Chronik Ramaúds/Stapellauf/Spelunkenviertel

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Überblick   Auf der Werft   Im Efferdtempel   Bei der Nachtwache   In der Roten Krone   Auf dem Grünen Platz   Im Spelunkenviertel   Wieder auf der Werft   Stapellauf   Steckbrief   Rahjadas Brief    

Im Spelunkenviertel

Das Spelunkenviertel lag südlich der Oberstadt und war auf Anhieb jener Stadtteil Ramaúds, der Alesia am wenigsten gefiel, obgleich er direkt an die Werft grenzte. Eingezwängt zwischen innerer und äußerer Stadtmauer drängten sich dort an engen Gassen heruntergekommene Wohnhäuser, Trinkstuben, zweifelhafte Läden, Werkstätten der „unehrlichen Gewerbe“, ein alter Boronsanger für die Armen und (scheinbar) unbewohnte Gebäude.
Just auf eines der letzteren wies Beleno der Laufbursche aus dem Halbdunkel eines Hauseingangs in sicherer Entfernung: „Da hinein habe ich dem Seemann seine Einkäufe getragen“, sagte er und zog die Nase hoch.
Das Haus war schmal und zwischen zwei schon verfallenden Gebäuden eingezwängt. Zwei Stockwerke hoch erhob es sich über der schmalen Straße davor. Von der einst roten-weißen Tür blätterte die Farbe ab. Die Fenster im Erdgeschoss waren zugenagelt, die Läden jener in den Obergeschossen aber standen offen.
Rahjada wirkte wieder unentschlossen wie zu Beginn ihrer Nachforschungen: „Was wollen wir jetzt tun?“, fragte sie ihre Begleiterin. Alesia schickte Beleno zurück zum Grünen Platz, ehe sie antwortete: „Wir tun das, was man am wenigsten von uns erwartet: Wir statten ihm einen Besuch ab.“ Die Degano lächelte verschmitzt und fügte leise hinzu: „Auffallen werden wir hier ohnehin, Signora, also sollten wir besser einen Schritt nach vorne als zurück tun. Außerdem müssen wir ja nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen. Unsere wahren Beweggründe müssen wir zunächst niemanden auf die Nase binden, obgleich selbstredend bekannt sein dürfte, dass man nach dem Schuldigen sucht und dass auch wir nach ihm suchen. Möglicherweise suchen wir aber nur, nach weiteren… Informationen?“ Sie zuckte mit den Schultern, noch immer ein Lächeln auf den Lippen. „Aber nun, sollten wir zuerst einmal nachsehen, ob denn überhaupt jemand zuhause ist.“ Zielstrebig ging die Degano auf den im Halbdunkel liegenden Hauseingang zu und klopfte an die Tür.
Klappernd schlug der Türklopfer aus Messing gegen das verwitterte Holz der Türe. Dem Widerhall von drinnen nach zu schließen befand sich kein großer Raum dahinter. Doch ansonsten blieb es still.
Alesia und Rahjada blickten sich wortlos an. Nach einer kleinen Weile des Wartens klopfte die Schiffsbaumeisterin erneut. Einmal. Zweimal. Erst nichts. Dann waren im ersten Obergeschoss das Rücken eines Stuhls zu hören, dann Schritte, und schließlich blickte ein sonnengbräuntes Gesicht unter einer wollenen Matrosenmütze aus dem rechten der beiden Fenster auf die beiden Frauen herab: „Was wünscht Ihr?“, fragte der Mann schroff.
