Briefspiel:Roter Mann/Totgeglaubte

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Sheniloneu3k klein.png Briefspiel in Shenilo Sheniloneu3k klein.png
Datiert auf: Phex 1038 BF Schauplatz: Shenilo und die Ponterra Entstehungszeitraum: ab März 2016
Protagonisten: der Rote Mann, Horasio Madarin ya Papilio, Francidio di Côntris, Dozmano Kaltrek, Ingalfa Dalidion, Ilsandor von Hauerndes, Geronya , Kvalor und Valeran Menaris, Sulman Schattenfels und weitere Autoren/Beteiligte: Athanasius, Calven, Di Côntris, Gishtan re Kust, Randulfio
Zyklus: Übersicht · Vorspiel · Resident und Vogt · Horasios Vademecum · Horasios Verschwinden · Auf der Spur des Roten Mannes · Brand im Kloster Helas Ruh · Erste Entdeckungen · Kriegsrat · Totgeglaubte · Magokrat und Dorén-Halle · Am seidenen Faden · Epilog



Die Briefspielgeschichte Totgeglaubte bringt ans Tageslicht, dass Tankred Menaris den Brand im Draconiter-Institut offenbar verletzt überlebt hat. Er bringt der kleinen Gruppe Eingeweihter wichtige Informationen und weitere Unterstützung in ihrer Mission gegen den wiedergekehrten Magokraten Drugon Menaris.

Pertakis, 7. Peraine 1038 BF

Ist der Rote Mann zurückgekehrt?

Von Thersion Gedra und Eolan ya Aragonza
„Steckt der einstige Gewaltherrscher von Shenilo, Drugon Menaris, tatsächlich hinter den Morden an Saggia Chamera di Pertakir, Lysadion di Côntris und Brigona sowie Tankred Menaris? Hinweise, die dem Hesindeblatt zugespielt worden, sprechen trotz aller Wahrscheinlichkeit dafür!“
Horasio ya Papilio faltete die neueste Ausgabe des Sheniloer Hesindeblattes zusammen und wischte sich die Druckerschwärze mit einem Ledertuch ab. Dann trat er zu Meryama Aurandis und Geronya Menaris auf die Straße hinaus. Francidio, Meryamas Gatte, war im Anwesen Tsadians geblieben, da man ihn in Pertakis zu schnell wiedererkannte.
Meryama Aurandis machte eine für sie untypische missmutige Miene und blickte sich auf den Straßen Pertakis‘ um. Der Brief Eolan ya Arangonzas, wonach sein Kollege Ghedra entschieden hatte, den Artikel abzudrucken, hatte Tsadian Aurandis gestern erreicht. Meryama, die gegen eine Vorabveröffentlichung gewesen war, schien seither überzeugt, jederzeit werde ein wütender Mob durch die Straßen ziehen, um ausgerechnet ihr vorzuwerfen, der Wiedergeborene Rote Mann zu sein. „Signora Meryama, was geschehen ist ist geschehen. Wir waren uns doch einig, dass wir jemanden brauchen, der unsere Geschichte kennt: Der Verbrannte ist verschwunden, von den Calvens haben wir auch nichts gehört und wenn ihr nicht gewesen wärt, läge ich nun mausetot am Boden des Sees von Terinis!“
Meryama fuhr auf. „Glaubt Ihr, ich weiß das nicht, aber...“ Weiter kam sie nicht, denn das Getrappel von Pferdehufen und eine sich nähernde Kutsche ließ sie innehalten. Ein weißhaariger, bärtiger Kutscher, den schwarzen Hut tief ins Gesicht gezogen, brachte das Gespann direkt vor den dreien zum stehen. Die Tür der Kutsche öffnete sich und eine ruhige Stimme war zu hören: „Wir müssen uns unterhalten, Signori.“
Horasio und Meryama blickten sich verunsichert an, während sich auf der Miene der Menaris ein überraschtes Lächeln zeigte. Ehe sich die beiden anderen versahen, war die Magierin in die Kutsche gestiegen. „Aber...“, sagte Horasio noch und griff nach dem – eher zur Schau, dnen zur Verteidigung taugenden, Degen an seiner Hüfte. Meryama blickte sich noch einmal entlang der Straße um, kaum ein Passant schien Notiz von ihnen zu nehmen und zuckte dann die Schultern.
Dunkelheit war das erste, was Horasio wahrnahm, als er die Kutschentür hinter sich schloss. Sie verhüllte das Innere der Kutsche, denn beide Vorhänge waren zugeschoben. Er nestelte daran herum, um wenigstens einen Spalt Sonnenlicht hineinzulassen und blickte unruhig in die Gesichter der beiden Frauen. Noch bevor er etwas erkannte, hörte er ein Geräusch, das mehr als nur ein bisschen Fehl am Platze schien: das Schnurren einer Katze. Die Kutsche setzte sich nun in Bewegung und das Licht fiel in anderem Winkel in die Kutsche, sodass Horasio wenigstens erkennen konnte, dass nur eine einzelne Gestalt – der Figur nach, ein Mann – ihnen gegenüber in der Kutsche saß. Auf seinem Schoß saß das Tier, das so gar nicht zu dem beruhigenden Geräusch passen wollte. Die Katze war erkennbar alt, dabei nicht einmal struppig, aber was ihr Fell an Einladendem zu bieten hatte, machte ihr Gesicht wieder zunichte: Eine hässliche rote Wunde zog sich über Nase und rechtes Auge und verlieh dem Tier etwas bösartiges, denn trotz des Schnurrens starrte ein einzelnes bernsteinfarbenes Auge die drei Personen auf der anderen Seite der Kutschbank wachsam an.
Als wäre die Szenerie nicht schon surreal genug beugte sich nun auch der die Katze Streichelnde nach vorne, sodass er erkennbar wurde. Den beiden Frauen entrang sich ein halb überraschter, halb schockierter Laut, während Horasios Reaktion in einem Seufzen bestand. Die drei blickten in das Gesicht eines Toten.

