Briefspiel:Plötzlich Delegierte/In der Villa Ricarda III
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In der Villa Ricarda - Teil III: Das Spiel der Tugenden
„Wir haben alle unser Päckchen zu tragen.“
Auricanius' Erwiderung klang wie eine trockene Feststellung. Es waren mehr seine Gesichtszüge, die erahnen ließen, dass er mit den Geschehnissen vor bald zwölf Götterläufen tatsächlich seinen Frieden gemacht hatte.
Nach kurzer Pause setzte er den Weg zur Villa dann fort.
„Nunja, lasst uns über anderes sprechen“, griff er Rahjalins Überleitung auf. „Habt ihr schon einmal das 'Spiel der Tugenden' kennengelernt, Monsignore, das an der Universität in Methumis auch als 'Curriculum Vitae' bekannt ist?“
Auricanius blickte nur kurz zu seinem Gastgeber, erhaschte einen zunächst fragenden Gesichtsausdruck.
„Wisst ihr, dieses durchaus lehrreiche Spiel mitzuentwickeln sehe ich als einen der bedeutenderen Beiträge meiner Tätigkeit an der Universalschule an, obschon er mit der eigentlichen Dozentenarbeit vielleicht nur ganz am Rande zu tun hatte.“
Der Praios-Geweihte strahlte geradezu, als er darüber sprach.
„Im Wesentlichen lehrt dieses Spiel, dass die Tugenden der Zwölfe sich vielfach überschneiden und die Differenzen – zwischen Praios und Phex etwa – die viele zu sehen glauben, von einer falschen Betrachtung herrühren. Schon die Entwicklung des Spiels war dahingehend sehr lehrreich. Die Gespräche, die ich dazu mit eurer Tochter führen durfte, haben sogar sehr wesentlich die Auswahl der im Spiel berücksichtigten Tugenden Rahjas beeinflusst, müsst ihr wissen.“
Inzwischen an der Veranda angekommen, blieb Auricanius wieder stehen und sah Rahjalin erwartungsvoll an.
Rahjalin war sehr zufrieden damit, dass Auricanius mit der Feuernacht abgeschlossen hatte.
„Nein, von diesem Spiel habe ich bislang nicht gehört. Das klingt ja spannend! Was für Tugenden überschneiden sich denn beispielsweise zwischen Praios und Phex, wenn Ihr die Frage erlaubt?“
Er war nun ebenfalls an der Veranda angekommen. Das Lächeln wurde etwas glücklicher, als Auricanius berichtete, dass seine Tochter bei diesem Spiel einen Einfluss gehabt hatte.
„Es freut mich, zu hören, dass Rahjada den Tugenden Rahjas nahesteht, auch wenn ich eigentlich nichts anderes erwartet habe. Ihre Mutter, eine Winzerin, war ebenfalls rahjagläubig.“
Ein kurzes Zögern, als habe er zu viel erzählt. Auricanius wusste wahrscheinlich noch nichts Genaueres über Rahjadas Vergangenheit und er fragte sich, ob er das Recht hatte, es mit ihm zu teilen.
„Im Wesentlichen hatte ich in den letzten Jahren eher den Eindruck, dass sie sich besonders der Allwissenden und ihrem halbgöttlichen Sohn Nandus zugewendet hat. Was ich natürlich ebenso unterstütze, nicht dass es hier zu einem Missverständnis kommt. Es macht mich sehr stolz, dass sie so gut an der Universität war.“
Sie gingen die drei Stufen zur Veranda nach oben und Rahjalin wies auf die gepolsterten Sitzgelegenheiten um einen kleinen Tisch herum, bevor er sich selbst auf einem der Stühle niederließ. An der Hauswand dahinter lehnte Aurelias Gemälde mit den Weinbergen im Sonnenuntergang.
„Wenn es Euch nichts ausmacht, würde ich vorschlagen, dass wir bei dem schönen Wetter hier draußen eine kleine Erfrischung genießen, bevor das Essen fertig ist. Danke!“ Das letzte Wort galt einem Bediensteten, der ein Tablett mit zwei Kelchen und einer Weinkaraffe auf dem Tisch abstellte, sich vor beiden Monsignores verneigte, und wieder ins Gebäude verschwand.
„Oh, da seht ihr mich mein Vertrauen ganz in euch setzend“, nahm Auricanius die Einladung zum Verweilen auf der Veranda wortreich an. „Ihr seid hier zu Hause und wisst, wo es am schönsten ist.“
Geduldig ließ er sich danach einen der Kelche reichen, nachdem er gefüllt war.
„Zu eurer Frage nach den Tugenden Praios' und Phexens“, griff er dann zunächst die letzte Frage Rahjalins auf, „sei betont, dass es sich beim Spiel notwendigerweise um eine Abstraktion handelt, die nur einen Teil der mannigfachen Tugenden der Zwölfkulte abbilden kann. Für den göttlichen Richter sind dies die Ordentlichkeit, die Demut, die Wahrheit, die Aufrichtigkeit und schließlich die Gerechtigkeit. Für den alveranischen Fuchs sind es Humor, Geduld, Kreativität, Selbständigkeit und als sogenannte Königstugend die Gerissenheit. Direkte Übereinstimmungen gibt es da also nicht, für den aufmerksamen Spieler allerdings auch keine Gegensätze, wobei das bei der Gerissenheit zugegebenermaßen immer wieder gerne diskutiert wird. Die Diskussion allein, in einem meist lockeren Umfeld abseits der Lehrräume wohlgemerkt, war gleichwohl ein Aspekt, der das Spielen für sich nicht selten besonders lehrreich machte.“
Er nahm nach dieser Erklärung einen Schluck und genoss die Aussicht über den Garten. In seinem Kopf gingen ihm dabei Gedanken zum offensichtlich zerrissenen Verhältnis des Rahja-Hochgeweihten zu dessen eigener Tochter um, die er aus dessen bisherigen Reaktionen zu jeder Erwähnung Rahjadas ableitete. Auricanius verkniff es sich deshalb auch erstmal, Rahjalin in seinem Stolz auf die universitären Leistungen der Esquiria zu bestärken.