„Mein Name ist Alesia Degano und ich komme im Auftrag der Werft in Ramaúd“, hob sie an. „Gewiss habt Ihr vernommen, dass es in der Werft ein Unglück gab. Jemand hat versucht die Rahjalina in Brand zu setzen. Weil wir jedoch vermuten, dass es jemand gewesen sein muss, der Kenntnisse in der Alchimie hat, sind wir nun auf der Suche nach jemanden, der etwas von Alchemie versteht – keiner in der Werft versteht sich nämlich darauf. Und weil wir vermuten, dass es ein Ortsansässiger war – schließlich muss er sich überaus gut ausgekannt haben, ein Ortsfremder kommt da einfach nicht in Frage – können wir denen nicht so recht trauen, daher suchen wir nun einen Reisenden, der in der Kunst der Alchimie bewandert ist und uns so über verschiedenste Fragen Auskunft erteilen kann.“
Das Gesicht des Fremden blieb ausdruckslos, fast wie eine Maske, dachte Alesia. Aber er antwortete, ohne lange zu überlegen: „Ich kann Euch nicht helfen. Mit Schwarzkunst kenne ich mich nicht aus. Und ich kenne auch niemanden hier, der das tut, weil ich mir nämlich erst vor kurzem, aus Kuslik kommend, diese Bleibe gemietet habe, bis ich ein Schiff finde, auf dem ich anheuern kann, um das Seefahrerhandwerk auszuüben. Und ich habe auch noch keinen Tratsch aus der Stadt gehört, wie von irgendwelchen Schiffsbränden.“ Er machte Anstalten, die Fensterläden zu schließen.
„Nun“, hob die Degano an, „heute auf dem Marktplatz hat jemand bei Meister Folkwin Lausinger Alchimika erworben und sie hierher bringen lassen. Genau diesen Mann suchen wir. Falls Ihr dies nicht wart oder vielmehr, Ihr nicht derjenige seid, dem die Alchimika gehören, so macht uns doch bitte mit jenem Mann bekannt, auf dass wir ihm unsere Fragen stellen können. Oder würde es euch gefallen, auf einem Schiff zu dienen, das unter euch niederbrennt und euch so den Feuertod beschert?“
Der Fremde schien einen Moment zu überlegen. Zumindest machte er eine Pause, ehe er antwortete, indes weiterhin ohne eine Miene zu verziehen: „Ich kenne keinen Lausinger. Aber vielleicht tut das mein Nachbar. Wartet, ich lasse Euch herein, dann könnt Ihr ihn selbst fragen.“
Das Gesicht, eine Türe war zu hören und sogleich Schritte, die die Treppe herab kamen. Ein Riegel wurde vorgeschoben, dann öffnete sich die Eingangstüre auf die abgesehen von Alesia und Rahjada menschenleere Gasse: „Tretet ein“, sagte der Seemann, der dahinter stand, und winkte die Frauen in den Flur. Sie folgten der Einladung und die Türe schloss sich hinter ihnen.
Sie standen nun in einem viereckig, nach Moder und kaltem Rauch riechenden Raum, in dem Teile der hölzernen Wandvertäflung fehlten und die Bodenplatten aus Schilfsandstein viele Risse und Unebenheiten aufwiesen. Zur Linken und zur Rechten gingen zwei geschlossene Türen ab, geradeaus führte eine schmale, steile, dunkle Treppe in den ersten Stock.
Der Fremde trug neben der gestrickten Mütze weitere Kleidungsstücke, die zu einem Matrosen passten, außerdem bis zu den Ellenbogen reichende Handschuhe. Sein Gesicht zeigte die Bräune eines Mannes, der viel unter freiem Himmel arbeitete. Daraus taxierten braune Augen die Besucherinnen abschätzend, doch zumindest deutete er mit einer Hand die Treppe hinauf: „Geht nur hoch. Die Stube zur Linken ist es.“
„Ihr habt meinen Dank“, bedankte sich die Degano kurz und knapp, ehe sie sich dann daran machte, die Treppe hinaufzusteigen. Deren Stufen knarrten geradezu unheimlich unter ihren Füßen, wenn auch nur leise. Etwas mulmig war ihr schon, sie konnte ja nicht wissen, was sie dort oben zu erwarten hatte.
Auf dem Treppenabsatz stand eine leere Glasflasche, auf deren Etikett Alesia trotz des wenigen Lichts, das aus einem Türspalt zur Rechten fiel, die Aufschrift „Edler Perlwein nach Bosparanjer Art von Gut Zweiflingen“ entziffern konnte. In dieser schmutzigen Umgebung wirkte das Behältnis wie ein Fremdkörper.
