Briefspiel:Plötzlich Delegierte/Treffen in Vinsalt II
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Treffen in Vinsalt - Teil II: Ankunft der Monsignores
Früher am selben Tag:
Auricanius sah für einen Moment gedankenverloren aus dem Kutschfenster, als die südlichen Ausläufer der Hauptstadt an ihnen vorbeizogen.
„Haldurias“, murmelte er leise und dachte über die Bedeutung dieses Begriffs nach. Er schien mehr eine Landschaft als einen einzelnen Ort zu beschreiben, für die Gesamtheit der Weiler und Gutshöfe zu stehen, die irgendwann nahtlos in den Trubel Vinsalts übergingen. Hier fiel selbst ihr kleiner Wagenzug auf der zum Yaquir führenden Kronstraße kaum noch auf.
Am Vorabend hatten sie kurz vor Centano eine weitere Kutsche seines Ordens eingeholt. Bruder Azzo, ein Laiendiener der Turaniter, war mal wieder auf einer seiner Fahrten, um Brieftauben aus den Klöstern in Turani und Urbasi in den ihnen auf dem Tempelberg zur Verfügung stehenden Schlag zu bringen. Die Tauben waren das Rückgrat ihrer Nachrichtenübermittlung – das wusste Auricanius besser als jeder andere, denn er nutzte sie unter allen Ordensmitgliedern am meisten. Sein reger Briefverkehr – in die Hauptstadt, zur Universität nach Methumis, selbst ins Sangreal – hatte überhaupt erst dazu geführt, dass die Taubenschläge in Urbasi die in Turani inzwischen von der Größe her weit in den Schatten stellten.
Ihr nächtlicher Aufenthalt in Centano hatte den gesetzten Zeitplan aber auch leicht zurückgeworfen. Eigentlich war geplant gewesen, schon gestern in Vinsalt anzukommen. Auricanius nahm die Verzögerung allerdings gelassen. Er war frühes Aufstehen gewöhnt. Und er hätte am Vorabend in der Dämmerung kein so geschäftiges Haldurias gesehen, wie er es jetzt tat.
Seinen Neffen, den neben ihm sitzenden Novizen Nepolemo, schien der frühe Aufbruch ebensowenig gestört zu haben. Er beobachtete das Treiben auf der Straße und den Feldern um sie herum interessiert, schien die Abwechslung, die ihm hier vom sonst abgeschiedenen Klosterleben geboten wurde, geradezu zu genießen. Auricanius sah das gerne, da es ihn in seiner Entscheidung, den Sohn seiner Schwester mit auf seine Reise ins Mittelreich zu nehmen, bestärkte. Nepolemo würde in den folgenden Wochen und Monaten noch so viel mehr sehen – und hoffentlich mehr als nur vereinzelte Lektionen seines Onkels lernen.
Den anderen Insassen ihrer Karosse schien das frühe Aufstehen mehr aus seinem Rhythmus geworfen zu haben: Rahjalin, der Gastgeber der Leidenschaft Urbasis, hatte seine Einladung, das letzte Stück nach Vinsalt in Auricanius' Kutsche mitzufahren, zwar angenommen, war bislang aber nicht allzu gesprächig gewesen. Womöglich wegen einer gewissen Müdigkeit, dachte der Praios-Geweihte. Vielleicht auch aus anderem Grund, einer unterschwelligen Furcht vor der Begegnung mit seiner Tochter etwa. Auricanius hatte ihm die Zeit zum Nachdenken jedenfalls nicht übermäßig nehmen wollen.
So ließ er einen weiteren Blick aus dem Kutschfenster schweifen und merkte, dass sie der südlichen Umfriedung Alt-Bosparans schon sehr nahe gekommen waren. Rechterhand erhob sich bereits der Avestan, der südlichste der sechs Hügel des alten Bosparan, neben dem Kaiserskopf/Horatin auch der einzige bis heute nicht wieder nennenswert bebaute.
„Monsignore“, sprach Auricanius Rahjalin nun doch wieder an, „wie gut kennt ihr eigentlich die Hauptstadt?“
Es war eine rhetorische Frage, da der Praios-Geweihte gar keine Antwort abwartete.
