Briefspiel:Roter Mann/Am seidenen Faden

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Sheniloneu3k klein.png Briefspiel in Shenilo Sheniloneu3k klein.png
Datiert auf: Phex 1038 BF Schauplatz: Shenilo und die Ponterra Entstehungszeitraum: ab März 2016
Protagonisten: der Rote Mann, Horasio Madarin ya Papilio, Francidio di Côntris, Dozmano Kaltrek, Ingalfa Dalidion, Ilsandor von Hauerndes, Geronya , Kvalor und Valeran Menaris, Sulman Schattenfels und weitere Autoren/Beteiligte: Athanasius, Calven, Di Côntris, Gishtan re Kust, Randulfio
Zyklus: Übersicht · Vorspiel · Resident und Vogt · Horasios Vademecum · Horasios Verschwinden · Auf der Spur des Roten Mannes · Brand im Kloster Helas Ruh · Erste Entdeckungen · Kriegsrat · Totgeglaubte · Magokrat und Dorén-Halle · Am seidenen Faden · Epilog



Shenilo, 10. Peraine, In der Dorén-Halle

Geronya Menaris stämmt sich gegen den Magokraten

Geronya Madalina Menaris versuchte, sich trotz all des Lärms ganz auf ihre Zeichnung zu konzentrieren. Daher bemerkete sie eher aus dem Augenwinkel das Handgemenge zwischen Valeran Menaris und Meryama Aurandyria Aurandis sowie das Verschwinden Letzterer. Was sie aber sehr wohl bemerkte war, dass sich die Dunkelheit plötzlich weiter über den Raum auszudehnen begann. „Wenn sie uns erreicht, scheitern all meine Bemühungen!“, dachte sie verzweifelt.

Dann hörte sie das Splittern von Glas. Nun wandte sie sich erstmals von dem Pentagramm ab, sah jedoch nicht, was geschah, denn der obere Teil der Halle war jetzt fast vollständig in Dunkelheit gehüllt. Über dem Getümmel im Raum hinweg glaubte sie einen Windzug zu hören, dann, deutlicher, ein vielstimmiges Krächzen. Welche Dämonen hat er nun gerufen?, fragte sich die Maga. Sie hörte wütende Rufe und vernahm Geflatter, aber wie sehr sie sich auch bemühte, ihre Augen konnten in der Dunkelheit nicht einmal eine kleine Bewegung erkennen.

Dann verschwand die Finsternis mit einem Mal. Geronya sah das graue Gewand des Nostriers und hörte sein erbärmliches Husten, während kleine schwarze Gestalten über ihm in der Luft kreisten und ab und an auf ihn hinabstießen. Krähen? Wer auch immer die Schwarzgefiederten gerufen hatte, es war offenbar nicht Drugon Menaris gewesen.

Wie von einer unsichtbaren Hand geleitet wanderte Geronyas Blick nun ans jetzt wieder helle Ende der Halle hinüber, wo der Magokrat die Arme weit über den Kopf gehoben hatte. Als seine Füße den Boden verließen, konnte Geronyas Geist daran zunächst nichts Eigentümliches finden. Dann splitterte ein weiteres Mal ein Fenster, jenes direkt oberhalb der Wendeltreppe hinauf zum Fahnengang. Zuerst glaubte Geronya, dass eine weitere Krähe sich anschickte, auf den Nostrier hinabzustoßen, aber das Tier war ungleich größer und sein Gefieder war am Hals und Kopf anders als das der Krähen. Der Ruf eines Raben übertönte das Gekrächze der Krähen, bevor das große, schwarze Tier sich auf eines seiner kleineren Geschwister stürzte und das Tier mit seinen Krallen zerfetzte.

Geronya glaubte, dass es sich bei dem Rabenvogel um jenes Tier handelte, das einst Horasio Madarin ya Papilio verfolgt und die Katze der Hexe Desatinava übel zugerichtet hatte.