Bevor sie sich der linken Stube zuwandte, versicherte sich Alesia, dass die Signora hinter ihr war. Sie fürchtete nicht um sich, sondern um ihre Auftraggeberin, denn was wusste sie schon über den angehenden Seemann der sie eingelassen hatte?
Beim Umdrehen zu Rahjada fiel ihr Blick durch den Türspalt rechts der Treppe. Sie erblickte neben dem offenen Fenster einen grob gezimmerten Holztisch, auf dem ein Tuch über einige Gerätschaften gebreitet war. Sie stutzte, drehte sich aber doch wieder um, klopfte beherzt an die Türe, vor der sie stand, und drückte deren Klinke. Die Türe sprang auf und gab den Blick auf ein sparsam möbliertes, holzgetäfeltes Schlafzimmer frei. Niemand befand sich darin.
„Hinein mit euch!“, schnauzte der Mann, der sie eingelassen hatte. Direkt hinter der zierlichen Papilio war er auf den Treppenabsatz getreten, nun versetzte er der Signora einen kräftigen Stoß zwischen die Schulterblätter. Sie taumelte vorwärts und riss Alesia mit sich, sodass beide Frauen in den Raum stolperten.
Mit einer flinken Bewegung trat der Seemann unter den Türstock und versperrte so den einzigen Ausweg aus dem Zimmer. Seine behandschuhten Finger ruhten an seiner Hüfte. Er starrte die Damen grinsend an: „So, meine Täubchen: Wer schickt euch?“
Es dauerte ein paar Augenblicke, bis Alesia begriff, was gerade hier geschehen war und bis sie sich versichert hatte, dass der Signora nichts geschehen war. Dann wandte sie sich jedoch recht selbstbewusst an den Mann und lächelte ihn an.
„Mein Herr, ich glaube Ihr missversteht“, erwiderte sie, „Zum einen sind wir gewiss keine Täubchen und zum anderen sind wir keine Damen, die sich schicken lassen. Abgesehen davon, habe ich euch alles mitgeteilt, was es mitzuteilen gab. Aber wenn Ihr plaudern wollt, dann lasst uns doch plaudern! Vielleicht mögt Ihr uns ja ein Glas von dem Edlen Perlwein nach Bosporanjer Art von Gut Zweiflingen anbieten?“ Erwartungsvoll schaute sie ihn an.
Die Augen des Fremden verengten sich, doch er machte nicht den Fehler, seinen Blick von Alesia zurück in den Flur zu wenden: „Ich glaube, ihr habt schon zuviel gesehen, Signora Schiffsbaumeisterin“, sagte er mit drohendem Tonfall. Seine Stimme hatte den schleppenden Klang eines Seemanns verloren und wirkte nun eher wie die eines Advokaten. Meisterin Degano bemerkte beunruhigt, dass sein Gesicht bis auf die Augen weiterhin bewegungslos blieb.
Mit zwei schnellen Bewegungen zog er eine handspannlange, dreikantige Stoßklinge hinter seinem Rücken hervor und eine Lederschnur aus einer Westentasche.: „Ich glaube dir. Niemand wäre dumm genug, zwei so leichtsinnige Vögelchen zu schicken.“ Er warf die Lederschnur direkt auf Alesias Gesicht zu, die sie aus einem Reflex heraus fing – und erst dann verstand, dass er genau das wollte: „Fessel deine Begleiterin“, befahl er kalt.
