Chronik Ramaúds/Stapellauf/Platz
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Auf dem Grünen Platz
Hoch über der Stadt trieb der Westwind Wolken eilig landeinwärts. So wechselten auf dem Platz spätsommerlicher Sonnenschein und frühherbstlicher Schatten in schneller Folge.
Eine hohe, dünn klingende Glocke schlug soeben das Ende der Praios- und den Beginn der Rondrastunde des Nachmittags. Während es zuvor eher ruhig gewesen war, kehrten Handwerker, Händler, Spielleute, Andenkenverkäufer und mancherlei anderes, buntes Volk nun allmählich auf den Platz zurück. Die einen setzten den Aufbau ihrer Zelte und Stände fort, die anderen gingen wieder an ihr Tagwerk. Alesia und Rahjada, die einige Schritte in Richtung der Mitte des Platzes taten, beachtete niemand.
Signora Rahjada hatte die Kapuze ihres Umhangs hochgezogen und war dadurch so unauffällig, dass Meisterin Alesia sich immer wieder dabei ertappte, wie sie zur Seite blickte, um sich zu vergewissern, dass die Gastgeberin noch neben ihr war. Am winzigen Zelt einer Bethaner Hutmacherin hielten die beiden inne, und Rahjada blickte sich unschlüssig um: „Da wären wir… wohl...“, sagte sie, laut genug, dass Alesia sie trotz des Umgebungslärms verstehen konnte. „Doch wohin wenden wir uns nun? Auf dem Grünen Platz sind jetzt, kurz vor dem Stapellauf, ausschließlich auswärtige Marktbeschicker zu finden. Was oder wen suchen, wen befragen wir – und worüber?“
„Wir sollten mit den Händlern anfangen, die alchemistische Waren veräußern. Zuerst einmal sollten wir so tun, als wollten wir die Waren, die unser Täter damals bei seinem Anschlag verwendet hat...“, sie dachte angestrengt nach, aber konnte sich nicht mehr genau erinnern, „...kaufen. Falls er diese Waren bei sich führt oder besorgen kann, können wir weiter fragen und so herausfinden, ob es schon mal jemand gab, der diese gekauft oder zumindest danach gefragt hat. Abgesehen davon erfahren wir dann, was der Anschlag unserem Alrik wert war. Möglicherweise hilft uns auch seine Beschreibung.“
Sie ließ ihren Blick über den Marktplatz schweifen, dann wandte sie sich wieder der Signora zu: „Und wir sollte nach einer Cocusnuss Ausschau halten. Ich weiß, Ihr sagtet, dass er sie mitgebracht hat, aber vielleicht hat er sie ja auch hier gekauft? Und vielleicht kann sich derjenige an unsern Alrik erinnern? Außerdem hab ich noch nie eine gegessen.“ Nicht dass Alesia in nächster Zeit Hunger haben würde. „Wie so eine Cocusnuss wohl schmeckt?“
Rahjada sah sie verwundert an: „Ihr habt noch nie eine gekostet? Dann werden wir das nachholen, sobald wir im Schloss sind. Ich bin sicher, dass noch eine von denen im Vorratsraum lagert, die Kapitänin Fontanoyos bei ihrer jüngsten Südmeerfahrt mitgebracht hat.“
Nach kurzer Suche – allzu groß war der Platz schließlich nicht – fanden sie eine Bretterbude, in der es laut eines an den Dachgiebel genagelten Schildes „Tincturen & Alchimica“ zu kaufen gab. Ein stämmiger Mann mit einer Lederschürze blickte durch Rahjada hindurch und Alesia an, als die beiden vor den überdachten Verkaufsstand traten: „En guta Nachmittag, Sinjora, sagte er in Horathi mit einem erkennbar mittelreichischen Akzent. „Was kann i für Euch tu?“
Alesia blickte kurz auf die Kupferplatte, die den Namen und die Heimat des Manns zeigte: „Meister... Lausinger? Da Ihr aus dem Gratenfelser Land kommt, habt Ihr sicher Schwefel im Sortiment?“
Folkwin Lausinger nickte eifrig und wies auf ein eisenbeschlagenes Kistchen mit einem hellgelben Pulver: „Direkt von der berühmta Quelle.“
Die Degano klaubte mühsam einige jener Substanzen in ihrem Gedächtnis zusammen, die Sergeant Bavo von der Nachtwache erwähnt hatte, und nannte sie dem Händler. Er zeigte ihr fast alle: „Ihr habt Glück, dass i diesa Platz kriegt hab. Da Konkurrent, der eigentlich hier sei sollt, hat die Stadtwach festgnomma, hat der Marktvogt gsagt.“
„Ein ansehnliches Sortiment habt ihr da“, lobte jetzt Rahjada re Kust. Der Gratenfelser blickte sie irritiert an, als ob er sie erst jetzt bemerke. Sie fuhr fort: „Ihr habt heute Vormittag schon einiges verkauft“, sagte sie mit Blick auf den Füllstand einiger der Behältnisse. Er nickte, und Rahjada bohrte weiter: „Hat vielleicht ein Kunde heute mehrere der Grundstoffe erworben, für die sich auch die... Signora interessiert?“
Wie aus dem Nichts flatterte plötzlich ein grün-goldener Horasmantel zwischen Rahjada und Folkwin umher. Der Schmetterling setzte sich auf den braunen Umhang und fächelte sanft mit seinen Flügeln.
