Briefspiel:Im Land der echten Liebe/Kloster Sancta Ricarda
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Kloster Sancta Ricarda
Autor: Bella
Usanza und Tariano hatten die vergleichsweise kleine Ortschaft Cassiena bereits hinter sich gelassen. Die Umgebung wurde immer ländlicher je weiter sie sich von der Silberstadt Urbasi entfernten, und bis auf Weinberge, ab und zu ein Landgut oder eine Mine, und wieder Weinberge, gab es nicht viel zu sehen. Sogar die Straßen wurden schlechter, denn die Kutsche rumpelte immer häufiger über Unebenheiten.
Sie begannen allmählich an dem Hinweis des Rahja-Novizen zu zweifeln. Der Junge war gerade im Aufbruch gewesen, als sie den Tempel der Heiteren in Urbasi besuchten. Er hatte in der Stadt eine Wagenladung voller Lampions besorgt, wohl für ein Volksfest, und ihnen ganz schwärmerisch von dem romantischsten Plätzchen, das er kannte, erzählt. Es sollte ganz in der Nähe des Ricardiner-Klosters liegen, bei dem Dorf Santa Ricarda. Das Paar hatte noch in Erfahrung bringen können, dass dort der Cassianti, ein exzellenter Mischwein, von der Heiligen Ricarda Solivino erfunden, gekeltert wurde.
Es dauerte noch etwa zwei Stundengläser, bis das Dorf in Sicht kam. Santa Ricarda thronte auf einem Tafelberg aus Tuffstein-Felsen, umgeben von einer Schlucht, die auf ihrer Seite sanft abfiel, auf der Seite des Dorfes jedoch einen steilen Abhang bildete. Der Holzsteg, der den Tafelberg mit der gegenüberliegenden Anhöhe verband, wirkte aus der Ferne erschreckend dünn und instabil. Im Näherkommen zeigte sich, dass er sogar breit genug für die Kutsche war. Sie wagten die Überquerung – nur an der tiefsten Stelle nicht nach unten schauen – und kamen wohlbehalten auf der anderen Seite an.
Das Dorf war wirklich winzig. Es bestand nur aus ein paar Dutzend Häusern, die kaum genügend Platz auf dem Felsen fanden. Am heutigen Tage war erstaunlich viel los. Es schienen fast alle Bewohner draußen zu sein und eifrig Vorbereitungen zu treffen. Überall herrschte ausgelassenes Lachen und Geplauder in einem bäuerlichen Dialekt. Die Vorfreude war beinahe ansteckend. Usanza und Tariano trafen auch den Novizen wieder, der umgeben von einer Schar aufgeregter Kinder die Lampions verteilte. Er freute sich, dass sie hierher gefunden hatten und nahm sich sofort Zeit, ihnen den genauen Weg zu dem Plätzchen zu beschreiben, jedoch sollten sie erst abends oder nachts dorthin gehen. Er lud sie zudem in sein Kloster ein, um die restlichen paar Stunden bis zum Abend dort zu verbringen, denn es war erst Nachmittag.
Also verließen sie Santa Ricarda wieder über den Holzsteg und fuhren auf der anderen Seite der Schlucht entlang bis zum Kloster. Das große, freistehende Gebäude wirkte aus der Ferne zunächst wie eine eigenartige Mischung aus Weingut und Tempel. Es war vollständig von einem großen Weinstock überwuchert, dessen Blätter zu dieser herbstlichen Zeit in verschiedenen gelben, roten und grünen Farbtönen leuchteten. Als sie näherkamen bemerkten sie auch die ordentlich gepflegten und ungewöhnlich intensiv duftenden Rosenbüsche, die das letzte Stück Weg säumten. Nachdem der Torwächter sie eingelassen hatte, gelangten sie durch einen hohen Torbogen in den Innenhof. Ein Garten mit einer Blumenwiese, Weinstöcken und Rosenbüschen an den Wänden sowie kleineren Bäumen, durch den sich gepflasterte Pfade schlängelten. Alles wirkte zugleich sehr sauber und ordentlich gehalten, jedoch auch ein wenig verspielt. Jemand mit einem Sinn für Schönheit und Perfektion hatte diesen Garten liebevoll angelegt. Es herrschte auch hier genau wie im Dorf eine geschäftige Vorfreude und mehrere Bedienstete, Novizen und Geweihte eilten hin und her. Das almadanische Paar wurde sofort mit offenen Armen empfangen. Die Klosteräbtissin Lorindya Solivino, eine kleine ältere Frau mit grauweißem Haar, sorgte dafür, dass sie mit Cassianti bewirtet wurden und befragte sie nach ihrer bisherigen Hochzeitsreise. Man lud sie auch herzlich ein, für einige Tage zu bleiben. Die Zeit verging wie im Fluge und als die Praiosscheibe hinter den Weinbergen zu versinken begann, brachen sie schließlich auf.
Sie folgten nach der Wegbeschreibung des Jungen einem schmalen Pfad, der hinter dem Kloster begann, in ein kleines Wäldchen. Orange-leuchtende Ringelblumen zierten den weichen, moosbedeckten Boden, der ihre Schritte dämpfte, sodass keine Geräusche bis auf das leise Grillenzirpen, Knacken im Unterholz und Vogelgezwitscher zu hören war. Durch die Äste hindurch sahen sie den Himmel von derselben Farbe wie die Ringelblumen zu einem zarten Rosa wechseln und schließlich ins Dunkelblaue übergehen. Die Vögel verstummten, als es zu dämmern begann, nur ein Käuzchen rief noch irgendwo in der Ferne.