„Dieses Spiel könnte durchaus geeignet sein, jüngere Novizen spielerisch näher an alle Zwölfe heranzuführen, sodass ein stabiler Ausgleich zwischen der einzelnen Verehrung der jeweiligen Gottheit und der Verehrung aller zwölf Geschwistern geschaffen wird“, sinnierte Rahjalin.
„Nutzt Ihr es bereits als Lernmittel im Turaniter-Kloster oder gar im Ricardiner-Kloster? Wie ich von meiner Tante erfuhr, unterrichtet Ihr manchmal auch dort.“
Er nahm genießerisch einen Schluck Wein und schloss die Augen, während er sich den Geschmack auf der Zunge zergehen ließ.
„Wenn es sich käuflich erwerben lässt, würde ich es auch für meinen Tempel in Betracht ziehen, natürlich erst, wenn Ihr mich in einer Partie von seiner Eignung überzeugt habt.“
Der Rahjani schmunzelte.
Auricanius lächelte anerkennend.
„Oh, ihr seht Möglichkeiten, die ich selbst noch gar nicht in Betracht gezogen habe. Tatsächlich versuche ich zumindest einmal im Götterlauf nach Sancta Ricarda zu kommen, um die guten Beziehungen aufrecht zu erhalten, wenn man so will. Unter benachbarten Klostergemeinschaften halte ich das für wichtig. Wegen der stets nur kurzen Aufenthalte habe ich vom Mitführen des Spiels bisher aber abgesehen.“
Der Praios-Geweihte fasste sich ans Kinn, möglicherweise bedenkend, dies künftig zu ändern.
„Bei den Novizen in Urbasi – aber nicht nur diesen, auch den regulären Ordensmitgliedern – gab es jedoch schon Gelegenheit, sie damit vertraut zu machen. Als formelles Lernmittel gilt es gleichwohl nicht.“
Auricanius sah Rahjalin an: „Käuflich erwerben lässt es sich davon ab nicht, jedenfalls nicht, dass ich wüsste. Ein merkantiles Interesse stand nie dahinter. An der Universität in Methumis, wo ja auch andere an der Entwicklung des Spiels beteiligt waren …“ Auricanius musste sich die explizite Erwähnung Rahjadas wieder verkneifen. „… gibt es eine Handvoll Exemplare, ein weiteres ging als Geschenk ins Sangreal. Euch ein ebensolches anfertigen zu lassen, wäre mir aber eine Freude … auch wenn ich dazu wohl erstmal bei der Holzzunft nachfragen muss, wer dafür in Urbasi der geeignetste Schnitzer ist.“
Damit hielt er Rahjalin den Weinkelch hin, als gelte es auf diesen 'Handel' anzustoßen.
„Oh, wirklich? Das ist sehr freundlich, danke!“ Rahjalin strahlte Auricanius an und stieß mit seinem Weinkelch gegen den ihm hingehaltenen.
Einen Wimpernschlag lang sah er nachdenklich aus, bevor er seinen Gast angrinste. „Ich merke schon, Ihr seid der geborene Politiker! Im Handumdrehen habt Ihr es geschafft, dass ich in Eurer Schuld stehe und überlege, wie ich Euch etwas zurückgeben kann.“
Er schien die Feststellung rein als Kompliment zu meinen, ja gar nicht auf den Gedanken zu kommen, dass so eine Bemerkung auch negativ aufgefasst werden könnte. Und er schien darauf zu warten, dass Auricanius ihm etwas nannte, was er für ihn tun könnte. Währenddessen nahm er das andere Thema wieder auf.
„Es ist erfreulich zu hören, dass Ihr die Beziehungen zwischen den Klostern stärken wollt. Generell bin ich ebenso der Meinung, dass Tempel und Klöster viel mehr zusammen statt gegeneinander arbeiten sollten. Meines Wissens nach gefällt Disharmonie keinem der Zwölfe und in der weltlichen Politik gibt es ohnehin schon mehr als genug davon.“
„Nicht nur in der Politik“, wandte Auricanius ein. „Die Gemeinschaft der Zwölfe muss auch deshalb stark sein, weil die Herausforderungen durch äußere Widersacher nicht weniger werden …“
Er machte dabei kurz einen abwesenden, besorgten Eindruck, wechselte dann aber das Thema.
„Schuld ist in meinen Augen indes nur der, der vom Richter schuldig gesprochen wird – und sei es vom höchsten in Alveran …“
Dabei machte er eine Geste zur Praiosscheibe.
„Drum glaubt nicht, dass ich in anderen Schuldbegriffen denke – das überlasse ich den wahrhaft geborenen Politikern … und Krämern …“, lächelte er verschmitzt.
„Ich bin überaus glücklich, wenn ich mich nicht mit der Politik beschäftigen muss, hier oder im Konvent. Schon deshalb stünde – aus Krämersicht – wohl ich in eurer Schuld und nicht umgekehrt.“
Dass er dabei Rahjadas Delegiertenverhältnis meinte, erschien ihm klar zu sein, auch wenn er ihren Namen abermals nicht aussprach.