße Spur erbracht.“
Helaya musterte sie überrascht: „So seid Ihr bis dahin die Herrin über Ramaúd“, hielt sie nüchtern fest. „Ihr solltet die verbleibenden Tage nutzen, um Schaden von dem Schiff, der Stadt und den Bürgern abzuhalten. Das ist die göttergegebene Pflicht des Adels.“
Rahjada schaute hilfesuchend zu Alesia. Jener schien es, als wolle die zierliche Frau am liebsten mit dem Stein hinter sich verschmelzen und in diesem versinken.. Helaya streckte den beiden ihre Hände entgegen: „Wie kann ich Euch helfen?“
„Hochwürden Helaya, ich will ganz ehrlich zu Euch sein, sowohl Signora re Kust als auch ich sind ratlos. Zum einen sind wir ratlos, weil keiner von uns begreifen kann, warum man einen Brandanschlag auf die Rahjalina verübte, zum anderen sind wir ratlos, weil wir uns zwar die Köpfe darüber zerbrochen haben, um den Täter ausfindig zu machen – aber wir einfach nicht weiter gekommen sind. Und solange der Täter nicht gefasst ist, läuft er folglich immer noch dort draußen herum und stellt eine potentielle Bedrohung für die Rahjalina dar.“, sie hielt einen Moment inne, „Zunächst wären wir Euch sehr dankbar, wenn Ihr Euren Herrn um Beistand für uns in dieser ungewissen Zeit bittet. Selbstredend werde ich natürlich auch selbst einige Gebete sprechen. Und dann?“ Alesia ging einige Momente in sich. „Wir stehen einer Bedrohung gegenüber, die keiner von uns so recht einschätzen kann. Wir kennen weder Motiv noch Täter, darüber zu spekulieren hat uns nicht weiter gebracht. Signora re Kust hat alles erdenklich getan, um einen erneuten Anschlag zu verhindern, aber da wir nicht wissen, mit wem wir es zu tun haben, ist es schwer zu sagen, ob diese Maßnahmen ausreichen werden. Im schlimmsten Fall ist es nämlich ein gänzlich Unbekannter, der einfach gerne Karavellen in Brand setzt oder aber jemand, der mit Magie umzugehen vermag – dem fürchte ich, werden wir wenig entgegenzusetzen haben. Doch vielleicht...“ Alesia räusperte sich. „Vielleicht, Euer Hochwürden, könnt Ihr uns ja helfen. Vielleicht ist Euch etwas zu Ohren gekommen, was jetzt - im Nachhinein betrachtet – eine Spur sein könnte? Jede noch so kleine, unbedeutende Information könnte uns weiterhelfen. Vielleicht habt Ihr sogar einen Verdacht? Es geht nicht darum, jemanden im Vorhinein zu verurteilen, sondern nur Hinweisen nachzugehen, den jeder Hinweis, könnte uns auf die eine oder andere Art und Weise zum Täter führen. Möglicherweise haben Eure Geweihten ja etwas vernommen, was uns weiterhelfen könnte? Werdet Ihr für uns Augen und Ohren offen halten – schließlich geht es um ein Schiff, ein Objekt, dass dem Herrn Efferd heilig ist – möglicherweise wird Euch oder den Euren noch etwas zugetragen, jetzt da der Stapellauf kurz bevorsteht?“
„Besteht ein Zweifel daran, dass die Kirche des Efferd das Werk des Schiffsbaus in Ramaúd gutheißt und nach Kräften unterstützt?!“, brauste die Geweihte auf. Eilig schüttelten Alesia und Rahjada die Köpfe. Sanfter fuhr Helaya fort: „In der heutigen Abendmesse wollen wir den Herrn um Segen bitten - wie ich auch bei der Taufe das Schiff seiner Milde anempfehlen will. Zugleich werde ich heute an die Gläubigen appellieren, Augen und Ohren nach möglichen Gefahren für das Vorhaben offenzuhalten. Es kommen Frauen und Männer aus den unterschiedlichsten Ständen und Berufen, um meinen Worten zu lauschen. Der Schiffsbau gibt auch dem Efferdglauben Auftrieb“, freute sie sich.
„Gleichwohl“, fuhr sie mit Trübsinn in der Stimme fort, „sind außer mir und Seiner Ehren Argoles lediglich nicht geweihte Diener des Herrn in den Diensten unseres Tempels. Und keiner von uns beiden versteht sich darauf, magische Bedrohungen zu erkennen, die Ihr befürchtet, Meisterin Degano.“
Signora Rahjada meldete sich bedauernd zu Wort: „Und aufgrund der immensen Honorarkosten habe ich meinem lieben Gishtan abgeraten, dauerhaft einen Hofmagier in seine Dienste zu nehmen. Dabei würde er solche Leute kennen, und in dieser Situation könnten wir einen Zauberer gebrauchen.“ Sie griff zu einem der Seetanghörnchen, vielleicht um einen Grund zu haben, weshalb sie nicht weitersprach.
Helaya schüttelte energisch den Kopf: „Es ist nutzlos, über Möglichkeiten nachzugrübeln, die man nicht hat, wenn der Sturm kommt. Ihr fragt, ob mir etwas zu Ohren gekommen ist. Da ich auf die Stimme Efferds lausche, die ich im Wind und in den Wellen vernehme, und kein wahrer Gläubiger in einen Brandanschlag verwickelt sein sollte, muss ich das verneinen. Indes: Es gibt zwei Arten von Bedrohungen: Diejenigen, die von außen kommen und diejenigen, die aus unserer Mitte kommen. Was, wenn die Bedrohung für das Schiff aus beiden Richtungen käme?“ Sie überlegte einen Moment und zögerte, ehe sie weitersprach: „Aus der städtischen Politik halte ich mich heraus, aber...“, ihr Blick verdunkelte sich: „Wie hat es eigentlich Mendolo Weltinskwant aufgenommen, dass seine Schwester Waliburia auf Eurem Landgut bei Shenilo nicht mehr benötigen worden ist?“
Rahjada verschluckte sich beinahe an ihrem Happen: „Was meint Ihr damit? Gishtan hat seine Secretaria in Zweiflingen entlassen, weil ihre Arbeit nicht mehr zufriedenstellend war, wie ich selbst bemerkte, als ich nach unserer Verlobung die Bücher des Guts überprüft habe.“
„Ich meine gar nichts“, sagte Helaya, und ihr Blick wanderte in die Ferne. „Doch Meisterin Degano hat darum gebeten, alles zu erwähnen, was Euch womöglich weiterhelfen könnte.“
Vom Eingang des Tempels waren verhaltene Männerstimmen zu hören. Helaya blickte auf: „Mir scheint, Euer Herold signalisiert Euch, dass Ihr noch anderes zu tun habt, Baronin. Wie auch ich - ich muss noch meine Predigt schreiben. Ich würde mich freuen, Euch zur Firunsstunde wieder hier in der Messe begrüßen zu können - hätte aber auch Verständnis, falls Euch Eure Aufgaben andernorts binden.“
Es war deutlich, dass die Geweihte mit ihren Gedanken bereits bei etwas ganz anderem war. Alesia und Rahjada verabschiedeten sich höflich.