Immer mehr Edelkastanien bedeckten nun den Waldboden und schließlich standen sie wieder an dem Abhang vor einer mächtigen Bosparanie, deren Stamm sie zusammen nicht vollständig hätten umfassen können. Eine Strickleiter hing von dem dicksten Ast herab, der bis in die Schlucht hineinragte. Auf der anderen Seite konnten sie im letzten Licht noch die Umrisse des Dorfes ausmachen. Die Leiter wirkte vertrauenserweckend, also kletterten sie hinauf. Der Ast knarzte nicht einmal, als sie sich nebeneinander darauf niederließen, und war gemütlicher als erwartet. Ein Blick nach unten zeigte die Schlucht in vollkommener Schwärze und ein Blick nach oben einen klaren Sternenhimmel mit dem sichelförmigen Madamal.
Gerade als die Dämmerung vollständig der Nacht gewichen war, leuchtete auf einmal ein warmes, rotes Licht in Santa Ricarda auf. Es folgte noch eines und noch unzählige weitere, bis das Dorf einen herrlichen Anblick voller rötlicher Lichtkugeln bot. Die Lampions waren angezündet worden.
Sie kosteten die Aussicht für ein paar Augenblicke aus, da bemerkten sie einen leisen Choral, der allmählich immer lauter anschwoll. Mehr Stimmen kamen hinzu und neue Tonlagen wurden erklommen, bis schließlich das ganze Dorf miteinstimmte, so kam es ihnen jedenfalls vor. Natürlich war der Gesang der Bauern nicht mit einer Vinsalter Oper zu vergleichen, doch es hatte etwas natürlicheres, intimeres. Etwas, das ihnen Schauer über den Rücken jagte.
Der Choral wurde wieder leiser und trat in den Hintergrund, denn nun begann jemand zu sprechen. Sie erkannten die Stimme der Klosteräbtissin wieder, auch wenn sie seltsamerweise viel volltönender und jünger klang. Immerhin konnten Usanza und Tariano sie gut dreißig Schritt entfernt noch gut verstehen.
„Herrin Rahja, Liebreizende und Berauschende, Schönste unter den Zwölfen, wir lobpreisen und verehren dich. Diese Nacht, am Feiertag deiner Heiligen, Ricarda Solivino, Erfinderin einer der reinsten, wohlschmeckendsten Weine, haben wir dir zu Ehren unser Hab und Gut geschmückt. Mögest du dich an diesem Anblick erfreuen und uns gute Weinernten sowie Freude und Harmonie schenken. Auf dass wir deine Lehre der Liebe verbreiten und leben! Es sei.“
„Es sei“, antworteten murmelnd mehrere Dutzend Stimmen.
„Nun mögen wir deine Gaben an deine treuen Gläubigen ausschenken. Mögen sie sich an ihrer Reinheit erfreuen und sie mit all ihren Sinnen erfahren.“
Es folgte eine Pause, in der sogar der Chor verstummte und erwartungsvolles Schweigen herrschte. Das Paar konnte sich denken, dass die Ricardiner währenddessen Wein, vielleicht sogar den heiligen Tharf, an die Dorfbewohner ausschenkten.
Leise, raschelnde Schritte im Gebüsch lenkten sie von der Szenerie ab. Mit zwei Kelchen Wein in der Hand kam der Novize, der sie erst auf das Kloster aufmerksam gemacht hatte, über den Pfad auf sie zu. Er blieb vor dem Ast, auf dem sie saßen, stehen, reichte ihnen sanft lächelnd die Becher, und zog sich sofort wieder zurück, bevor sie sich auch nur bedanken konnten. Mit schnellen Schritten lief er wieder zurück zu der Zeremonie.
Usanza und Tariano kosteten den Wein und stellten fest, dass es tatsächlich Tharf war. Es schmeckte einfach himmlisch und obwohl sie nur einen Becher getrunken hatten, fühlten sie sich leicht beschwingt und etwas angeheitert, jedoch ohne jeglichen Kontrollverlust.
„Danke, Herrin, für diese wundervolle Gabe“, fuhr die Äbtissin mit der Lobpreisung der Göttin fort. „Ohne sie wäre wohl all unser Leben trostlos und wir müssten eingehen wie eine Rebe ohne Wasser. Mögen wir deine Geschenke niemals vergessen und für alle Zeit stark im Glauben bleiben! Es sei.“
„Es sei“, murmelten die Gläubigen.
Der Chor nahm den Gesang wieder auf und hielt ihn eine Weile lang aufrecht, dann hörten immer mehr Leute auf zu singen, bis schließlich auch die letzten Sänger zu einem Ende kamen. Schon kurz darauf wurde es fast gespenstisch still, die Versammlung hatte sich aufgelöst. Nur die Lampions brannten noch und verbreiteten das inzwischen vertraute, warme Licht.
Sie wussten nicht, wie lange sie noch auf der Bosparanie saßen, doch irgendwann in der Nacht kehrten sie zum Kloster zurück. Jemand führte sie noch auf das Gästezimmer, das man ihnen zugewiesen hatte, dann begaben sie sich zu Bett. Das letzte, was sie an diesem Abend wahrnahmen, war leise Geigen- und Harfenmusik, die aus einem anderen Teil des Gebäudes nur gedämpft zu ihnen drang.