Unter der Horasstatue II
Autoren: Bella, Cassian
„Es trat aber eine Abordnung von Bürgern Bethanas vor Horas hin und sprachen: Herr, ihr habt uns Recht und Ordnung gegeben, es herrscht Friede unter uns und Wohlstand, aber es mangelt an Raum für alle. Wir leben dicht an dicht und die Ernten der Bauern reichen kaum um allen Nahrung zu bringen. Aber niemand wagt sich weiter ins Landesinnere, weil der große Drache in den Wäldern die Siedler bedroht. Herr, wir bitten euch errettet uns. Und der Horas erhörte die Bitte seines Volkes, er befahl Geron, den mächtigsten unter seinen Kriegern, den Forst, in dem der Drache hauste, zu roden. Die Schrate des Waldes, die das Gefolge des Drachen waren, stellten sich dem Helden entgegen und er hatte manchen Kampf zu bestehen, aber das ist eine andere Geschichte und soll ein andermal erzählt werden. Als der Wald schließlich gerodet war, stellte sich Horas selbst dem mächtigen Fuldigor entgegen.“
„War der noch größer als Shafir der Prächtige?“, kam eine vorwitzige Zwischenfrage aus dem Publikum.
Sonata lächelte fein und antwortete: „Oh ja! Viel größer und viel mächtiger. Fuldigor ist einer der alten Drachen, neben ihm wirkt Shafir so klein und harmlos wie diese Schnitzerei …“
Sonata holte eine ungefähr spanngroße Holzfigur aus ihrer Tasche. Es war ein aufgerichteter Drache mit ausgebreiteten Flügeln und einem langen schlanken Hals. Die Figur war noch etwas roh und es fehlten die feinen Details, denn Sonata arbeitete noch daran. Eigentlich hatte sie dabei auch an den weisen Naclador gedacht, aber das wussten ja die Kinder nicht.
Das Figürchen wanderte jedenfalls von Hand zu Hand und es entspannte sich eine lebhafte Diskussion darüber, wie groß und mächtig dieser Fuldigor dann gewesen sein musste.
Ricardo betrachtete die Figur, als sie zu ihm gelangte und gab dann den kleinen Drachen vorsichtig weiter.
Er fand es ein wenig schade, dass die Erzählerin Geron den Einhändigen nicht weiter ausgeführt hatte. Andererseits kannte er sowieso jede Geschichte über seinen Lieblingshelden auswendig. Während die Novizin damit beschäftigt war, den kleineren Kindern zu erklären, wer die Hohen Drachen waren, stupste er Praionor an und flüsterte leise: „He, Praionor, wie heißt sie eigentlich?“
Praionor hob eine Augenbraue und blickte kurz zu Sonata. Dann grinste er und warf Ricardo einen vielsagenden Blick zu.
„Das ist Sonata ya Malachis“, flüsterte er genauso leise zurück.
„Danke.“ Ricardos Wangen waren gerötet, doch das lag ganz bestimmt an der Kälte.
Schließlich nahm Sonata ihre Erzählung wieder auf und zur Freude der jungen Herren im Publikum tat sie den Kampf nicht einfach in einem Satz ab sondern beschrieb ausführlich und anschaulich wie Horas mit Fuldigor rang. Ricardo merkte, wie er von der Geschichte gefangen genommen wurde. Vor seinem geistigen Auge sah er, wie Drachenklauen nach dem Horas schlugen und dieser behände wie ein Fuchs auswich und dann selbst niederstieß wie ein Adler auf seine Beute. Die Kontrahenten warfen Zauber und Gegenzauber und kämpften mit Klauen und Schwert.
„Am Ende war es der heilige Horas, dessen Willen stärker war, und Fuldigor zog es vor vor dem Sohn des Praios das Feld zu räumen. Er zog sich auf die andere Seite Aventuriens zurück und haust nun im Ehrenen Schwert. Horas aber befahl seinen Getreuen an der Stelle des Drachenhorts eine mächtige Burg zu erbauen. Aber wie der heilige Olweren einen Pakt mit den Schraten schloß und die Burg Fuldigorsfeste schließlich entstand, das ist eine andere Geschichte und soll ein andermal erzählt werden. Gelobt sei Hesinde.“
Ein Seufzen ging durch die Reihen der Kinder, als Sonata ya Malachis ihre Geschichte beendete. Besonders die Jüngeren bettelten um mehr, aber die Novizin lehnte freundlich aber bestimmt ab. Nach und nach begannen die Kinder sich zu zerstreuen bis schließlich nur noch Ricardo unschlüssig vor ihr stand.
