Briefspiel:Abschiedstränen
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28. Rahja, Tag des Hl. Segastiano, im Jahre 1039 BF
Sewamund
Die kleine Gruppe schritt auf den südlichen Kai zu. Tsabella führte ihren Sohn Croenar an der rechten Hand. Sonst war dem zehnjährigen Jungen solche Nähe seiner Mutter nicht recht, zumindest nicht in der Öffentlichkeit, doch an einem Tag wie diesem war ihm ob des bevorstehenden Abschieds wohl ebenso mulmig zumute wie ihr. Wohl keiner liebenden traviagläubigen Frau fiel es leicht ihr Kind fortzuschicken, fort über das Meer, fort in ein anderes Land - doch es musste sein. Es galt sich um eine standesgemäße Ausbildung ihres Sohnes zu bemühen. Kein leichtes Unterfangen, denn einerseits war der Leumund seiner Familie väterlicherseits nicht gerade wohlgelitten im Horasiat und andererseits erschwerten die Umstände ihrer Trennung von ihrem Gatten die Suche nach einem passenden Adelshof, um dort zunächst als Page, dann als Scudero zu dienen.
Sie strich ihrem Sohn über die Hand und betrachtete sein helles blondes Haar, dessen Strähnen im Beleman wehten. Er versuchte tapfer voran zu schauen, ignorierte die geschäftigen Hafenarbeiter oder die flatternden Wimpel der vor Anker liegenden Schiffe, die ihn sonst so begeisterten. Auch für ihn musste der Abschied unendlich schwer sein, dachte sie bei sich.
Ein erzwungenes Lächeln wurde von ihren Lippen geformt, als sie Maralita de Cortez erreichten. „Efferd voraus!“, grüßte diese unter ihrem Sonnenschirm, mit dem sie in den letzten Wochen immer wieder in Sewamund anzutreffen gewesen war. Sie hatte es sich in Meridiana wohl zur Gewohnheit gemacht sich damit vor der unerbarmlichen Sonne des Südens zu schützen, weshalb sie auch im deutlich milderen Phecadien nicht auf ihn verzichten wollte. Wie Brabak wohl ihren Sohn verändern würde, ging es kurz durch Tsabellas Kopf.
Die stark geschminkte Südländerin beugte sich zu ihrem Jungen hinunter. „Ich freue mich schon auf unsere gemeinsame Reise! Du wirst die Seefahrt, du wirst Mysobien lieben! Es wird die größte Avesfahrt deines Lebens! Was du alles hernach zu erzählen haben wirst, ich kann es mir kaum ausmalen“, versuchte sie ihm den Abschied von seiner Mutter und Schwester schönzureden. Doch außer einem zarten Nicken zeigte er keine Reaktion.
Tsabella strich ihm über das blonde Haupt. „Geh zu deiner Schwester und verabschiede dich von ihr“, wies sie Croenar an und drehte ihn in Richtung Oljanas, die bei ihrem Onkel Effernando dicht hinter ihnen stand. Während die Kinder sich ein wenig unbeholfen Lebewohl sagten, bemühte sich Signora Maralita die Sorgen Tsabellas zu zerstreuen. „Ihr habt richtig gehandelt, wir werden uns bestens um euren Sohn kümmern und er wird ein stattlicher Mann werden. Darauf habt ihr mein Wort!“
Effernando trat zu ihnen und stimmte zu: „Die Cortez sind mit unserer Stadt eng verbunden und genießen einen guten Ruf an der Westküste, sie werden den Jungen im Sinne unserer Familie erziehen.“
„In ihm fließt auch der Blut des geflügelten Löwen“, erwiderte Tsabella traurig und sah mit Rührung, wie Croenar seine jüngere Schwester umarmte. Effernando legte seine Hand auf ihre Schulter und strich zärtlich über diese. „Wir wissen nicht einmal, ob sein Vater noch lebt. Niemand von uns muss sich vor dem Zorn der della Pena fürchten“, erklärte er und spielte damit auf die Nachrichten an, die Sewamund erst vor wenigen Tagen erreicht hatten. Arivor, das stählerne Herz der Gerondrata, war vernichtet. Wodurch wusste man nicht, doch man raunte von einem gefallenen Stern und einem Urteil der Götter.