Einen Augenblick starrte Alesia dennoch den Fremden etwas verwirrt an. Dann entfuhr ihr ein kehliges Lachen: „Mit meinen Zahlen wäre mir das gewiss nicht passiert!“ Und sie fügte an den Fremden gewandt hinzu: „Auch das wird Euch jetzt nicht mehr helfen! Aber wenn es Euch glücklich macht…“
Sie ging widerstandslos zu Signora re Kust hinüber und lächelte diese vielsagend an, dabei wandte sie dem Fremden aber nicht ihren Rücken, sondern lediglich ihre Seite zu. Vielleicht hätte sie versucht, zu entkommen. Vielleicht hätte sie das wirklich versucht, wäre da nicht die Signora gewesen. Aber so erschien ihr das viel zu gefährlich. Zu ihrer Auftraggeberin sagte sie schulterzuckend: „Ich fürchte, ich muss tun, was der Herr sagt. Er trägt – zugegebenermaßen – ein scharfes Argument bei sich.“
Alesia begann die Hände ihrer Auftraggeberin zu fesseln und nutzte dabei ihr Wissen über Knoten aus der Schifffahrt und hoffte dabei, dass der Fremde nicht gleich auf Anhieb erkannte, dass man den Schlussknoten recht einfach aufziehen würde können. „Nun, mein Herr, ich habe getan, was Ihr verlangt habt. Falls Ihr mich also auch noch fesseln wollt“, sie hielt ihm ihre Hände entgegen, „dann nur zu, ich fürchte nämlich, dass ich das nur unzufriedenstellend selbst tun kann.“
Der Mann winkte die schreckensstarre Adelige zu sich her und prüfte den Sitz der Fessel. Den kompetent geknüpften Aufknoten schien er nicht als solchen zu erkennen. Er steckte das Stilett griffbereit in seinen Gürtel und trat zu Alesia, während Rahjada wie versteinert hinter ihm auf einem Bettvorleger stehen blieb. Er roch unangenehm und stechend, ein wenig nach faulenden Eiern. „Keine Dummheiten!“
Ungelenk und grob schlang er eine zweite Schnur um ihre aneinandergelegten Handgelenke. Seine mit dunklen Flecken besprenkelten Handschuhe erschwerten es ihm, die Schiffsbauerin zu fesseln. Die seemännische Knotenkunst beherrschte er nicht, fiel Alesia auf. Aber er zog die Fessel schmerzhaft fest und schien zufrieden, als die Degano aufkeuchte.
„Los, wieder die Treppe runter“, schnauzte er und schob seine Gefangenen vor sich her, den Dolch wieder in der Hand. Unten stieß er sie durch die andere Türe in eine mit alten Möbeln und Unrat vollgestellte Stube. Er öffnete eine Falltüre im Boden. Eine steile, schmale Leiter führte hinab ins Dunkel: „Da runter.“
Mühsam kletterten, halb fielen Alesia und Rahjada in einen niedrigen Keller, dessen Ausdehnung sie nicht genau erkennen konnten, bevor der Mann über ihnen wieder die Luke zuschlug. In fast völliger Dunkelheit kauerten sie sich auf den Boden. Sie hörten, wie er den Tisch heranrückte und ein Tischbein auf die Luke stellte. Dabei fluchte er nur halb verständlich vor sich hin: „...mit denen machen? Muss... entscheiden!“, verstand Alesia.