Pertakis, Hesinde-Tempel, auf dem Balkon des Hohen Lehrmeisters

Geronya Menaris nahm einen tiefen Schluck des bitteren grünen Tees, streckte die Beine auf dem hölzernen Hocker aus und seufzte wohlig. Vom Fluss wehte ein erfrischendes Lüftchen herüber, über ihr spitzelte die Sonne durch die Wolkendecke und von ihrem Platz auf dem von der Stadt wegführenden Balkon des Tempels konnte sie eine Windung des Yaquirs erhaschen, der sich gen Ockerfelsen rahjawärts wand.
Eigentlich sollte es ihr schlecht gehen. Die Situation war bestenfalls unübersichtlich. Obwohl die anderen das zu glauben schienen, wusste sie nicht, ob sie dem Gastgeber, Verian Corden, trauen konnte. Sie wusste überhaupt nicht, wem sie so recht trauen konnte: Seit ihrem Aufwachen im Kloster Helas Ruh hatte sie nicht mehr richtig geschlafen. In der vergangenen Nacht hatte sie wieder von jenem Abend im Palazzo Carolani geträumt, als ihr Vater zum Totengedenken für seine Geschwister geladen hatte und sein Bestreben verkündet hatte, Consiliere Menacor, oberster Magier der Stadt und des Bundes zu werden. Kurz danach hatte sie ihren Schwächeanfall erlitten. Im Traum hatte sie immer wieder irgendwelche Worte gewispert, die sie aber nicht verstanden hatte. Sie hatte sich selbst, noch im Fallen, gescholten, lauter zu sprechen. Es war wie immer gewesen: Kurz bevor sie erwachte, hatten sich Gesichter in ihr Sichtfeld geschoben. Der strenge Blick ihres Vetters Valeran, die sorgenvolle Miene ihres Vaters Kvalor und die hinter seinem Schal unlesbaren Züge des Nostrianers Haldoryn. Sie war ziemlich sicher, dass Magister Ingvalidion damals nicht anwesend oder zumindest nicht in ihrer Nähe gewesen war, aber das scherte ihre Träume nicht viel. Magistra Cyrene war die Expertin für Bishdariels Botschaften am Institut, sie wüsste vielleicht Rat. Aber irgendwas ließ sie zögern, mehr ein Gefühl in der Magengrube als ein bewusster Gedanke, zu ihren Collegae nach Shenilo zu reisen und um Rat zu bitten. Das gleiche Gefühl, das sie hatte zögern lassen, mit ihren drei ungleichen Begleitern direkt um Hilfe bei ihrem Vater und ihrem Vetter zu bitten. Sie hatte sogar schon einige Zeilen an ihren Bruder Angrond geschrieben, den Brief dann aber abgebrochen und ins Feuer geworfen.
Und dennoch ging es ihr heute so gut, wie seit langem, vielleicht seit Jahren nicht. Und der Grund dafür war ihr Onkel. Sie musste schmunzelnd den Kopf schütteln, als sie daran dachte, mit welcher Dramatik er ihre Begleiter und sie mit seiner Kutsche aufgegabelt hatte. Meryama Aurandis hatte sich nicht zurückgehalten, ihr war die Kinnlade heruntergesackt und dann hatte sie Horasio ya Papilio so fest in den Arm gezwickt, dass dieser aufgeschrien hatte. „Um sicherzugehen, dass ich nicht in einem eurer Träume gefangen bin“, wie sie gesagt hatte. Horasio selbst hatte den Mann mit bleicher Miene gefragt, wie er nur die Geschehnisse am Boronanger hatte überstehen können. Nur sie, sie war eigentümlicherweise nicht überrascht gewesen, als sie die Stimme von Tankred Menaris erkannt hatte.
