Studiora
„Die Studiora zu betreten glich für mich als reisendem Schriftsteller einer Heimkehr, obgleich ich noch nie zuvor dort gewesen war. Gelehrsamkeit, Kunstsinn und Weltoffenheit fand ich hier in wenigen Straßenzügen verdichtet, wie erst wieder in Kuslik.“ - Savertién Myrdano, „Meine Pilgerfahrt durchs Liebliche Feld“, 1024 BF
Östlich des König-Khadan-Platzes schließt sich das Viertel Studiora an, in dem sich die Bildungseinrichtungen der Stadt konzentrieren und die Verehrung der Herrin Hesinde noch stärker ist als im Rest der Stadt. Neben gewöhnlichen Handwerkern wohnen hier Alchimisten, Schreiber, Gelehrte, Geweihte und Magier weshalb die Sheniler auch manchmal von Klein-Kuslik reden. Schreitet man gen Hesinde-Tempel, passiert man die Garnison der Sheniler Tempelgarde (12), einen zweistöckigen Bau, der vor allem durch den an der Pforte befestigten Gong auffällt, mit dem eine Gefahr für die Sakralstätten der Stadt verkündet wird. Dann schreiten die in grüne Wappenröcke gewandeten und mit Kampfstab und Kusliker Säbel gewappneten Tempelgardisten ein.
Das graue Gebäude (13) südlich beinhaltet die Volksschule Shenilos, in der auch Handwerksberufe gelehrt werden, vor allem aber der phexgefällige Handel. Seit kurzem gibt es unter den Schülern, die sich traditionell in Rivalität mit den Scholaren des Draconiter-Institutes befinden, auch solche der Rechtskunde und der Baukunst.
Nach Osten gehend betritt man die Piazza Naclador (14) dem zu Ehren ein etwa vier Rechtschritt großes Mosaik die Erde ziert, das den grün-goldenen Drachen der Weisheit auf einem Edelstein sitzend zeigt. Dieses wird alljährlich am Reinigungsfest von den Geweihten des Tempels auseinandergenommen, um hernach von den Gläubigen gesäubert und wieder zusammengesetzt zu werden.
Dominiert wird die Piazza vom St.-Brigon-Tempel der Hesinde (15), der zum Ende der Rohalszeit grundgelegt und um 600 BF vom Magister der Magister Argelion Schlangentreu geweiht worden sein soll. Der Tempel selbst besteht aus halbkreisförmigen Bau, der an seiner runden Seite mit einer zwölfgöttergefälligen Zahl an Säulen begrenzt ist. Zwischen den Säulen hindurch gelangt man in eine lichte Halle, in der oft Bürger stehen, mit ihresgleichen Streitgespräche halten oder philosophischen Vorträgen der Geweihten lauschen. Die für Hesinde-Tempel typische lichte Bauweise des Tempels symbolisiert die Offenheit des gelehrsamen Geistes, ist aber ein Graus für die Wächter der Sheniler Tempelgarde. Nach dem Ende des Krieges der Drachen wurde der Tempel im Westen um einen Portikus erweitert, der als Haupteingang fungiert. Die anschließende Andachtshalle ist ein polygonaler Raum, abgegrenzt durch sechs Säulen, die mit den Symbolen der sechs Elemente verziert sind und Hesindes Herrschaft über diese darstellen sollen. In ihrer Mitte befindet sich ein rundes, von einer kleinen Mauer aus blau-grünen Mosaiksteinen umgrenztes Becken. Dies ist die sogenannte Schlangengrube, in der verschiedene Exemplare des heiligen Tieres leben. In einem gläsernen Behälter ruht das Natternhemd der Schlangenkönigin, eine Stiftung des Hauses Galahan aus den Kusliker Hallen der Weisheit. Der Schlangengrube gegenüber liegt der Hochaltar des Tempels, auf dem das Buch der Wahrheit ruht. Im Zentrum der Halle, an der Schnittstelle der Säulen steht eine von der Familie Menaris gestiftete Statue der Herrin Hesinde. Unter der Tempelanlage liegen in einer borongeweihten Krypta die Hohen Lehrmeister des Tempels und auch mancher Stifter aufgebahrt.
