Briefspiel:Plötzlich Delegierte/Treffen in Vinsalt III
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Treffen in Vinsalt - Teil III: Monstranzen und Novizen
Als Rahjada am großen Tempel des Gerechten Gottes, dem zentral auf dem Tempelberg gelegenen Haus des Götterfürsten ankam, fiel ihr die wappengeschmückte Kutsche ihres Dienstherrn, versetzt neben dem monumentalen Säulenvorbau stehend, schon auf. Zwei Bedienstete lehnten lässig an einem der Kutschräder. Ansonsten schien die Karosse verlassen zu sein.
Rahjada legte den Kopf in den Nacken und schirmte ihre Augen vor der Sonne ab, um das prächtige Gesims des Vorbaus betrachten zu können. Natürlich war sie nicht das erste Mal hier – die Konventshalle, in der der Kronkonvent tagte, lag ja nur wenige Schritte entfernt – doch der Ort hatte etwas an sich, das sie jedes Mal wieder ehrfürchtig staunen ließ.
Der Anblick der Kutsche erinnerte sie daran, dass sie nicht zum Spaß hier war. Sie beschleunigte ihre Schritte etwas, als sie zuerst den Säulenvorgang durchquerte und dann an den reglos wie Statuen dastehenden und geradeaus starrenden Tempelwachen vorbei die Große Tempelhalle betrat.
Sie fühlte sich unter der hohen Decke wieder wie ein Kind. Alles war so riesig, hell, gleißend und … golden. Überall zeigte der Tempel seinen Reichtum und wie immer nahm ihr das für ein paar Wimpernschläge den Atem. Es war einfach schwer, sich sattzusehen und noch schwerer, an ihr eigentliches Vorhaben zu denken: nach ihrem Dienstherrn Ausschau zu halten.
Schließlich erspähte sie ihn zusammen mit Praialissa della Turani und einem Novizen in der Kapelle des Rechtsetzers.
Sie ging auf die drei zu und knickste tief, sobald sie sie bemerkten.
„Praios zum Gruße, Monsignor Auricanius, Ehrwürden Praialissa.“ Ihr Blick blieb zuletzt bei dem Novizen hängen. „Wir sind uns noch nicht begegnet, Signor…?“
Auricanius nickte Rahjada lächelnd zu, ebenso tat es Praialissa. Am nächsten stand ihr aber der Novize, der sich tief verbeugte und sie dann für einen Augenblick etwas verlegen ansah.
„Nepolemo“, brachte er erst nur kurz angebunden heraus. Obwohl er bereits größer war als sie selbst, wirkte er eingeschüchtert … oder eher beeindruckt? Er schien vor allem ihr elegantes Kleid zu bewundern, besann sich dann aber doch noch zu einer ausführlicheren Auskunft.
„Nepolemo Gonzalo di Dalias y Urbet ist mein Name, Signora. Ich bin sehr erfreut eure Bekanntschaft zu machen.“
Die Vorstellung wirkte eingeübt, oder besser: erlernt; machte aber nicht den Eindruck, als habe er sie schon allzu häufig in der Praxis angewandt.
Sein Onkel betrachtete den noch etwas hölzernen Versuch des Neffen in der Umsetzung hochgesellschaftlicher Umgangsformen schmunzelnd, drehte sich dann aber nochmal halb von der Esquiria und dem Novizen weg. Praialissa setzte darum eine Ausführung über die künstlerische Gestaltung der ihr überantworteten Kapelle fort, bei der sie durch Rahjadas Ankunft wohl unterbrochen wurde.
„Seid ihr die Signora Solivino?“, traute sich währenddessen Nepolemo, der Hinzugekommenen selbst eine Frage zu stellen.
Rahjada zog die Brauen ein winziges bißchen zusammen. Natürlich war das Gespräch den beiden hohen Geweihten wichtiger als eine junge Esquiria. Sie gab sich alle Mühe, es nicht persönlich zu nehmen, dennoch konnte sie das Gefühl nicht ganz verdrängen, dass die beiden Älteren sie auf eine Stufe mit dem heranwachsenden, vielleicht 16-jährigen Novizen stellten. Völlig zu Unrecht, sie zählte immerhin schon 22 Götterläufe und war sehr wohl in der Lage, mit älteren Erwachsenen auf Augenhöhe Gespräche zu führen.