Sie hatte sich in den letzten Jahren nicht eben gut mit Tankred verstanden. Zu viel war vorgefallen, zu vieles, bei dem sie anderer Meinung gewesen waren, zu vieles, für das sie ihm die Verantwortung gegeben hatte. Aber dennoch hatte sie sein Erscheinen mit einer eigentümlichen Ruhe, fast Freude, erfüllt, die sie seit Jahren nicht mehr verspürt hatte. Seit ihrem Erwachen in jenem schrecklichen Bett im Kloster Helas Ruh und in den Tagen danach, als sie begonnen hatte zu begreifen, was für eine düstere Gefahr es war, der sie und ihre Begleiter sich entgegengestellt hatten, hatte sie sich allein gefühlt. Zwar waren ihre Begleiter allesamt mutige Männer und Frauen, denen sie zudem einiges zu verdanken hatte, aber irgendwie hatte sie sich die ganze Zeit so gefühlt, als müsse sie jenes Übel aus der Vergangenheit, aus der Vergangenheit ihrer Familie ganz allein bezwingen. Nun teilte sie diese Verantwortung. Und wenn Tankred Menaris ein Gefühl ausstrahlen konnte, dann dasjenige, die Dinge unter Kontrolle zu haben. Als man ihn reden hörte, wie er erklärte, was seit seinem Zusammentreffen mit Horasio ya Papilio auf dem Boronanger Shenilos passiert war, schien es fast, als wären das alles keine unerwarteten, beängstigenden und vor allem lebensbedrohlichen Vorgänge, sondern nur Geschehnisse, die den Hesinde-Priester nicht aus der Ruhe zu bringen vermochten.
In ebensolcher Ruhe hatte er berichtet, wie ihn unbekannte Söldlinge auf dem Boronanger aufgespürt hatten und nur das Eingreifen des alten Totengräbers Schattenfels ihm die Flucht ermöglicht hatte. Einen Tag war er offenbar durch die Hügel südlich Shenilos geirrt, stets verfolgt von „dem Vogel“, einer Nebelkrähe offenbar, von der dann auch Signore Horasio zu berichten wusste: Vermutlich hatte ihn dasselbe Tier von der Residenz der ya Papilio in Shenilo zum Boronanger verfolgt und die Bewaffneten so auf die Spur Tankreds gebracht. Und Horasio vermutete, dass es das gleiche Tier gewesen war, dass ihn aus kleinen schwarzen Knopfaugen beobachtet und zum Magusbad bei Terinis verfolgt hatte. Tankred selbst war „dem Vogel“ entwischt, als dieser von einer Katze attackiert worden war.
„Aber er hat sich böse gewehrt, dieses böse Tier“, hatte Tankred gesagt und auf die verletzte Katze gewiesen, die nun auf einem Sessel im Studiolo des Hohen Lehrmeisters von Pertakis döste. Die Katze ihrerseits war wohl nicht zufällig in der Gegend gewesen, war sie doch von keiner geringeren als Desatinava der Älteren, der berüchtigsten Hexe des Arinkelwaldes, ausgesandt worden. Offenkundig waren Horasio und die anderen nicht die einzigen gewesen, die die Rückkehr des „Magokraten“ bemerkt hatten. Die Hexen des Arinkelwaldes hatten sich ihres alten Feindes erinnert und die Vorgänge in und um Shenilo genau beobachtet. Sie hatten sogar einen der ihren, einen männlichen Hexer ausgesandt, der sich in Shenilo verborgen hatte, um Anzeichen für die Wiederkehr des Roten Mannes zu finden. Doch der Hexer war vor einiger Zeit verschwunden – „um die Zeit zu der es im Institut brannte und der Wahnsinn auf dem Khadan-Platz ausbrach“, wie Tankred Menaris seiner Erzählung mit bedeutungsvollem Nicken hinzufügte.