Einige Schritt vor ihr murmelte Valeran Menaris etwas und brach dann mit für den drahtigen Alten ungeheuerlicher Kraft den Griff des ihn heftig umklammernden Horasio ya Papilio. Beide Männer schwitzten, aber der ältere Mann schien nun stärker zu sein. Mit beiden Händen ergriff Valeran den Kopf des Residenten, das Gesicht wutverzerrt und rief ihm einen S A L A N D E R entgegen. Geronya fluchte und ließ nun ihre Kreide endgültig fallen. Schon schimmerte die Haut Horasios leicht rosafarben und seine Nase wurde breit und flach. Mit einer kreisrunden Bewegung ihres Stabes vollendete sie den Zauber im letzten Augenblick. Ein Schimmern überzog den Residenten und der Zauber fiel von ihm ab. Mit einem raschen Schritt trat Geronya zwischen ya Papilio und den Magister.

GENUG!

Ein donnernder Ruf ließ fast alle Bewegungen in der Halle ersterben, nur das Hämmern der ängstlichen Signori an den Toren und das Geflatter der Krähen im tödlichen Kampf gegen das größere Rabentier waren noch zu hören.

Drugon hatte inzwischen wieder festen Boden unter den Füßen; er hatte den Fahnengang erreicht. Mit einem Mal traten mehrere Männer und Frauen auf die Brüstung der Collonade des Fahnengangs. Nicht nur Geronya, sondern auch ihr Gegenüber wandten nun beide den Blick nach oben. Sie erkannte in mehreren von ihnen diejenigen Signori, die sie für abwesend gehalten hatte. Zuerst erkannte sie Ilmordro de Maltris, den Gesandten Sodanyos. Sie sah den gebrechlichen Potros Tuachall, der sich mit seinen immer noch kräftigen Oberarmen über die Brüstung zog. Sie sah weiter hinten noch einen weiteren Mann auf die Brüstung steigen, in edles Brokat gekleidet, konnte ihn aber nicht recht erkennen. Endor? Geronya hielt den Atem an. Die Männer hatten Stricke um Nacken und Hals geschlungen.