Auf der Piazza treffen sich die Veritaner, eine sehr eigentümliche Erscheinung der Sheniloer Gelehrsamkeit. Abends kann man hier etwa ein Dutzend in bosparanisierende Gewänder gehüllte Gestalten erblicken, die lautstark über die Götter und die Welt debattieren. Die Denkweisen der Veritaner sind sehr uneinheitlich - es dominieren die Neo-Rohalisten, jedoch finden sich auch Anhänger des hylailischen Naturphilosophen Periphides und vom maraskanischen Zwillingsglauben beeinflusste Vertreter.
Die Piazza Naclador lockt naturgemäß die Bildungsbeflissenen der Stadt, weshalb man in seiner Nähe auch die Palazzi des Hauses ya Papilio (16) und der Familie Menaris (17) findet. Weithin sichtbar ist der Turris Magi, der Turm der Magier, der die beiden Flügel des Palazzo Carolani verbindet. In dem recht wehrhaft errichteten Turm, auf dessen Spitze eine von kleinen Blutulmen umwachsene Sternwarte zu finden ist, arbeiten die Magier der Familie. Neben den in Shenilo ansässigen Familienmitgliedern übernachten auch immer wieder stadtfremde Magier auf Einladung der Menaris im Palazzo. Ärmere Stadtbewohner, die sich die Dienste eines Medicus oder eines Heilers nicht leisten können, betteln regelmäßig zwischen Palazzo und Draconiter-Institut um arkane Zuwendungen, was die Leondrisgarde zu unterbinden versucht.
Von der Bedeutung, die die Wissenschaften und der Erhalt von Neuigkeiten aus anderen Teilen des Reiches für Shenilo haben, zeugt nicht zuletzt der imposante Semaphorenturm (18), das höchste Bauwerk der Stadt. Gemeinsam mit dem Turris Magi und dem Turm des Draconiter-Institutes sorgt er für manche Bemerkung, Studiora mit all seinen Türmen, sei viel eher Klein-Sibur als Klein-Kuslik.
Auffällig ist die wehrhafte Bauweise des Semaphoren: Erst in sechs Schritt Höhe finden sich richtige Fenster, darunter lediglich schmale Scharten. Die Mauern sind bis kurz unter dem Turmhaupt ganz aus Stein und an der Basis einen Schritt dick. Selbst die an Werktagen von Praiosauf- bis -untergang weit geöffnete Eingangstür in die ebenerdige Nachrichtenkammer ist aus schwerem Steineichenholz und mit Eisen beschlagen. Da wundert es nicht, dass sich die Besatzung während des Thronfolgekriegs einige Zeit darin verschanzen und jeder streitenden Partei ihre Dienste verweigern konnte.
Für den früheren Ersten Semaphoristen Tassilo Brettschneider hatte dieses Bemühen um Neutralität jedoch ein Nachspiel. Nicht nur, dass inzwischen zu jeder Tages- und Nachtzeit eine Corazza des Kaiserlichen Semaphorie-Regiments über die Sicherheit und den Betrieb der Station wacht (und darüber, dass jederzeit Eilmeldungen des Comto-Protector von und nach Shenilo gelangen können): Brettschneider verlor zudem seinen Posten und ist nunmehr nur Stellvertreter der neuen Stationsleiterin Madalberta Verpuccidi, einer Nandus-Akoluthin.
Doch die beiden ungleichen Semaphoristen scheinen sich ideal zu ergänzen: Während Madalberta meist Nachrichten in Empfang nimmt und verschlüsselt sowie das freundliche Gesicht der Station ist, versteht sich Tassilo vortrefflich auf die mechanischen Belange der Nachrichtenübermittlung. Geeint stehen beide zum Ehrenkodex der Semaphoristen, wonach der Inhalt keiner Nachricht an Dritte gelangen darf. Gemeinsam schmunzelt man auch über altmodische Arten der Nachrichtenübermittlung wie die Reiter des Postendiensts. Differenzen gibt es dagegen bei vielen anderen, für Außenstehende oft belanglos erscheinenden Einzelheiten.