Nach der Flucht aus Shenilo hatte sich Tankred schließlich nach Pertakis begeben, wo sein Glaubensbruder Verian Korden ihm Unterschlupf gewährt hatte – ganz unabhängig der Tatsache, dass man in Pertakis‘ Signoria und in mancher Taverne gerade mächtig Stimmung gegen jeden machte, der aus Shenilo stammte. Desatinava selbst hatte ihn nicht begleitet, sondern hielt offenbar über ihre Katze auf irgendwelchen, zweifellos arkanen Wegen, Kontakt. „Seit dem Schrei ist sie nicht mehr hier gewesen“, hatte Tankred erklärt als sei das etwas, was jeder begreifen müsste.
Mitten hinein in ihren letzten Schluck Tee trat Francidio di Côntris auf den Balkon. „Maga...ich habe ein Schreiben aus Shenilo erhalten. Es hat eine Einladung des Gransignore gegeben, an alle Mitglieder der Eteria. Wegen unseres Artikels!“ Das Gesicht Francidios verriet verhaltene Freude, aber mit einem Mal war Geronyas Unruhe wieder da. Sie eilte geradezu die hölzerne Stiege zur Kammer Verian Kordens hinab, die der Hohe Lehrmeister Tankred und seinen Gästen überlassen hatte. Meryama Aurandis und Horasio ya Papilio waren bereits dort, letzterer redete gerade auf ihren Onkel ein, der mit dem Rücken zu den anderen stand und regungslos aus dem Fenster starrte. Das Gefühl in Geronyas Magengrube wurde deutlicher. „Ah, Signora...Geronya...gut, dass Ihr da seid. Wollt Ihr Eurem missmutigen Onkel sagen, dass es eine gute Sache ist, wenn sich nun mehr als nur wir fünf und eine einäugige Katze gegen den Roten Mann stellen?“ Der ya Papilio lächelte, aber er wirkte verunsichert. Tankred Menaris konnte diese Wirkung auf Leute haben. Geronya warf einen Blick in Richtung ihres Onkels, der noch immer keine Anstalten machte, sich umzudrehen und sprach dann den nun ebenfalls hinabgestiegenen Francidio an. „Was genau schreibt man Euch, Signore Francidio?“ „Gransignore Randulfio lädt die Oberhäupter der Sheniloer Familien zu einer Sitzung der Eteria ein. Er hat sich Hilfe bei den Magiern Shenilos erbeten, die mit allen Mitgliedern der Eteria beraten wollen, was in der ‚Causa Drugon Menaris‘ zu unternehmen ist.“
„Mein Bruder tut endlich etwas!“, fügte Meryama hinzu. Geronya ignorierte sie. „Hilfe bei den Magiern der Stadt?“ Francidio nickte irritiert. „Die Magier des Institutes, Ingvalidion, dieser nostrische Alchimist, diese Antimagierin Arkenstab und zwei eurer Verwandten, Maga. Euer Vetter Valeran und Euer eigener Vater, Signore Kvalor!“ „Was Signore Francidio berichtet bedeutet doch, dass sich endlich Leute mit dieser Sache befassen, die dafür ausgebildet worden sind“, erklärte Horasio ya Papilio eilig. „Euer Vater, ist er nicht ebenfalls ein Experte für den Schutz vor anderem Zauberwirken? Und Magister Valeran kennt sich mit jener Art Magie aus, der ich und andere beinahe zum Opfer gefallen sind, die Magie, die sich des Geistes der Menschen bemächtigt?“
Geronya blickte wieder zu ihrem Onkel hinüber. „Die Magier sind bei der Besprechung der Eteria zugegen?“ Sie bemühte sich, ihre Unruhe aus ihrer Stimme zu verbannen. „Sie haben den Vorschlag offenbar selbst gemacht.“ Der Resident der ya Papilio runzelte die Stirn und sie konnte erkennen, wie die Miene Meryama Aurandis‘ ebenfalls besorgter wurde. „Ja, aber das ist doch weise, nicht wahr? Sich Rat von Experten zu holen, die zudem Schutz vor den Kräften dieses...dieses Roten Mannes bieten können.“