Die Miene des Magokraten war ungerührt, als er den Befehl gab. „Springt!“

Auf der Spitze des Turms der Magister, einige Zeit zuvor

Sie trat gegen ein Stück rußgeschwärzten Steins, das polternd über das Holz flog und an einer Wand liegen blieb. Über ihr öffnete sich der Himmel, wo das Dach und das darunterliegende Geschoss des Turms eingestürzt waren. Es begann zu dämmern. Mit einem Schnurren rieb sich ein kleiner Kopf an ihrem Bein.
Desatinava seufzte. Ein unbestimmtes Gefühl hatte sie hinauf zum Draconiter-Institut und zum abgesperrten Turm der Magister gebracht. Sie hatte erfahren, dass eine Scholarin verschwunden war, nur um nach ihrer Wiederkehr Geschichten von einem Geist im Turm zu erzählen. Nicht, dass es sie verwundert hatte. Hier waren in den vergangenen Jahren mehr als genug Menschen zu Tode gekommen, Brigona d.Ä. Menaris, die ihren Bruder gerettet hatte, Defranda Defrus, der diesen Turm einst hatte errichten lassen und nicht zuletzt Oleana Dalidion, ihre Freundin und Schwester. Genug, dass einer davon den Weg in die andere Welt verloren haben mochte. Doch nicht deshalb war sie ausgerechnet heute hier hinauf gekommen. Sie hatte sich eigentlich geschworen, nicht nach Shenilo zu kommen, solange ER noch hier war. Sie hatte sich geschworen, nicht einzugreifen. Er war ein Zauberer und es war an den Zauberern, seinem Wirken endlich ein Ende zu machen. So hatte sie sich gesagt.
Doch der Anblick seiner Taten lag nun vor ihr und die Erschütterungen seines Tuns waren bis hier hoch zu spüren. Er macht sich die Stadt einmal mehr Untertan.
Sie hatte es zunächst für einen Fehler gehalten, den Pastore hierherzu schicken. Es war klug gewesen, ein Auge auf die Vorgänge zu haben, sobald klar war, dass ihr alter Widersacher zurückgekehrt war. Aber der Pastor war ein Seher und Heiler, kein Kämpfer. Sharina, sie selbst oder die Jüngere hätten sich vielleicht besser zu verteidigen vermocht. Aber nun war es so, wie es war. Der Pastore war im Theater zur Maske gestorben, gemordet durch die Machenschaften des Magokraten, daran hatte sie keinen Zweifel mehr. Es war also ohnehin zu spät, sich vor ihm zu verstecken.
Aber das war es nicht, was Desatinava hatte zögern lassen. Sie selbst hatte damals die entscheidenden Hinweise an die Verfolger Drugons weitergeleitet. Sie konnte sich noch an den jungen Mann erinnern, bevor er der Magokrat geworden war. Ein wacher, forschender Geist, ein brillianter Zauberer und anders, als die anderen aus seiner Familie, war ihm nicht die Arroganz oder Furcht vor anderen Arten der Magie zu Eigen – im Gegenteil. Jahrelang hatte er sie überall in der Ponterra gesucht, um sich sich mit ihr über die Magie der Töchter Satuarias zu unterhalten. Sie hatte damals geglaubt, er wolle ihr das Geheimnis des Zauberzwangs entlocken oder glaubte, selbst dereinst die Flüche meistern zu können, so wie er jeglichen Herrschaftszauber gemeistert hatte, den man an den Schulen des Königreiches erlernen konnte. Aber tatsächlich hatte er sich am meisten für das Bund zwischen Tier und Hexe interessiert. Er hatte geglaubt, die Hexe mache sich das Tier Untertan, so wie er es selbst vermochte, aber nicht verstanden, woher das Tier über eine Magie verfügen konnte, die dem Zauberer selbst nicht zu eigen war. Sie hatte es ihm erklärt, aber nach Tagen der Diskussionen hatte sie eingesehen, dass er es nicht verstand, es nicht verstehen konnte.
Er hatte auch mit anderen ihrer Schwestern gesprochen, am längsten mit einer Seherin von Heute und Morgen. Dann, irgenwann, war er zu ihr gekommen und hatte gefordert, dass sie ihn ihre Magie lehrte.
Sie wusste nicht, was ihn letztendlich dazu gebracht hatte, sich mit Gewalt zu nehmen, was sie ihm mit Worten nicht geben konnte. Seine Ungeduld? Oder ihre brüske Ablehnung? Es erschien ihr damals, dass die Quelle seiner Wut mehr Verzweiflung, denn Zorn darüber war, etwas vorenthalten zu bekommen, was ihm zustand. Sie war damals noch jünger gewesen, hastiger, eifersüchtiger, ungeduldiger. Hätte sie ihn nicht abweisen sollen, hätte sie ihn lehren sollen, was sie wusste, damit er begriff? Sein Zorn war damals groß gewesen, aber er hatte den Wald ohne ein weiteres Wort verlassen und sich seinem Dienst für den Herren von Shenilo gewidmet. Desatinava hatte für Jahre nichts von ihm gehört – bis er begonnen hatte, Land und Leute mit seiner Magie und seinen Getreuen unter seiner Gewalt zu bringen. Damals hatte sie begriffen, dass seine Wut nie ganz verraucht war.
Desatinava blickte hinüber zur Dorén-Halle, wo er jetzt einmal mehr nach der Macht griff. Sie scheute die Wut des Magokraten nicht. Aber sie scheute den Blick der Menschen Shenilos, noch immer. Für die Sheniler war es eine Sache, eine schwierige Sache gewesen, die Magier des Institutes zu akzeptieren, aber sie hatten Jahrhunderte Erfahrung mit den Menaris gehabt und sich daran gewöhnt. Mit dem Zirkel war es etwas anderes. Sicher, manche redeten von den Hexen des Waldes, viele glaubten zu wissen, dass sie im Zentrum des Arinkelwaldes ihre – wahlweise finsteren oder heilsamen – Treffen abhielten, aber nur wenige kamen zu ihr nach Satara. Und die meisten kamen aus Arinken und waren seit Generationen mit dem Wissen über den Zirkel aufgewachsen. Sie verstanden.
Die Sheniler würden vielleicht nicht verstehen. Sie hatte es immer für besser gehalten, wenn sie sich aus den Angelegenheiten der Patrizier hinaushielt. Das Schicksal Drugon Menaris‘ hatte sie das gelehrt. Würden die Sheniler den Unterschied erkennen, zwischen der finsteren Macht des Magokraten und der Macht des Zirkels, wenn sie ihn entfesselte?
Dennoch hatte sie die Hände geformt und die Krähen gerufen. Ein wenig Hilfe war sicher nicht zuviel?