„Wart ihr schon einmal auf dem Avestan? Auf dem stand einst der älteste Tempel Aves' in ganz Aventurien, wenn man den Erkenntnissen mancher Gelehrter glauben darf. Der Rahjasohn selbst soll hier zum ersten Mal aventurischen Boden betreten haben, heißt es. Die Ruinen lassen es bis heute erahnen, kann ich euch versichern. Sie haben etwas erhabenes an sich. Hatten es jedenfalls, als ich ihn einmal erkletterte.“
Interessiert harrte Auricanius einer Antwort des Rahja-Geweihten.
Rahjalin hatte sich im Anblick der Landschaft verloren und war mit seinen Gedanken weit weg gewesen. Zwischendurch hatte er sogar ein bisschen gedöst. Als Auricanius ihn ansprach, brauchte er einen Moment, um ins Hier und Jetzt zurückzukehren. Er wandte sich dem Praios-Geweihten zu, lächelte ihn an. Beiläufig bemerkte er, dass Auricanius wieder die formelle Anrede verwendete.
„Nein, da war ich noch nie. In der Hauptstadt war ich bisher tatsächlich kaum, nur ein-, zweimal, um mir die Vinsalter Oper anzuhören und den Rahja-Tempel zu besuchen. Nach allem, was Ihr da erzählt, war es wohl ein großes Versäumnis, diesen Ort nicht schon damals aufgesucht zu haben. Ein Versäumnis, das es möglichst schnell nachzuholen gilt.“
Seine Hand wanderte zu dem Rahja-Amulett, das er quasi ständig um den Hals trug.
„Ich wollte auch den Tempel noch einmal besuchen. Ihr habt erwähnt, zuerst mit meiner Tochter und der Luminifera über ihre Delegiertenarbeit sprechen zu wollen. Wenn es Euch nichts ausmacht, würde ich in dieser Zeit den Tempel und den Avestan besuchen. Bei Gesprächen über Politik wäre ich sowieso keine große Hilfe.“
Er würde diese Zeit auch brauchen, um seinen Geist freizumachen. Seine Gedanken waren düsterer und flatterhaft geworden, auch seine Gefühle hatte er nicht mehr so gut unter Kontrolle wie er es sich wünschte. Bestimmt stellten ihm seine Glaubensgeschwister in Vinsalt eine ruhige Ecke in ihren heiligen Hallen zur Verfügung, um ein Stündchen zu meditieren.
Etwas später:
Mit einem letzten Ruckeln kam die Karosse des Barons von Cindano auf der 'Vindt' zum Stehen. Die eigentümlich benannte Straße war die einzige Verbindung in den südwestlichen Teil des Viertels Yaquirpark, in dem – neben dem hochexklusiven Casino der Aves-Freunde etwa – auch der Tempel der Heiteren Göttin lag. Das Haus Rahjas in der Hauptstadt war von einem durch hohe Hecken abgeschirmten Park umgeben. Am nördlichen Zugang zu diesem kam hinter der Kutsche Auricanius' auch die leere zweite, Rahjalins, zum Halt.
Die beiden Hochgeweihten stiegen aus der ersten aus.
„Rahjalin, ich wünsche dir ein paar angenehme Stunden. Grübel nicht zu sehr. Und vergiss unsere Verabredung nicht!“
Auricanius lächelte den Rahjani, den er im Zwiegespräch, ohne den zuvor daneben sitzenden Novizen, wieder informell ansprach, aufmunternd an.
„Danke, Auricanius“, lächelte Rahjalin zurück.
Er blickte an ihm vorbei in die Kutsche und senkte die Stimme. „Dein Neffe ist ein liebenswürdiger junger Mann, überaus höflich. Er wird sicher einmal ein ebenso großartiger Geweihter wie du.“
Mit einer angedeuteten Verbeugung verabschiedete er sich und betrat voller kribbelnder Vorfreude den Park. Der Rosenduft, das leise Vogelgezwitscher und das entfernte Gelächter schufen bereits nach wenigen Schritten eine Atmosphäre, die ihn wie eine innige Umarmung willkommen hieß.
Der Baron wandte sich dann an den vordersten seiner berittenen Begleiter: Cavalliere Poldoron führte die Handvoll Bewaffneter an, die dem Zug Auricanius' Bedeckung gaben.
„Wohlan, Cavalliere, auf zum Rondra-Tempel. Lass uns deine Schwester suchen!“