Horasios Überzeugung begann nun ebenfalls zu verfliegen als er ihren Gesichtsausdruck sah. „Eine Besprechung der Obersten der Stadt. Einberufen von vier Magiern. Und es wird über Drugon Menaris beraten.“
„Wie vor mehr als zwei Jahrhunderten.“ Zum ersten Mal schaltete sich Tankred Menaris in das Gespräch ein. „Wovon sprecht Ihr, Ehrwürden Menaris?“ fragte Francidio. Tankred antwortete nicht, sondern blickte seine Nichte an.
„817 nach Bosparans Fall?“
Tankred nickte.
Geronya ließ sich auf die Lehne des Sessels fallen und hätte beinahe die Katze Desatinavas unter sich begraben, die fauchend protestierte.
„Kann das sein, vor Aller Augen?“ Mit einem Mal war da wieder diese Last der letzten Tage und sie sah die gleiche, tiefe Besorgnis im Blick ihres Onkels. „Denke nach, Geronya. Wenn es wirklich Drugon ist, dem wir das alles zu verdanken haben, dann versteckt er sich nicht wie ein Räuber in den Wäldern oder wie ein Ghul auf dem Boronanger. Wer würde ihn denn heute noch erkennen? Und wer weiß, welche Kräfte er mittlerweile errungen hat, die sein Äußeres verschleiern, vielleicht gar verändern können?“
„Würdet Ihr uns dankenswerterweise einweihen?“ verlangte Meryama Aurandis mit Nachdruck. „Was war vor 200 Jahren?“
Geronya blickte noch eine Weile ihrem Onkel fassungslos ins Gesicht, schüttelte den Kopf und begann zu erklären. „Während der Pertakischen Landherrenhändel gab es nicht nur Freunde meines Vorfahren Drugon, auch nicht in Shenilo. Als Signore Arsego ihm die Macht in der Stadt übertrug und Drugon begann, sein Mandat auch immer weiter über die Domäne auszuweiten, hatte er durchaus Gegner, auch innerhalb der Mauern Shenilos. Im Jahre 817 nach Bosparans Fall wollte Drugon die Unterstützung der Sheniloer Familien für eine Strafmission gegen den widerspenstigen Signor von Solstono, Irian Schwarzenstamm. Manche widersetzten sich, wollten nicht gegen die eigenen Landsleute in den Krieg ziehen, nicht für Drugons Ambitionen Geld und Leute opfern.“
„Bis Drugon Menaris die Oberhäupter der Stadt in die Dorén-Halle einlud.“ Nun fuhr Tankred Menaris anstelle seiner Nichte fort. „Die Tempelgarde stand auf den Stufen der Halle Spalier, der Hauptmann Unguius Emerald machte selbst seine Aufwartung, so schreiben es die Chroniken. Und in der Halle selbst wartete Drugon, der Leibmagier des Gransignores, der Rote Mann, der Magokrat. Umringt war er von seinen Getreuen, der Magierin Serinai, dem Alchimisten Nezario und einem Verwandten Drugons, der ebenfalls die Kräfte Madas zu lenken wusste. Und als die Besprechung endete hatten die Familienoberhäupter einer Aufstockung der Tempelgarde auf die doppelte Größe zugestimmt und fortan hörte man nur noch lobende Worte, Worte des Stolzes über Drugon, den beherzten Führer der Stadt in Zeiten der Krise.“
Mit ernstem Blick fixierte Tankred Menaris den ya Papilio, der sich den Schweiß von der Stirn wischte. „Wie habt Ihr es umschrieben, eine Magie, die sich des Geistes der Menschen bemächtigt?“