Kurz darauf hörten sie die Haustüre schlagen und einen Schlüssel im Schloss drehen. Dann war alles still – bis Rahjada aufschluchzte: „Wo sind wir da hineingeraten! Ich wünschte, mein lieber Gishtan wäre hier! Der würde des diesem Rüpel zeigen.“
Alesia wusste nicht, wie sie die Signora trösten sollte. Aber sogleich klang ihre Begleiterin in der Finsternis wieder hoffnungsvoller: „Vielleicht sucht jemand nach uns? Sicher wird das jemand tun, meint Ihr nicht? Dann werden sie einen Hinweis finden, dass wir hier gewesen sind: Ich habe meinen Travienring in dem Zimmer oben auf den Teppich vor dem Bett fallen lassen, als der Grobian Euch gefesselt hat. Am besten warten wir einfach, bis jemand kommt und uns befreit, denkt Ihr nicht auch?“
„Gewiss!“, versicherte Alesia und versuchte dabei so überzeugt zu klingen wie nur irgend möglich. Doch so richtig überzeugt war sie selbst nicht: „Man wird uns suchen, Signora re Kust. Und man wird uns finden – dank Eures klugen Zuges.“
Und die Degano war sich auch sicher, dass man sie suchen und auch finden würde. Doch die eigentliche Frage war doch eine ganz andere: Wie lange säßen sie hier unten fest? Und kam der Fremde zurück? „Doch länger als unbedingt nötig, möchte ich hier unten nicht verweilen. Euch wird es da gewiss nicht anders ergehen, Signora. Und daher halte ich es für eine gute Idee, nicht nur zu warten. Wir sollten mal schauen, ob es hier nicht noch einen… weiteren Ausgang gibt.“ Sie zuckte mit den Schultern: „Zuerst werde ich euch aber Eure Fesseln abnehmen, Signora. Tretet ein bisschen zu mir ins Licht. Man kann den Knoten ganz leicht aufziehen, wenn man weiß wo man ziehen muss. Und dann nehmt mir doch bitte meine ab. In meiner linken Manteltasche ist ein Klappmesser."
„Ihr seid so einfallsreich!“, sagte Rahjada bewundernd und tat wie geheißen. Trotz des störenden Tuchs um ihre Finger bereitete es Alesia keine zu große Mühe, Rahjadas Fessel aufzuschnüren. Trotz des wenigen Lichts fand jene auch das Messer und säbelte mit etwas Geduld das Seil um Alesias Handgelenke durch, ohne die Sewamunderin zu verletzten. Diese rieb sich die Hände, bis sie wieder richtig durchblutet waren, dann machte sie sich daran, einen Ausweg zu suchen.
Ihre Augen waren inzwischen das wenige Licht gewöhnt, das zwischen den Bohlen der Falltüre hindurch fiel. Der Keller maß etwa drei mal vier Schritte und war gerade so hoch, dass sie gebückt stehen musste. An einer Wand stand ein wackliges Regal voller kleiner Kisten, Tiegel, Töpfe und unidentifizierbarer Gegenstände, denen die Feuchtigkeit und Satinavs Hörner zugesetzt hatten. Die Wände waren gemauert, der Boden aus festgestampftem Sand.
Während Alesia sich umsah, sprach Rahjada: „Was denkt Ihr, weshalb dieser Matrose uns eingesperrt hat? Und habt Ihr auch gehört, was er zuletzt sagte? Was mit uns geschehe, werde nicht er, sondern...“, sie seufzte frustriert: „...da habe ich ihn nicht mehr verstanden… jedenfalls jemand anderes entscheiden. Ob er uns in die Sklaverei verkaufen will?“
„Nein, Signora, das glaube ich nicht. Ihr braucht Euch darum also nicht zu sorgen, denn es ist ganz und gar nicht üblich einen Adeligen in die Sklaverei zu verkaufen. Der Grund dafür ist recht einfach und einleuchtend: Eurem Haus seid Ihr gewiss mehr wert als jedem Sklavenhändler. Gewiss wäre euer Gatte bereit, eine große Summe Lösegelds zu zahlen, wenn er nur wüsste, dass Ihr wohlbehalten und unversehrt zurückkämt. Abgesehen davon, dass man Euch hier kennt und er uns nie unbemerkt von hier wegbringen könnte. Zudem glaube ich nicht, dass er an Dukaten interessiert ist.“ Sie zuckte mit den Achseln. „Ich glaube viel eher, dass er nun zu Ende bringen will, was er begonnen hat und dabei wären wir, die nun wissen, mit wem wir es hier zu tun haben, nur im Weg.“
Ob diese Worte die Adelige beruhigten, konnte Meisterin Degano nicht erkennen. Stattdessen spürte sie plötzlich etwas auf ihrem Handrücken krabbeln. Sie unterdrückte den Reflex, es einfach abzuschütteln und schaute: In einem Lichtschimmer von oben erkannte sie einen unscheinbaren Nachtfalter, der dort saß und mit seinen Flügeln fächelte. Dann flog er auf und flatterte zu dem Regal hinüber.