In der Dorén-Halle

Ein lautes Krachen ließ den Kopf des Magokraten herumfahren: Eines der Seile war gerissen, ein Mann stürzte zu Boden. Ein leises Kichern ertönte irgendwo aus den Schatten. Geronya achtete nicht auf das Geräusch brechender Knochen und zappelnder Füße, sondern wandte sich hinüber zu dem Gefallenen. Doch Valeran stellte sich ihr in den Weg, eine seiner alten Hände packte sie mit ungewöhnlicher Kraft. Dann schrie der Magister auf, als sich der ya Papilio mit all seinem Gewicht auf ihn warf. Geronya nutzte die Gelegenheit und eilte zur Wand der Halle, um dem Gefallenen zu helfen. Dabei rannte sie vorbei an der großen Gespensterkrähe, die gerade die letzte ihrer kleineren Verwandten zu Tode pickte. Sie sah, wie Gransignore Aurandis die Wendeltreppe hinaufrannte, um seinem Herrn zu Hilfe zu eilen.
Eines der Ratsmitglieder begann derweil mit einem Stuhl gegen den hinteren Eingang zu hämmern, um ein Loch in die Tür zu schlagen. Der dürre Magier Syranon stützte sich mit einer Hand an der Tischplatte ab und bereitete unterdessen einen Schlafzauber vor.
H A L T
Die Stimme des Magokraten war in ihrem Kopf, schlängelte sich den Weg in ihre Gedanken. Sie wandte den Kopf, um hinauf zu ihm zu blicken. Alle anderen Frauen und Männer im Raum schienen es ihr gleich zu tun. Der Zauberer hatte beide Hände gehoben und formte mit einer gegenläufigen Bewegung der beiden einen Kreis in der Luft. Sein Gesicht war verzerrt, ob vor Wut oder Schmerz wusste sie nicht recht zu sagen. Etwas Dunkles lief aus seiner Nase und sickerte in seinen Bart.
„I H R wollt M I CH beherrschen? Wollt mich mit Schlaf fangen? N I E M A L S“
Geronya versuchte seinen Ruf zu verdrängen und sich von dem Anblick loszureißen, um dem Mann zu helfen, der hinabgestürzt war. Doch, ohne Erfolg: Ihr Körper gehorchte ihrem Willen nicht.
Ein Blick aus dem Augenwinkel und die erschrockenen Rufe hinter ihr, verrieten, dass es Anderen ähnlich erging.