Der Mann fixierte das Insekt und kratzte abwesend durch seinen grauen Stoppelbart: „Wo Ihr fraget... ja: Einer hat sowas gekauft. Und auch en Würfel weißa Phosphor im Wasserglas.
Er schaute wieder zu Alesia, die nun aufgeregt fragte: „Erinnert Ihr Euch, wie der Mann ausgesehen hat?“
„Ha... normal halt, einer von hier, glaub i. Dunkler Typ... dunkle Haar und Auga... sonnegbräunt. Sei Kleidung war wie von eim der hiesiga Handwerker. En Zimmerer vielleicht?“ Folkwin war anzusehen, wie er versuchte sich zu erinnern. Es fiel ihm nicht leicht. Mit einer Handbewegung, unterstützt von einer kleinen Münze zwischen ihren Fingern, lenkte Rahjada seinen Blick wieder auf sich zurück: „Irgendetwas Ungewöhnliches? Erinnert Ihr Euch?“
Der Gesichtsausdruck des Gratenfelser hellte sich auf: „Ja, doch... er hatte a Hautbild auf em Handrücka. En Tsasymbol, glaub ich: A Eidechse in Schwarz und Gelb.“
Wortlos blickten Alesia und Rahjada sich an: Erneut diese Tätowierung! Es musste derselbe Mann gewesen sein, der schon Hakan Klapprer nach Ramaúd gelenkt hatte.
„Heute?“, hakte Alesia nach. Folkwin nickte eifrig. „Ihr wisst nicht vielleicht, wohin er mit seinen Einkäufen gegangen ist?“, hoffte sie. Der Händler schüttelte den Kopf: „Nein...“ „Das wäre auch zu einfach gewesen“, bedauerte die Baumeisterin und wandte sich ab. Doch der Gratenfelser fuhr fort: „...ich net. Aber der Laufbursch da. Der hat traga g'holfa. Weil der Mann beide Händ voll g'habt hat.“ Er deutete auf einen vielleicht zwölfjährigen Jungen in abgewetzter Ramaúder Tracht, der an einem nahen Warenstapel lehnte und über den Markt blickte.
Rahjada sog hörbar die Luft ein. Noch ehe Alesia sie zurückzuhalten vermochte, trat die Baronin eiligen Schritts zu dem Laufburschen und wechselte einige Worte mit ihm, wobei eine Münze in seine Hand wechselte. Gleich darauf kam sie mit ihm im Schlepptau zurück zu Alesia: „So, Beleno, und nun sage auch meiner Freundin, was du mir erzählt hast.“
Der Junge nickte wichtig: „Der Fremde hat mich kärglich entlohnt. Falls er bei Euch noch eine offene Rechnung hat, so zeige ich Euch gerne das Haus, zu dem ich ihm heute Vormittag seine Einkäufe getragen habe. Es steht in einer Seitengasse im Spelunkenviertel.“
Rahjada blickte Alesia vielsagend an: „Wir könnten unseren... Schuldner... unverzüglich aufsuchen und herausfinden, was er gerade tut. Wollen wir uns von Beleno hinführen lassen, oder wie sollen wir Eurer Meinung nach am besten vorgehen?“
„In der Tat“, hob die Degano da langsam nickend an, „Der Fremde hat bei uns noch eine Rechnung zu begleichen.“ Sie ließ ihren Blick von dem Knaben zur Signora und wieder zurückgleiten. „Weswegen wir ihn dringend suchen. Und weil wir ihn dringend suchen, wird dein Lohn, wenn du, Beleno, uns zu im führst, gewiss nicht kärglich ausfallen. Doch es muss unauffällig geschehen, schließlich wollen wir nicht, dass er uns entwischt und wir ihn erneut suchen müssen.“
Natürlich sorgte sich Alesia, was die Signora und sie gegen einen solchen Mann alleine auszurichten vermochten, aber sie sah auch keinen Sinn darin gleich mit der Stadtwache dorthin zumarschieren. Das erregte zu viel aufsehen, möglicherweise würde er ihnen so sogar eher entkommen und wer sagte denn, dass er zuhause war und nicht just in dem Augenblick um die Ecke bog, da die Stadtwache sich aufmachte ihn zu stellen? Alesia wagte aber nicht, etwas davon in Anwesenheit des Jungens laut auszusprechen.
„Ich finde“, wandte sie sich an die Signora, „wir sollten uns einmal ansehen, wo unser Schuldner sich derzeit aufhält, dann werden wir weiter sehen.“ Sie nickte einmal energisch, ehe sie sich wieder an den Knaben wand: „Beleno, kannst du uns ohne großes Aufsehen dorthin bringen?“
Der Laufbursche nickte grinsend und streckte geschäftstüchtig die mittlerweile wieder leere Hand aus: „Ohne Aufsehen. Zwei Damen. Ins Spelunkenviertel. Kann ich.“ Wortlos legte Rahjada zwei weitere Heller in seine Handfläche. Dann schritt Beleno voran.