„Ein Schmetterling? Hier?“, wunderte sie sich und folgte ihm. Das Tierchen saß auf einem Bündel modrigen Stoffs, das vielleicht einmal ein Vorhang gewesen war. Alesia überwand ihren Widerwillen und schob das Bündel beiseite. Dahinter, noch halb von dem Holzregal verdeckt, entdeckte sie knapp unter der Decke die Umrisse einer Klappe in der Wand. Ein schwacher Schein von Tageslicht zeichnete deren Umrisse nach: „Ich glaube, ich habe ein Kohlenloch entdeckt!“, gab sie überrascht bekannt.
Rahjada eilte aufgeregt an ihre Seite: „Ihr habt Recht! Meint Ihr, wir können durch dieses entkommen, wenn wir das Regal beiseite rücken?“
„Wir werden vermutlich ziemlich schmutzig sein, aber wenn das der Preis der Freiheit ist, dann sollten wir es auf jeden Fall versuchen, findet Ihr nicht auch?“, erwiderte sie lächelnd. „Wir werden es versuchen und wenn es schon allein aus dem einen Grund heraus ist, nämlich sein verdutztes Gesicht zu sehen, wenn wir seine Pläne vereiteln. Der wird Augen machen, Signora!“
Derart ermutigt half Rahjada eifrig, wasserfleckigen Stoff, morsche Holzbehälter und schmutzverklebtes Geschirr aus dem Regal zu räumen. Dann kippten sie das leere Möbelstück auf den Boden und Alesia untersuchte die Klappe. Diese war zugenagelt, doch mithilfe ihres Messers konnte sie die Nägel entfernen und das Brett herausnehmen.
Die beiden Frauen blickten in einen schräg ansteigenden Lichtschacht von vielleicht einem Schritt Höhe. Ein halb verrottetes Holzgitter verschloss diesen nach außen, durch das vertrocknete Pflanzen herabhingen. Trotzdem konnten die Gefangenen einen Flecken blauen Himmels erkennen.
„Das schaffen wir“, sagte die Adelige zuversichtlich und streifte ihren Umhang ab. „Schiebt mich ein Stück hoch, dann kann ich das Gitter lösen.“ Alesia tat wie geheißen. Ohne Zögern zog sich Rahjada mit ihrer Hilfe durch Schmutz und Staub in dem schmalen Kohlenloch dem Licht entgegen, während die Begleiterin sie an den Unterschenkeln empor schob.
Alesia hörte ein hölzernes Klappern und ein erleichtertes: „Ich hab's!“ Dann zog sich die Andere aus der oberen Öffnung. Gleich darauf blickte Rahjadas verdrecktes Gesicht herab, erstmals an diesem Tag fröhlich, erstmals überhaupt, seit Alesia sie kannte: „Gebt mir Eure Hände, ich ziehe Euch heraus.“
Natürlich hätte die zierliche Signora das nicht alleine geschafft, doch mit ihrer Hilfe war es zumindest leichter für die Degano, ebenfalls durch die kaum schulterbreite Öffnung nach oben zu gelangen. Einen Moment lang standen die beiden schnaufend und schmutzbedeckt in dem winzigen Hinterhof und blickten sich um: Ein naher Durchlass führte zwischen dem Gebäude und der Ruine daneben auf die Straße. Die Nachmittagssonne fiel auf die Umgebung.