Meryamas Einfall

“Ihr meint, hinter einem der vier Magier verberge sich Drugon Menaris?” fragte Francidio. Tankred sagte nichts, doch Meryama wurde plötzlich blass. “Hesinde steh mir bei!” rief sie und stürzte aus der Tür.
“Meryama? Was habt ihr denn?” rief Horasio hinterher. Er warf einen verunsicherten Blick auf Francidio, der nur kurz nickte. Horasio nahm die Verfolgung auf. Meryama rannte scheinbar kreuz und quer durch die Straßen, blieb mal hier, mal da stehen, schaute hierhin und dorthin und lief wieder weiter. Das verwirrte Horasio nur. Was suchte sie? Dann betrat sie den überwucherten Hinterhof einer kleinen Schusterwerkstatt. Vorsichtig schlich Horasio an der Hauswand entlang und blickte in den Hof. Da war sie nun, machte einen Handstand auf einem alten Fass, das da stand und stieß ein paar unmelodische Pfiffe aus. Dann stieß sie sich von dem Fass ab, machte einen Salto und landete auf ihren Füßen. Sie hockte sich im Schneidersitz auf das Fass und wartete. Horasio wartete auch. Jetzt war er neugierig. Dann redete sie plötzlich sehr schnell. Er verstand kein Wort. Erst nach einer Weile bemerkte er die kleine Gestalt im Schatten. Sie hatte eine Nase wie eine Mohrrübe und einen umgedrehten Schuh als Hut! Die Gestalt antwortete genauso schnell wie Meryama. Es gab einen längeren Wortwechsel. Horasio verstand immer noch kein Wort, aber es war ganz klar, dass sie versuchte, den Wicht zu überreden, etwas zu tun, was der nicht wollte. Schließlich warf er die Hände in einer resignierenden Geste hoch. Meryama verließ das Fass, umarmte den Wicht und gab ihm einen Kuss. Dann verschwand er. Einfach so.
Horasio war sich nicht sicher, was er tun sollte, also räusperte er sich. Meryama blickte hoch, sah ihm ins Gesicht und lachte. Das war ansteckend und so lachte Horasio auch. Als der Lachkrampf vorbei war, fragte er: “Warum lachen wir eigentlich?” – “Ihr habt so merkwürdig dreingeblickt, da konnte ich nicht anders.” – “Und wer oder was war dieser Wicht, mit dem ihr gesprochen habt?” – “Och, ein hiesiger Schuhmacher. Ich bat ihn um einen Gefallen.” Horasio glaubte kein Wort und sah entsprechend skeptisch drein. “Na gut, war einen Versuch wert”, zuckte Meryama mit den Achseln. “Das war ein Kobold. Ich bat ihn, nach meinem Bruder zu sehen. Sollte sich Drugon Menaris ihn als Maske ausgesucht haben, sollte das leicht feststellbar sein. Mein Bruder ist so magisch wie dieser Ziegelstein”, sagte sie und deutete auf einen in der Ecke. “Sagt aber den anderen nichts davon.”

Gemeinsam kehrten sie zurück. “Ich würde auf Kvalor tippen”, sagte gerade Francidio. Anscheinend lief die Diskussion, hinter wem sich Drugon verbergen könnte, immer noch. Er warf seiner Frau einen fragenden Blick zu, den sie ignorierte. Horasio zuckte mit den Achseln – “Frauen!”. Francidio verstand die wortlose Geste.

“Für wann ist denn dieses Treffen eigentlich angesetzt?” fragte Meryama in die Runde und schnappte sich einen Apfel, der in einer Schale auf dem Tisch stand.

wird fortgesetzt in Magokrat und Dorén-Halle