Das Duell der Cavallieri

Unter Menaris' kraftvollen Schlägen musste Carolan ya Aragonza zurückweichen. Er war fast zwei Jahrzehnte älter als Angrond und hatte nicht mehr die Gewandtheit seiner besten Jahre, als er Duellanten, Banditen, Sandfresser, Dämonenanbeter und Schlimmeres bezwungen hatte. Muss ich halt meine Erfahrung ausspielen, sagte er sich – aber das war leicht gesagt und schwer getan. Kaum einmal kam er nahe genug an seinen Gegner heran, um diesen mit der Spitze seines Floretts zu kitzeln. Und diese schien das Wams des Jüngeren kaum zu durchdringen.
Mit gekreuzten Klingen wehrte der Cavalliere einen Hieb von oben ab und stolperte. Angronds sofort nachgesetztem Rückhandschlag wich er nur unzureichend aus: Der Anderthalbhänder streifte seinen Schädel, Blut troff aus der Platzwunde, Carolans Blick verschwamm, sein breitkrempiger Filzhut fiel zu Boden, und der Vogt von Ferilêc taumelte hinterher.
Das war's, war Angrond sicher, als er sah, wie der drahtige, kleine Mann auf dem Hosenboden landete und benommen nach seiner Kopfbedeckung tastete. Er setzte nicht gleich nach, sondern forderte: „Gebt endlich auf!“ Die Stiche, die ihm der Arbalettier versetzt hatte, schmerzten. Er musste zu seinem Vater, ehe sie seine Konzentration schwächten.“ „So leicht darf ich es Euch nicht machen“, stieß Aragonza hervor. „Ihr wisst ja nicht, was auf dem Spiel steht!“ Mit einer geübten Bewegung schleuderte er Menaris den Hut ins Gesicht. Bis der wieder freie Sicht hatte, stand Carolan erneut auf seinen Beinen. Wackelig, aber er stand. Blut rann aus seiner Kopfwunde durchs verklebte Haar ins Gesicht, aber die beiden Klingen in seinen Händen zitterten nicht. Angrond hörte Kvalors Ruf erneut, stieß einen wütenden Schrei aus und schnellte auf seinen Gegner los. Seine Klinge fraß sich durch das feinmaschige Kettenhemd, das Aragonza unter seinem blauen Wappenrock trug und ließ den rechten Arm kraftlos herabfallen. Das Florett fiel klirrend zu Boden. Doch durch einen gleichzeitigen Schritt war Carolan nun direkt bei ihm. Sein Linkhand glitt zwar am unteren Rand von Angronds Eisenmantel ab, drang aber direkt darunter tief in den Oberschenkel ein, bevor Menaris den Fechter mit einem Schmerzensschrei wegstoßen konnte. Angrond spürte, wie Blut sein Bein herab und in seinen Stiefel floss.
Carolan sackte gegen die Brüstung der Treppe und presste die Finger auf den versehrten Arm. Vor Angronds Augen verschwamm der Fuß der Treppe zusehends. Er sah das düstere Lächeln Rimon Salterers, als dieser von einem seiner Söldner begleitet die ersten Stufen hinaufstieg. Dann spürte er den Ruf seines Vaters mehr, als er ihn hörte. Und auf einmal blieben die Männer stehen. Angrond zögerte nicht lange, es war ihm einerlei, was die Söldner aufhielt. Stattdessen stolperte er auf das nun unbewachte Tor zu. Er drehte seinen Anderthalbhänder um und benutze diesen als Stock. Der Schmerz war nun eigentümlich weit weg. Angrond starrte auf das Schwarz der Pforte, die immer größer über ihm aufragte. Noch ein Schritt. Ich komme, Vater! Nur noch ein Schritt.

Hinter der Pforte

Auf den Lippen des Magokraten schimmerte Blut. Geronya blieb wenig übrig, als dem Tun des Magiers gebannt zuzusehen, denn noch immer konnte sie sich nicht von der Stelle rühren. Sie erkannte das Starren des Mannes wieder. Er konzentriert sich, blickt hinter die Dinge. Ihre Augen wanderten hinüber, wo ihr angefangenes Pentagramm unvollendet auf dem Boden prangte und ihr Magierstab neben dem Ratstisch lag.
„Ich sehe dich, Koboldfrau.“
Der Magokrat wies mit ausgestreckter Faust auf eine Stelle zu Geronyas linker Seite und ein Schmerzensschrei ertönte. Irgendetwas prallte gegen einen der Stühle am Ratstisch. Geronya hörte ein weibliches Stöhnen. Ein dunkler Schatten flog durch die Halle, als der schwarze Vogel auf der Schulter des Magokraten landete. Eine Gespensterkrähe. Geronya war sich jetzt sicher, dass es das gleiche Tier war, das offenbar schon vorher als Helfer des Zauberers aufgetreten war.