Der Tatendrang war jedoch schnell wieder von Rahjada abgefallen, denn wiederum trug sie Alesia die Initiative an: „Was machen wir jetzt? Wohin gehen wir? Wem berichten wir?“
„Wir müssen… wir brauchen… Unterstützung. Wir müssen... zur Wache.“, entschied die Degano eilig, „Signora, wie kommen wir am schnellsten dorthin?“
Rahjada überlegte laut, während die beiden Frauen bereits losgingen: „Wir gehen am besten vor bis zur Goldenen Straße, die Spelunken- und Handwerkerviertel trennt, und über diese hinauf zum Grünen Platz. Wenn wir bei der Wache gewesen sind, könnten wir selbst im Hafenviertel einen Trupp der Baronsgarde suchen. Dann wären wir auch gleich in der Nähe des Schiffs.“
Sie hob in einer entschuldigenden Geste die Hände: „Einfach ist es in Ramaúd nicht: Es gibt nicht nur eine Stadtgarde für alle Aufgaben: Mindestens vier Gruppen teilen sich die Fürsorge für die Sicherheit der Stadt: Nachtwache, Marktbüttel, Zunftwehren und Baronsgarde – und ihre Zuständigkeiten überlappen sich aus historischen Gründen.“ Als die Sewamunderin mit den Augen rollte, wagte die Baronin ein Grinsen: „Willkommen in Ramaúd.“
Unterwegs führte Alesia weiter aus: „Vielleicht will unser Gesuchter auf einem Schiff fliehen? Er sagte doch, er wolle als Seemann tätig sein. Die Wächter müssen jemanden zum Gut Zweiflingen schicken. Vielleicht ist er dorthin unterwegs? Zumindest aber hat er dorthin sehr wahrscheinlich Kontakte, wovon zumindest der Wein zeugt. Ob ihn dort jemand kennt? Auch mir wäre es sehr recht, wenn wir zur 'Rahjalina' zurückkehren. Vielleicht ist er ja dorthin unterwegs, um seinen Plan zu vollenden? Was auch immer er tut, er ist in Eile und wer in Eile ist, handelt meist überstürzt und unüberlegt. Und jemand sollte das Haus durchsuchen, möglicherweise finden sich eindeutige Beweise, außerdem liegt dort noch immer Euer Ring, Signora, den Ihr gewiss bereits schmerzlich vermisst.“
Signora Rahjada nickte, ging dann aber auf das ein, was ihre Begleiterin zuvor gesagt hatte: „Was hat unser falscher Seemann mit Gut Zweiflingen zu tun?“ Alesia erklärte ihr ihre Beobachtung. „Das ist seltsam“, wunderte sich die Adelige. „Denn das Gut liegt weit im Inland, vor den Toren Shenilos – und gehört inzwischen meinem lieben Gishtan. Dort habe ich ihm damals... meine Zuneigung gestanden“, erinnerte sie sich mit verzücktem Blick. „Und er hat mich daraufhin gebeten, seine Frau zu werden. Der Perlwein – mittlerweile echter Bosparanjer – wird dort abgefüllt und ist nur in jener Region zu bekommen – oder als Geschenk meines Gemahls. Denn der Ertrag der Zweiflinger Weinbergs ist gering. In ganz Ramaúd wird es derzeit wohl kein halbes Dutzend Flaschen geben. Und eine davon ist dafür vorgesehen, dass ich sie übermorgen am Bug der neuen Karavelle zerschellen lasse, um diese auf den Namen 'Rahjalina' zu taufen.“
Alesia hielt inne: „Shenilo, das ist ein ordentliches Stück von hier entfernt, nicht?“ Rahjada nickte: „Starke zwei Tagesreise einfache Strecke, wenn man sich eilt.“ „Das heißt, wenn wir dort nachforschten, würden wir nicht rechtzeitig zum Stapellauf zurückkehren.“ „Nicht ohne fliegenden Teppich“, machte die Gastgeberin einen schwachen Scherz. Zumindest vermutete Alesia, dass es ein solcher sein sollte. Sie nahm den schnellen Schritt wieder auf.
Bald erreichten sie die Goldene Straße. Der Fahrweg hinauf in die Kernstadt war trotz dieses Namens lediglich mit Ziegelsteinen aus gelbem Lehm gepflastert. Jetzt, am späten Nachmittag, herrschte hier einiger Verkehr. Die Frauen vermieden es, sich in der Menge weiter über ihre Erkenntnisse auszutauschen.