An der Piazza liegt auch das prächtige Stadthaus (19), das jüngst von den Familien della Pena ä.H. und Romeroza erstanden wurde und fortan vom bekannten Opernsänger Tsaiano della Pena ä.H., seiner Gemahlin und seiner kleinen Schwester bewohnt wird.
Das Theater „Zur Maske“ (20) liegt etwas nördlich der Piazza, in einem zweistöckigen Steinbau mit angebauter Bühne. Bereits seit der späten Rohalszeit werden hier von maskierten Schauspielern aus dem Volk die Rollen der Komödien übernommen, weshalb das Theater behauptet, den Zeitgeist der Renascentia vorweggenommen zu haben. Oft wird eine lustige Geschichte oder irgendeine Tat des Adels oder bekannter Bürger veralbert und zur Schau gestellt, was manchmal schon für Skandale gesorgt hat.
Schon fast an der nördlichen Mauer befindet sich die Kellerei Brahl (21) ein größeres, zweistöckiges Fachwerkhaus, das durch die fehlenden Fenster im Obergeschoss und das große Flügeltor im Erdgeschoss auffällt.
Im Südwesten des Platzes steht schließlich das Redaktionsgebäude des Sheniloer Hesindeblatts (22). In dem zweistöckigen Bau im neo-kuslikschen Stil geben sich wochentags Gelehrte, Künstler, Schauspieler und Schriftsteller, ja gelegentlich sogar Immanspieler und Magier, die Klinke in die Hand. So verwundert es nicht, dass der in die Jahre gekommene Redaktionsleiter Creon ya Nuar und seine Mitstreiter in wissenschaftlichen und kulturellen Belangen der Stadt stets aufs Beste unterrichtetet sind.
Doch wie kaum sonst eine Institution in Shenilo hat die einst weithin gerühmte und sogar in fernen Gestaden gelesene Gazette unter dem Krieg der Drachen gelitten: Da selbst innerhalb der Redaktion ein tiefer Graben aufriss, wessen Thronanwärters Sache man in Wort und Druck befördern sollte, erschien sie zuletzt nur noch als reines Anzeigen-, Amts- und Mitteilungsblatt ohne die einst bekannte Aktualität und Informiertheit in herrschaftlichen Belangen. Zudem versiegte infolge der wachsenden Rivalität mit der Landstadt Pertakis der ehedem sprudelnde Brunnen wissenswerter Kunde und spannender Geschichten aus dem gesamten Umland. Tiefpunkt der Entwicklung war die zeitweise Besetzung der Redaktion während des Kriegs, während derer nur noch Pamphlete und Propagandaschriften gedruckt wurden.
Erst in jüngster Zeit hat sich die Lage gebessert: Zu den altgedienten Schreibern und Setzern, Thersion Gedra, Cordovan Leisur, Farlon Terschlin und Naftal Librettos haben sich Berichterstatter wie Ascanio von Calven-Imirandi, Yaquiria Palfolino und Urras Escaliver gesellt, der einstige Reisekorrespondent Eolan ya Aragonza hat das Schreibpult übernommen, an welchem einst der heutige Erste Rat re Kust stand. Diese Gemeinschaft arbeitet hart daran, Kunde aus der Stadt Gerons und Hesindes über die Ponterra hinaus zu tragen. Dass die Nachdrucke von Artikeln aus dem SHB im Bosparanischen Blatt seit einigen Ausgaben regelmäßig mit den größten Umfang einnehmen, ist erstes Zeichen ihres Erfolgs.
Praiostags ist die Redaktion bemerkenswerterweise stets geschlossen. Die übrigen fünf Wochentage jedoch herrscht ein Trubel, wie man ihn an diesem doch eigentlich von Schreibarbeit geprägten Ort kaum vermuten würde. Es beschwert sich ein Gutsbesitzer, warum er sein längst bezahltes Exemplar der aktuellen Ausgabe noch nicht erhalten hat, während Creon die Drucker ob des kaum leserlich kleinen Schriftsatzes ins Gebet nimmt. Es klagt ein altes Mütterlein sein Leid, man müsse doch über die entfleuchte Schoßkatze etwas schreiben, während Eolan lauthals eine Nachricht für den Semaphor diktiert.