In eben jenem Arivor saß ihr Gemahl Tarquinio seit einem Götterlauf in Kerkerhaft, nachdem er den Turnierfrieden auf dem Königsturnier im Vorjahr aufs Schändlichste missachtet hatte. Wie man hörte, hatte kaum jemand das Unheil überlebt. Ihren Kindern hatte sie von alledem nichts erzählt, was sollte es nützen ihre tsagesegneten Seelen mit dieser traurigen und unsicheren Kunde zu belasten? Es hätte alles nur noch schwerer gemacht. Tsabella seufzte.
Sie ging auf die Knie und nahm ihren Sohn, der nun wieder zu ihnen gekommen war, in den Arm und gab ihm einen Kuss auf die Wange. „Versprich mir auf dem rechten Weg, dem Weg der Zwölfe zu bleiben“, wisperte sie ihm ins Ohr und rieb ihre tränenüberströmte Wange an der seinen. Er nickte und drückte sich fest an seine Mutter.
So hielten sie sich noch eine Weile, ehe sie sich schließlich trennten und Croenar das Schiff gemeinsam mit Maralita de Cortez bestieg. Zurück blieb seine sonst so kontrollierte Mutter, die besorgt auf dem Kai stehen blieb und erst den Hafen von Sewamund verließ als sie die Masten der "Perle von Brabak“ nicht mehr am Horizont erkennen konnte.
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Maralita trat hinter den blonden Jungen an der Reling heran, der noch immer zum fernen Sewamund an der Küste blickte, und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Er zuckte kurz zusammen, doch entspannte sich gleich, als er Maralitas quirlige Stimme erkannte. "Croenar, bald wirst du meine Heimatstadt vergessen haben. Es gibt hier auf dem Schiff noch viel zu entdecken. Und du ahnst gar nicht, was in Mysobien erst alles auf dich wartet! Eine gleißende Sonne, die auch im Winter wärmt. Blüten und Pflanzen das ganze Jahr, so üppig und prall, dass man sagt, Tsa habe ihren alverianischen Vorgarten dort postiert. So viele verschiedene exotische Früchte, eine schmackerhafter, süßer, erfrischender als die andere! Tiere, die dein Auge noch nicht erblickte! Hast du je vom Dschum-Bo gehört? Du magst es für Seemannsgarn gehalten haben, aber es ist wahr, und Praios lasse meine Zunge auf der Stelle verfaulen, wenn ich lüge! Ich sah selbst eines von diesen riesigen Geschöpfen, groß wie ein Haus, mit einer Nase, länger als das Bein eines Pferdes, und biegsam wie eine Schlange! Und doch sind sie so sanftmütig wie kleine Kinder."
Sie blickte in die erstaunten Augen des Knaben. Auch sie hatte Sewamund nie vergessen, die Stadt, die sie vor so vielen Jahren verlassen hatte, doch sie war aus eigenen Stücken gegangen, um aus der Enge der Familienbande, den vielen Regeln auszubrechen. Und sie verschwieg dem Jungen, vor allem aber seiner Mutter, einige nicht ganz unwesentliche Details. All das krabbelnde, sich schlängelnde, stechende, saugende und giftige Getier zum Beispiel, das einen um den Schlaf, und den Unvertrauten auch ums Leben bringen konnte. Die Rückständigkeit und Langeweile der Brabaker Provinz, über die die Familie ihres Mannes herrschte. Und die ständige Bedrohung durch Waldmenschenbanditen, geschuppte Echsenhexern und Hungersnöten, vor allem aber durch das gefräßige Ungeheuer Al'Anfa, dass Brabak seit je her mit Krieg bedrohte, und gegen das sich die rondrianische Familie der de Cortez als eiserne Sperrspitze des Brabaker Widerstandes verstand. Unzählige aus ihren Reihen waren über die Generationen gefallen. Der Meridianischen Legion dienend oder als Offiziere der Flotte, irgendwo im nirgendwo fernab der Zivilisation, im unwegsamen Dschungel, dem offenen Meer, oder waren in Sklaverei geraten. Nein, davon würde sie gewiss nichts erzählen.
"Komm, ich zeige dir die Schiffsgeschütze! Hast du je eine Rotze eingespannt? Willst du mal eine echte Redo-Roglom abfeuern? Sewamunder Qualität! Der Geschützmatrose kann mir sowieso nicht widerstehen." Und sie lenkte den begeisterten Neu-Meridianer unter Deck.