Der Schrei

Desatinava hielt die Äste fest und wickelte sie mit einer Schnur zusammen. Sie wiederholte das Ganze noch einige Male, bis sie einen grob dreieckigen Rahmen gefertigt hatte. Ein paar weitere Zweige des bräunlichen Holzes, das sie selbst inmitten des Arinkelwaldes aufgesammelt hatte, sorgten für ein Dreibein, auf dem der Rahmen stehen konnte. Dann griff sie in ein kleines Töpfchen an ihrem Gürtel und schmierte eine wenig wohlriechende Paste über die Schnürung. Der Geruch war unangenehm, aber kaum etwas hielt besser als dieser Sud aus Krötenschleim. Sie kramte eine Weile in ihrer Gürteltasche und holte dann ein pergamentartiges Bündel hervor. Mit ein paar Handbewegungen war das Bündel entrollt und sie hielt die Haut einer Schlange in ihren Händen. Sie begann, diese über den Rahmen zu spannen. Mit zwei Krallen befestigte sie die Haut, als sie fertig war. Dann holte sie die Feder hervor. Sie war fast vollkommen schwarz, bis auf eine Stelle weißen, fast silbrigen Flaums an der Spitze. Desatinava hatte sie vor einigen Jahren in den Hügeln von Côntris aufgelesen, als der Zirkel sich dort getroffen hatte. Ein letzter Handgriff und das Werk war fertig. Die Bauern am Rande des Waldes nannten es Vogelfalle, aber Desatinavas Werk sollte keinen Vogel fangen.
Sie blickte wieder hinüber zur Dorén-Halle, die in der sich rasch herabsenkenden Dämmerung zu versinken begann. Ihr Zögern hatte nun ein Ende. Das Licht war nicht zu schwach gewesen, um den Vogel zu erkennen. Die große Gespensterkrähe, die ihren Vögeln in die Halle gefolgt war, war ihr lange bekannt. Desatinava hatte sie für tot gehalten, am gleichen Tag gestorben wie sein Vertrauter. Isaf war das Vertrautentier des Hexers gewesen, den alle Welt nur als Pastore arcano kannte. Sie hatte vorher den Rabenvogel, der mit ihrer Katze gekämpft hatte und der Horasio ya Papilio am Magusbad von Terinis aufgelauert hatte, selbst nicht gesehen. Aber nun, als sie die Gespensterkrähe in die Dorén-Halle hinabgleiten sah, wusste sie, dass es sich dabei um Isaf gehandelt haben musste. Er hat ihn unter seine Kontrolle gezwungen. Die Wut hatte allen Zweifel hinweggefegt. Sie stellte das Gebinde auf das Sims des geborstenen Fensters. Der Wind strich über die Haut und die Feder flatterte leicht.
Sie legte die Hände an den Mund und schrie.

Das Ende

Ein letzter Zauber ... (?)