Aber für die Situation konnte der Novize am allerwenigsten etwas. Er wirkte schüchtern, etwas unbeholfen und das rührte sie. Auch sie hatte Ewigkeiten gebraucht, um ihre Schüchternheit loszuwerden und an der Universität endlich ein paar Mitstudiosi anzusprechen. Sie lächelte Nepolemo beruhigend an.
„Das ist richtig. Rahjada Solivino. Seid Ihr ein Verwandter des Monsignors?“
Nepolemo nickte sofort auf die Frage Rahjadas, besann sich dann aber, dass wohl eine ausformuliertere Antwort angebracht war.
„Das bin ich, Signora“, fing er an und schien sich die richtigen Worte dabei noch zurechtzulegen. „Prior Auricanius ist mein Onkel. Meine Mutter ist Yandriga, die ältere Schwester des Priors.“
Der Novize betonte das 'ältere' nur subtil anders, lächelte dabei aber fast … verwegen, als sei es zwar wichtig, doch unziemlich, auf diese Seniorität hinzuweisen. Für einen Moment schien er abzuwarten, ob er dafür gescholten würde. Da Praialissa mit den Ausführungen zur theologischen Bedeutung der Monstranzen in 'ihrer' Kapelle des Rechtsetzers gegenüber seinem Onkel ungerührt fortfuhr, entschied er aber das Gespräch fortzusetzen.
„Ihr entstammt dem Geschlecht der Heiligen Ricarda“, fuhr er fort – und betonte den Satz zunächst eher wie eine Frage, bis er sich erst zum Ende hin auf eine Feststellung umentschied.
„Ihr seid von heiligem Blute.“ Den zweiten Satz flüsterte er fast, ließ ihn aber dennoch ehrfürchtig klingen. Dann räusperte er sich und fuhr dennoch kaum lauter fort: „Wisst ihr, das ist etwas Besonderes. Heiliges Blut. Die della Turani haben es vor allem, wegen des Heiligen Ageriyano, aber ich auch. Von meiner Mutter, die ein Nachfahrin der Heiligen Lutisana ist … und der Heiligen Aureliana. Aber auf sowas sollte man sich nichts einbilden!“
Gerade den letzten Satz betonte er sehr bestimmt, auch wenn Rahjada unsicher war, ob er es einer ihm vermittelten Lektion wegen oder doch aus eigener Überzeugung tat. So sicher er eben übers heilige Blut referierte, so verlegen ging es allerdings weiter …
„Ihr seid sehr hübsch, Signora.“
Ihm stieg die Röte bei dieser Aussage ein bißchen ins Gesicht, bevor er den polierten Tempelboden neben Rahjada fixierte – und nicht zu wissen schien, ob und wie er nun noch fortfahren sollte.
Nepolemo überraschte Rahjada gleich zweimal. Noch nie hatte sie ihre Abstammung väterlicherseits in dem Licht betrachtet, dass sie durch ihn heiliges Blut hatte. Musste sie ihm dafür dankbar sein? Darüber würde sie gründlich nachdenken müssen, in Ruhe. Mit neuem Interesse musterte sie den Novizen und konnte sich bei dem Hinweis, man solle sich auf dieses heilige Blut nichts einbilden, ein Grinsen nicht länger verkneifen.
Bei dem völlig unerwarteten Kompliment errötete sie leicht und war einen Augenblick sprachlos.
„Ich … äh, vielen Dank, Signor.“
Sie ließ ihren Blick durch den Tempel schweifen. Warum war es auf einmal so heiß hier drin? Es musste diese gleißende Helligkeit überall sein, die Nähe des Gottes der Sonne, ja, das musste es sein.
„Ihr versteht Euch auf die Kunst der Galanterie, Signor Nepolemo, das ist eine äußerst nützliche Gabe“, richtete sie das Wort wieder an ihn, als das Schweigen sehr unangenehm wurde. Sie schob ihre Verlegenheit beiseite und schenkte ihm ein liebenswürdiges Lächeln.
„Mit Sicherheit habt Ihr Zuhause – in Urbet? – die eine oder andere Verehrerin? Vielleicht sogar eine Glückliche, die schon sehnsüchtig auf Eure Rückkehr wartet?“
Rahjada senkte ihre Stimme bei diesen Worten. In einem Praios-Tempel laut über solche nun eher rahjanischen Themen zu sprechen geziemte sich einfach nicht. Jetzt war sie tatsächlich dankbar über das Gespräch, in das Praialissa und Auricanius vertieft waren, denn es ließ sie hoffen, dass Auricanius ihr gerade nicht allzu viel Aufmerksamkeit schenkte.
