Briefspiel:Im Land der echten Liebe/Gasthaus Gigas
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Gasthaus Gigas in Shenilo
Autor: Ernie
In Shenilo angekommen, befanden sich Tariano und Usanza zur Mittagszeit auf dem Geronsplatz. Dort, im Schatten des großen Rondratempels, warteten Scharen von Pilgern aus allen Ecken des Reichs darauf, Einlass in diesen zu erhalten. Zwischen aufdringlichen Devotionalienhändlern und schnatternden Menschenmengen fanden die beiden bis jetzt nur wenig von dem Charme, den sie sich von dem Landstädtchen erhofft hatten.
Als Usanza auf einem Schild, das an einem der Gebäude hing, die den großen Marktplatz begrenzten die Worte “Gasthaus” und “Hotel” in blattgoldenen Zeichen las, flüchtete sich das Paar vor dem Lärm des überquellenden Platzes, in der Hoffnung, nach der Reise eine gute Mahlzeit zu sich nehmen zu können, in ein mehrstöckiges Gebäude.
Statt der erhofften Ruhe oder zumindest einer standesgemäßen Begrüßung, die Usanza sich von dem reich geschmückten Gebäude erhofft hatte, schien der Lärm der Stadt sie auch hierher zu verfolgen: in dem großen, holzvertäfelten Schanksaal herrschte reges Treiben. Die Bediensteten schienen das gesamte Mobiliar bewegen zu wollen. Manche trugen in Zweiergespannen Tische und Bänke die breite Empfangstreppe in der Mitte des Raumes hinab, ein Mann trug Kannen aus Silber, sechs in jeder Hand. Zwei weitere Diener rollten ein Weinfass an ihnen vorbei, ohne die Gäste wahrzunehmen. Gerade, als Tariano sich schon zum Gehen Umdrehen wollte, erklang der Ruf einer jungen Frau: “Willkommen im Gigas, Signora und Signore” Tariano konnte den Ursprung der Stimme nicht ausmachen, doch Usanza wies nach oben, zur Galerie, die den Schankraum wie ein Kranz umrandete und vom ersten Stock aus einen Überblick über den Schankraum erlaubte.
Die Frau, die sie willkommen geheißen hatte, lief nun mit schnellen Schritten eine Seitentreppe hinab und gab im Vorbeigehen einem Knaben knapp zu verstehen, dass rasch ein Tisch für zwei Personen und noch rascher zwei Becher Wein gebraucht würden.
Als sie ihren Gästen gegenüber stand, entschuldigte sie sich für den Empfang, beziehungsweise dessen Mangel, und stellte sich als Aurelia di Asuriol vor. “Die Riesenzunft feiert diesen Abend den Aufstieg eines ihrer Zimmerergesellen in den Meisterstand. Der Gute gibt zu diesem Anlass ein Festmahl für die anderen Meister und ihre Gesellen und Lehrlinge aus”, erklärte sie. Nachdem Usanza und Tariano sich ihrerseits vorgestellt hatten, bot ihnen die junge di Asuriol je einen Becher jungen Wein zur Erfrischung nach der Reise an, und platzierte sie zunächst auf der Galerie, von wo aus das Treiben im Schankraum deutlich leichter zu überblicken war. Scheinbar sollte das Festmahl des frisch gebackenen Meisters nicht im Hauptraum, sondern in einem separaten Saal stattfinden. Die Diener schafften sowohl Möbel und Kannen als auch die Wein- und Bierfässer durch einen gemauerten Türbogen mit doppelten, aus edlem Mahagoniholz gezimmerten Türen. Der Bogen ruhte auf zwei gemeißelten Säulen, in die Lettern aus Messing eingesetzt waren, die die die Freundschaft zwischen den di Asuriol und den Handwerkern Riesenzunft bezeugten .
Durch die Glasfenster konnte man von der Galerie aus auch den Geronsplatz überblicken. Zuvor hatten sie kaum ein Auge für die Palazzi der Patriziergeschlechter, die den Markt säumten, doch nachdem sie zur Ruhe gekommen waren und Abstand gewinnen konnten, war Zeit, die prunkvollen Gebäude, einige mit Türmchen, andere mit Säulenkonstruktionen alla aureliani verziert. Die luxuriösen Wohnsitze schienen den Patriziern eine weitere Möglichkeit zu sein, ihren göttlichen Patrones für alle sichtbar zu huldigen: Zinnen für Rondra, verspielte Erker für Rahja, symmetrisches, komplex verschachteltes Fach- und Mauerwerk für Hesinde.
Aus seinen Gedanken über die Bauweise der yaquirischen Palazzi wurde Tariano schließlich von dem gleichen Knaben gerissen, den Aurelia di Asuriol bereits bei ihrer Ankunft Wein holen geschickt hatte. “Der von der Signora di Asuriol für Euch erbetene Tisch ist hergerichtet. Ich hoffe, ein Platz unter den Weinreben im Innenhof genügt den weit gereisten Herrschaften”, sagte er, und verbeugte sich.
Der Junge führte sie in einen, zur Mittagszeit angenehm schattigen Hof abseits der Hauptstraße. Über ihren Köpfen befand sich, von einem hölzernen Gitter gestützt, ein Dach aus Weinreben. Die Reben wuchsen an den Stützen der Holzkonstruktion und an den Mauern des Gasthauses, das den Hof an drei Seiten umschloss, hinauf, und bildeten ein dichtes Blätterdach, wo zwischen den blühenden Trauben Bienen und Hummeln summten. An diesem Ort, der allem Anschein nach Meilen vom Lärm des Geronsplatzes entfernt liegen musste, beinahe einsam inmitten des Pilgerviertels, nahm das Paar schließlich das lang ersehnte Mahl zu sich.