Der Blick des Magokraten wanderte in der Halle umher. Wie ein Falke, der sich anschickt, seine nächste Beute zu schlagen. Seine Brust hob und senkte sich erkennbar und Geronya war jetzt sicher, dass ihm ein Rinnsal Blut aus der Nase lief. Geronya begriff: Die Verbotene Pforte! Der Magokrat griff nach seiner eigenen Lebenskraft, um seine Zauber zu nähren. Sein Körper war angeschlagen, aber seine Augen glühten nur so von finsterer Kraft. Dann ruckte sein Kopf nach oben, seine Stirn zerfurchte sich. Die Gespensterkrähe krächzte und breitete die Flügel aus. Drugons Lippen formten eine Frage.
Zuerst nahm Geronya das Splittern wahr. Alle Fenster der Fahnengalerie zerbrachen. Ein Regen von Glas überschüttete die Unglücklichen, die an den Wänden der Halle Zuflucht gesucht hatten. Dann erst, einen Lidschlag später, spürte die Magierin wie ein Schmerz durch Glieder und Geist fuhr, der sie zu Boden drückte. Sie presste beide Hände gegen die Schläfen, ohne sich zu fragen, warum das wieder möglich war. Sie schrie, sie schrie so laut, dass ihre Kehle schmerzte. Sie zwang sich, zu schweigen und wimmerte. Aber der Schrei drang immer noch in ihren Ohren. Nicht ich.
Es dauerte einen langen Augenblick, bis Geronya erkannte, dass der Schrei das erste gewesen war, was sie gehört hatte. Ein Schrei der Glas bersten ließ. Um sie herum krochen Frauen und Männer durch die Dorén-Halle. Sie drückte sich mit beiden Armen mühsam in eine aufrechte Lage und warf einen Blick hinüber zu ihrem Vetter Valeran. Dieser blickte gerade mit einem mitleiderregenden Gesichtsausdruck im Raum umher. Als suche er etwas, von dem er kurz zuvor nicht einmal gewusst hatte, dass es verloren war.
Geronya sah, wie der Magier Syranon hinüber zu einem der Gefallenen stolperte, um zu retten, was zu retten war. Mit ängstlicher Miene suchte sie den Magokraten, halb erwartete sie, dass sein Blick dem Gang Syranons folgte. Doch die Gestalt des Magiers war in einen Kampf verwickelt. Erst sah sie nur schwarzes Gefieder und glaubte, eine überlebende Krähe habe sich auf den Magokraten gestürzt.
Doch dann erkannte sie das graue Gefieder am Kopf der Gespensterkrähe. Ihre Krallen zerrissen Gewand und Haut des Zauberers und ihre Flügel schlugen in dessen Gesicht. Es wendet sich gegen seinen Meister!
Der Magokrat schlug den Rabenvogel mit einer Hand beiseite. Dann schob sich eine Gestalt zwischen Drugon und Geronyas Sichtfeld. Als das Schwert des Mannes den Magus traf, erkannte sie Randulfio Aurandis.
I H R
Der Magokrat brüllte, halb vor Schmerz und halb vor Wut. Geronya spürte ein schmerzhaftes Ziehen hinter den Augen und ihr Mund fühlte sich mit einem Geschmack, als hätte sie sich auf die Zunge gebissen. Neben ihr krümmten sich einige andere Unglückliche, obwohl niemand sehen konnte, was Drugon getan hatte. Ungleich stärker waren aber die Reaktionen bei den Angreifern des Magokraten. Wie von einer unsichtbaren Hand getroffen taumelte Randulfio Aurandis zurück, ließ kraftlos sein Schwert fallen und fiel ungehindert die ersten Stufen der Wendeltreppe, die er hinaufgestürmt war, wieder hinunter. Die Gespensterkrähe wurde wie eine Puppe zurückgeschleudert, schlug gegen das Gemäuer und fiel dann in die Tiefe. Geronya seufzte. Sein letzter Gegner ist besiegt. Sie dachte nicht mehr an den Schrei oder dessen Urheber oder Urheberin.
Doch auch der Magokrat fiel. Niemand stieß ihn. Er stolperte nicht. Die Kraft hatte seinen Körper verlassen. Sie hörte Cyrene Arkenstab schreien, als der Mann, der einst eine ganze Region in Schrecken versetzt und heute den Rat einer ganzen Stadt in seiner Hand gehabt hatte, ebenfalls in die Tiefe stürzte. Sie hörte einen Aufprall. Geronya rappelte sich mühsam auf. Ein krächzender Ruf ließ sie nach oben blicken. Sie vernahm das Schlagen großer Schwingen. Da, wo die Gespensterkrähe gefallen war, lagen nur Glassplitter von den mächtigen Fenstern der Halle.
Cyrene hatte unterdessen die Stelle unterhalb der Wendeltreppe zur Fahnengalerie erreicht. Die Frau kniete unter stummem Schluchzen nieder. Geronya wusste nicht, woher sie die Kraft nahm, sich aufzurichten und ebenfalls hinüber zu ihrem Vater zu gehen. Er war nicht mein Vater, er ist es nie gewesen!
Da, wo der Magokrat gefallen war, war eine steinerne Bodenplatte geborsten. Eine schwarze Schicht hatte sich über den Stein gelegt. Vom Leib des Magokraten war nichts geblieben.

Die Geschichte wird hier abgeschlossen: Epilog