„Das war wunderschön. Ge… Danke.“ Er biss sich auf die Zunge. Fast wäre ihm ‚Genau wie du‘ herausgerutscht! Doch es blieb bei dem Gedanken. Ricardo errötete wieder und wandte den Blick von Sonatas smaragdgrünen Augen ab. Es war viel zu früh für eine so offensichtliche Annäherung, sie kannten sich seit nicht einmal einer Stunde.
Wahrscheinlich hielt Sonata ihn für den größten Trottel und fragte sich, warum dieser fremde Junge noch immer vor ihr herumstand und sie davon abhielt, in den warmen Tempel zurückzukehren. Schließlich verbeugte sich Ricardo einfach, nicht zu übertrieben, jedoch so, dass es echten Respekt ausdrückte.
„Wir haben uns noch gar nicht richtig vorgestellt. Ich bin Ricardo Solivino. Es freut mich sehr, deine Bekanntschaft zu machen.“
Er stellte sich wieder gerade hin und hoffte, dass die höfische Geste sie nicht ganz kalt ließ.
Sonata musterte den Jüngling. Er musste in ihrem Alter sein, auch wenn er durch die wuscheligen Locken und das eher schmale Gesicht jünger wirkte. Als er sich verbeugte und vorstellte, lächelte sie. Es gefiel ihr, dass er sie wie eine Erwachsene behandelte und ihr Respekt zollte. Also erwiderte sie die Vorstellung mit einem kleinen, eleganten Knicks.
„Die Freude ist ganz auf meiner Seite. Mein Name ist Sonata Daria ya Malachis. Ich bin noch nicht all zu lange in Urbasi, genau genommen erst seit einem Mond. Ich kenne noch kaum jemand außerhalb des Tempels. Ich bin da jetzt Novizin. Aber ich komme gerne hierher in den Park, wenn ich keine Pflichten habe“, erzählte sie munter drauf los. „Bist du auch öfter hier?“
„Ja. Ich sehe mir gerne die Götter- und Heldenstatuen an. Inzwischen kenne ich zu fast jeder eine Geschichte. Es wäre mir eine Freude, dir häufiger hier zu begegnen. Du sagtest, dass du erst seit einem Mond hier wohnst. Falls du irgendwann mal eine exklusive Stadtführung erleben möchtest … ich stehe gerne zur Verfügung.“
Er lächelte sie verschmitzt an, das Angebot schien jedoch durchaus ernst gemeint.
„Wo hast du denn früher gelebt?“ Ricardo erinnerte sich an die Stunden mit dem Hauslehrer, in denen er die Adelsfamilien der Umgebung kennengelernt hatte. Es hatte ihm zwar mehr gefallen als Bosparano-Vokabeln zu pauken, dennoch war bei ihm zu der Familie ya Malachis nur ein Stadthaus in Agreppara und der große Einfluss in Marudret hängengeblieben.
Sonata stellte fest, dass es jedes Mal in ihrem Magen kribbelte, wenn Ricardo sie anlächelte. Erst war sie verdutzt, aber dann befand sie, dass es ein schönes Gefühl war. Sie erwiderte sein Lächeln und fing mit seiner letzten Frage an: „Ich bin in der Villa Cassiena aufgewachsen, dass ist etwas außerhalb von Cassiena. Meine Eltern verwalten die Villa. Verglichen mit Urbasi ist das ein Dorf. Und wenn du mir die Stadt zeigen würdest, wäre das wunderbar, ich bin noch nicht über Magistralia hinausgekommen. Wobei dieser eine Stadtteil ja schon größer und aufregender ist als mein Heimatdorf.“
Verlegen zuckte sie die Schultern. Hoffentlich hielt sie Ricardo jetzt nicht für ein Landei. Dann fiel ihr etwas ein, Solivino, das war eine wichtige Familie hier in Urbasi.
„Oh! Ist dein Vater der Vorsteher des Rahja-Tempels?“, platzte sie mit ihrem Gedankengang heraus.