Der Novize schüttelte bei Rahjadas letzter Frage zunächst nur den Kopf, bevor er sich an die Bedeutung des gesprochenen Wortes erinnerte.
„Oh … nein!“
Er zögerte kurz.
„Ich bin doch nur wenige Tage im Jahr in Urbet.“
Die nachgeschobene Erklärung gab er mit einer Inbrunst ab, als sei sie der Hauptgrund für diesen Umstand. Sein kurzes, zufriedenes Lächeln dabei ließ sich aber auch so deuten, als sei er nur stolz, so schnell eine Ausrede gefunden zu haben.
„Die meiste Zeit verlasse ich das Kloster in Turani nicht. Eine so große Stadt wie Vinsalt habe ich noch nie gesehen. Jedenfalls nicht, dass ich mich erinnern könnte.“
Er schien für einen Augenblick nachzudenken, fuhr dann jedoch noch fort: „Mein Zuhause ist aber in Almada … also meine Heimat gewissermaßen. Da bin ich geboren. Mein Onkel nimmt mich da mit hin, zum ersten Mal, weil meine Mutter von da weggezogen ist, kurz nachdem ich geboren wurde. Mein Vater ist schon vor langer Zeit gestorben.“
Gerade die letzte Aussage wirkte für Rahjada sehr sachlich, als habe Nepolemo nie eine Beziehung zu seinem Vater gehabt oder aufbauen können.
„Das tut mir Leid. Ich … ich verstehe, wie es sich anfühlt. Der Tod meiner Mutter ist auch sehr lange her.“
Sie senkte den Blick auf ihre Schuhspitzen. Anders als bei Nepolemo hörte man deutlich Bedauern heraus, Bedauern, nicht mehr Zeit mit ihr gehabt zu haben.
„Mein Spiegelbild und eine verblassende Erinnerung ist das einzige, was ich von ihr noch habe. Mein Vater sagt, ich sähe ihr sehr ähnlich, obwohl die meisten anderen meinen, ich käme sehr nach ihm.“
Als würde dieser Umstand sie irgendwie ärgern, runzelte sie die Stirn. Entschlossen, sich von solchen Überlegungen nicht die Stimmung vermiesen zu lassen, schüttelte sie leicht den Kopf. Ihr Lächeln kehrte zurück.
„Ihr seid das erste Mal in Vinsalt? Das muss überwältigend sein! Für mich war es das jedenfalls. Wenn Ihr etwas länger hierbleibt, sind auf jeden Fall die Oper und das Immanstadion einen Besuch wert, sogar wenn dort gerade kein Spiel stattfindet. Der Firdayon-Palast ist auch sehr beeindruckend und natürlich haben wir noch den Rahjapark, ein wirklich schöner Ort. Ihr wisst sicher bereits, dass es hier von allen Zwölfen und den meisten Halbgöttern Tempel gibt.“
Ihre Stimme hatte einen schwärmerischen Klang angenommen, während sie in Erinnerungen an ihren ersten Tag in der Hauptstadt schwelgte.
„Oh, was rede ich denn da, Ihr bleibt wahrscheinlich gar nicht länger hier. Ihr begleitet Euren Onkel auf der diplomatischen Mission ins Mittelreich, nach Almada?“
Nepolemo sah bedrückt aus, als Rahjada vom Tod ihrer Mutter sprach. Den Schwärmereien über Vinsalts Attraktionen folgte er dann mit großen Augen.
„Zur Trollpforte sogar“, antwortete er schließlich auf die letzte Frage, mehr ahnend als wissend, dass dies ein fernes und bedeutungsschweres Reiseziel war. Die Dritte Dämonenschlacht, von der er natürlich schon manches Mal gehört hatte, hatte immerhin stattgefunden, bevor er überhaupt geboren war.
„Almada liegt auf dem Weg dahin“, ergänzte er noch, doch auch dieses Wissen schien er rein von einer Karte oder den Erläuterungen anderer zu haben. Vielleicht auch deshalb kam er nochmal auf Rahjadas vorige Worte zurück.
„Das mit eurer Mutter tut mir leid. Wenn ihr euch daran erinnern könnt, ist es bestimmt viel schlimmer.“
Er stockte einen Moment, als suchte er nach einem fröhlicheren Thema, das er anschneiden konnte.