Nur in den Räumen des Obergeschosses ist es ein wenig ruhiger. Dort findet nicht der verwaltende, sondern der verfassende Teil der Arbeit statt: Die Redakteure tragen ihre Notizen zusammen, lesen in Abschriften aus dem Archiv des Tempels über lange zurückliegende Ereignisse nach oder sprechen mit einem Informanten unter vier Augen, um geheime Entwicklungen ins Tageslicht zu zerren. Und nicht zuletzt entstehen hier die fertigen Texte in Schönschrift, die man den Setzern übergibt, die daraus eine neue Ausgabe des SHB zusammenstellen.
Vervielfältigt wird diese dann im höchst modernen Bleisatzverfahren mit beweglichen Lettern im direkt hinter der Redaktion gelegenen Druckhaus. Dieses ist lediglich durch eine Mauerwand von der Schreibstube getrennt, so dass der Besucher häufig das Fluchen der "Schwarzkünstler" hören kann, wie die Drucker im Volksmund auch genannt werden, wenn sich wieder einmal ein unschöner Umbruch oder ein Sonderzeichen in den Text geschlichen hat. Im Druckhaus entstehen übrigens nicht nur die Hesindeblätter, sondern alle in großer Auflage zu verteilenden Publikationen Shenilos - von Mitteilungen der Volksschule bis hin zu Steckbriefen -, da diese Vervielfältigungen meist an die Druckerei vergeben werden. Reisende Drucker mit portablen Pressen sind in der Stadt von der Parinorszunft höchst ungern gesehen.
Deren Gildenhaus (23) steht in seinen Grundmauern bereits seit der Rohalszeit an der Piazza Darador und ist neben der Zunftvertretung der Apotheker, Barbiere, Medici, Glaser, Optiker, Buchbinder und -drucker, Parfümeure und Uhrmacher auch Heimstatt eines der praios-kritischsten Personenkreise der Stadt, führt sich die Zunft doch auf drei von den Statthaltern der Priesterkaiser wegen Ketzerei hingerichtete Handwerker zurück. Ein beeindruckendes Fresko zeigt den Heiligen Parinor beim Pflanzen inmitten von mit schmutzig-goldenen Händen nach ihm greifender Hecken. Im Gildenhaus sind aus ökonomischen Gründen die Werkstätten mehrerer Zunftmitglieder vertreten.
Bereits seit den Zeiten der Priesterkaiser ist dem ältesten der Hohen Drachen die Piazza Darador (24) gewidmet. Auf den Dächern von drei umgebenden Gebäuden fangen polierte Silberscheiben aus Côntris den Odem Daradors ein, das Licht der Abenddämmerung, um gegen die Finsternis der Nacht zu schützen, und leiten sie allabendlich ins Zentrum des Platzes, wo man zum Erleuchtungsfest mit Hilfe eines Parabolspiegels dem Winter ein Feuer entgegenstellt.
Das Draconiter-Institut im Nordosten des Viertels (25) hat 1016 BF ein altes Herrenhaus bosparanischer Zeit bezogen, welches auf den ob sinistrer Vorbewohner, dunkelzeitlicher Wandmalereien und verschwundenen Neugierigen als Dämonengewölben bezeichneten Kavernen und Höhlengängen erbaut wurde, die immer noch auf ihre endgültige Erforschung harren. Hier werden seit einigen Jahren von mehreren unabhängigen Lehrmeistern magisch begabte Zöglinge des Patriziates unterwiesen, nachdem die Anerkennung des Institutes als Akademie durch die Gilden gescheitert war. Der trutzige Bau, der noch immer eher an eine Feste, denn eine Bildungseinrichtung gemahnt, beherbergt neben Lehr- und Wohnräumen für Lehrer und Belehrte und Labor auch eine Artefaktwerkstatt.
Am nördlichen Hang der Burg Yaquirstein liegt schließlich das Atrium Sapientium (26), eine patrizische Stiftung, mit der für Scholaren, Eleven und Novizen der Tempel und Lehranstalten Shenilos von außerhalb ein Wohn-, Lehr und Lebensort geschaffen wurde.
Quellen
- Bosparanisches Blatt Nr. 35, Seiten 12-13
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