Auf ihre letzte Äußerung hin schüttelte er den Kopf.
„Nein, das ist mein Onkel. Mein Vater ist das Familienoberhaupt und vertritt uns in der Signoria.“
Ricardo war angenehm überrascht, als Sonata erwähnte, in Cassiena aufgewachsen zu sein. Und ihm kam eine Idee.
„Cassiena? Meine Familie kommt ursprünglich von dort. Ein paar Großcousins von mir wohnen da noch in der Villa Ricarda. Vielleicht hast du die mal gesehen. Was würdest du davon halten, wenn wir auch mal zusammen nach Cassiena gehen? Nachdem ich dir Urbasi gezeigt habe. Ich war dort bisher kaum, du kannst mir wahrscheinlich viele hübsche Plätze zeigen, die ich noch nicht kenne.“
Die Novizin musste über den Enthusiasmus, mit dem der junge Solivino Pläne für gemeinsame Zeit schmiedete, kichern.
„Also bevor wir gemeinsame Reisen planen, sollten wir uns vielleicht erst einmal für ein weiteres Treffen in Urbasi verabreden.“ Sagte sie ganz mit hesindianischer Vernunft, auch wenn ihr Herz bei der Vorstellung mit Ricardo all ihre Lieblingsplätze aus der Kindheit aufzusuchen, freudig hüpfte.
„Ich kann mich übermorgen nach der Studierstunde frei machen. Mein Dienst in der Tempelhalle beginnt erst mit der Abendmesse, wenn das für dich geht, können wir da den Nachmittag gemeinsam verbringen.“
Ricardo überlegte kurz, doch in Wirklichkeit stand die Antwort für ihn schon fest. Selbst wenn er irgendetwas vorhaben sollte, würde er es für ein Treffen mit Sonata absagen.
„Ja, das passt für mich.“ Er lächelte sie wieder warm an. „Ich freue mich schon. Treffen wir uns wieder hier? Bei der Horas-Statue?“
Entweder er hatte übermorgen wirklich frei oder der Hauslehrer würde vergeblich auf ihn warten. Da fiel ihm ein, dass auch Alvinia den Unterricht der nächsten Tage schwänzen würde. Und sie waren im Moment die einzigen Kinder im Haus. Der arme Mann tat ihm fast Leid.
„Ja, das ist ein guter Treffpunkt“, stimmte Sonata zu. „Leider muss ich nun zurück zum Tempel, meine Freizeit neigt sich dem Ende entgegen und ich werde in der Sakristei erwartet, die silbernen Kerzenleucher putzen.“
Sie seufzte tief.
„Glaub ja nicht, Novize sein heißt den lieben langen Tag Bücher lesen zu dürfen, das wäre ja schön. Nein es hängt auch eine ganze Menge Arbeit dran.“
Mit diesen Worten stand sie auf und blickte Ricardo unsicher an.
„Ja also, dann … ich muss in diese Richtung … und ich freu mich sehr auf übermorgen.“
Wie sollte sie sich verabschieden? Knicksen? Oder die Hand geben? Sonata war sich unsicher. Da sie aber gerne Ricardo berühren wollte, streckte sie ihm etwas unbeholfen ihre Hand entgegen.
Ricardo stand ebenfalls auf. Er nahm ihre Hand und hielt sie ein bisschen länger fest als nötig gewesen wäre. Es war ein schönes Gefühl, in der winterlichen Kälte Sonatas Wärme zu spüren.
„Ich freue mich auch sehr auf übermorgen. Wenn es dir nichts ausmacht, würde ich dich noch zum Tempel begleiten. Es ist ungefähr auch meine Richtung.“
Sie erwiderte sein Lächeln.
„Ich fände es schön, wenn du mich begleitest.“
Es musste die Kälte sein, die ihr die Wangen rötete, das konnte nicht an Ricardos strahlenden Augen und seinen Grübchen liegen, sagte sich Sonata. Der Weg zum Tempel kam ihr unglaublich kurz vor. Und zum ersten Mal bedauerte sie die Hallen Hesindes betreten zu müssen, denn das hieß Abschied nehmen. Aber sie schaffte es Ricardo lässig zuzuwinken und „Auf Bald“ zu rufen.