„Wenn sie aussah wie ihr, wird sie aber nie in Vergessenheit geraten müssen. Mein Vater war ein Krüppel, heißt es. Ich hoffe, dass ich nicht nach ihm gerate.“
Dabei sah er betreten auf den Boden, als schämte er sich sogleich über das harte Urteil, das er über einen … ihm Unbekannten gefällt hatte. Oder war es die Verlegenheit, die ihn dies wieder tun ließ?
„Ihr seht aber auch eurem Vater ähnl...“
„Nanana“, unterbrach Auricanius seinen Neffen plötzlich. „Was lehrt uns das Gebot der Gerechtigkeit? Dass es fein ist, so über Abwesende zu sprechen? Selbst, wenn sie verstorben sind?“
Der Baron und seine andere Delegierte schienen mit der Betrachtung der Monstranzen fertig zu sein. Die Zurechtweisung in Form einer Lektion war für den ertappt dreinblickenden Novizen die unmittelbare Folge. Ein Lächeln Auricanius' nahm dieser nach ein, zwei weiteren Augenblicken jedoch wieder die Schärfe.
„Ihr habt euch einander bekannt gemacht?“, fragte der Praios-Geweihte allenfalls rhetorisch. „Sehr schön. Die Signora hat dich sogar für deine Galanterie gelobt, Nepolemo.“
Sollte ihn dies aufmuntern? Es verriet vor allem, dass der Baron dem Gespräch neben ihm zumindest mit einem halben Ohr auch gefolgt sein musste.
„Von der Meisterschaft in dieser Disziplin bist du gleichwohl noch weit entfernt.“ Mehr an Rahjada gewandt, erklärte er dazu: „Dieser junge Mann hat noch viel zu lernen, Signora.“
Dann griff er Rahjadas Hand, verbeugte sich demonstrativ – und nahezu formvollendet – vor ihr, als sei sie die Fürstin selbst, hauchte ihr einen Kuss auf die Hand und sprach: „Signora, höchstgeschätzte Licentiata, verzeiht mir bitte, dass ich nicht sofort für Euch da war. Es sollte Euch nicht brüskieren. Ich hoffe, Ihr hattet wenigstens wohlgefällige … obschon lernbedürftige … Gesellschaft, während ich den Ausführungen der Luminifera, Reverenda Praialissa, meine ungeteilte Aufmerksamkeit schenkte.“
Ein kurzes Zwinkern, das wohl nur Rahjada sehen konnte, schloss die scheinbare Demonstration ab.
Ein schnelles Blinzeln war das einzige, das Rahjadas Überraschung bei Auricanius‘ übertrieben höflicher Begrüßung verriet. Sie schmunzelte, als sie verstand, was für einen Zweck der Baron die ganze Zeit und auch jetzt noch mit dieser perfekten, höfischen Geste verfolgte.
„Monsignor, Euch wiederzusehen erhellt mein Herz, ebenso wie die Vorfreude auf dieses Treffen diesen Tag zu einem besonderen gemacht hat. Ihr habt mein vollstes Verständnis, ebenso wie meine Vergebung, auch wenn es wirklich nichts gibt, was ich Euch verzeihen könnte. Die Gesellschaft Eures geschätzten Neffen war mehr als angenehm. Wenn ich mir diese Bemerkung erlauben darf …“ Das Zögern war kaum merkbar, aber es war da. „Niemand hat je ausgelernt und somit haben wir alle noch viel zu lernen. Signor Nepolemo ist meiner Einschätzung nach seinen Altersgenossen weit voraus.“
Rahjada warf dem Novizen einen wohlwollenden Blick zu.
„Er wird sicher einmal ein großartiger Geweihter.“
Unwissend verwendete sie fast dieselbe Formulierung wie ihr Vater zuvor, doch Auricanius war der einzige, dem das auffallen konnte.
„Es ist mir wie immer eine besondere Freude, Reverenda“, wandte sie sich daraufhin zu Praialissa, wie die Etikette es verlangte, und neigte leicht den Kopf.
Auricanius strahlte: „Wohlan, wollen wir über Politik reden?“
Eine weitere rhetorische Frage, bei der der Baron seine beiden Delegierten und den Novizen nun einlud, den Tempel des Gerechten Gottes wieder zu verlassen.
„In den Gärten des Tempelbergs vielleicht, um das schöne Frühlingswetter zu genießen?“