Die Kammer des Schreckens
Auch hier war der Eindringling gewesen. Die Tür lag morsch und zerstört auf dem Boden und Lissa ließ die Hoffnung sinken. „Es wäre ja auch zu schön gewesen, wenn ausgerechnet ich dies mächtige Artefakt wieder finden würde.“
Hinter ihr zwängte Antonius sich durch den schmalen Durchgang. „Ich weiß nicht, ein Löffel ist ein Löffel“, brummte er.
Die Hesindegeweihte durchleuchtete den Raum. Es war eine kleine Kammer. Einige Bildnisse mochten früher schön und teuer gewesen sein, aber davon war nicht mehr viel zu sehen. Der Modergeruch überlagerte das Szenario des Verfalls, in dem eine Betbank und diverse gesprungene Steine von dem früheren Feuer über dem Raum zeugten. Gegenüber dem Gang hingen die Stoffreste eines einst schweren und teuren Vorhangs. Dahinter glitzerte verführerisch silbrig ein Gegenstand, bei dem Lissa neuen Mut schöpfte. Vielleicht war ihre Suche doch nicht vergebens! Sie hielt die Lampe vor sich und sah sich noch einmal um für den Fall, dass das Wesen noch im Raum war und wartete, aber außer ihren flackernden Schatten und Antonius rührte sich nichts.
Langsam traute sie sich ihrer Hoffnung nachzugeben. „Oh bei Hesinde, bitte enttäusche mich nicht. Wenn es der Löffel ist, den ich suche, werde ich ihn zu deinem Tempel bringen.“
Vorsichtig, in der Angst, dass eine falsche Bewegung den Gegenstand zerfallen lassen könnte, ging sie weiter. Tatsächlich lag dort ein silbriger Löffel, verschont von der Zeit, die dem Podest durchaus zugesetzt hatte. Das Metall war schön gearbeitet und zeigte eine blühende Landschaft, die zum Ende des Stiels hin in einen grünlichen Jadekristall über ging. Daraus geformt war eine Schlange, das Symboltier der Hesinde, dessen Augen Lissa aufmunternd anzublitzen schienen. Ihre Hand passierte die Vorhang-Reste und sie machte den letzten Schritt.
Zunächst fühlte es sich wie ein Kribbeln an, doch schnell bemerkte sie, dass Hesinde ihre schützende Hand von ihr genommen haben musste. Die Göttin entfernte sich von ihr. „Nein! Warum? Was habe ich getan?“ Lissa drehte sich, ließ den Löffel zurück. Ihr Fuß hatte sich in dem heruntergefallenen Vorhang verfangen und zerrte ihn mit, als ihr die Luft zum atmen zu eng wurde. Nie, nie wollte sie von Hesinde verlassen sein! „Verlass mich nicht, Hesinde! Ich bin deine treue Dienerin!“ Im nächsten Moment war sie sich nicht mehr sicher, ob schon die Namenlosen Tage angebrochen waren. Eine grausige Furcht kam in ihr hoch, als sie die Präsenz des Dreizehnten bei sich zu spüren glaubte.
Ein starker Arm hielt sie zurück, doch sie schlug danach und befreite sich von ihm, ebenso wie von dem Vorhang an ihrem Fuß. „Hesinde! Ich werde dir immer treu sein! Komm zurück, bitte! Lass mich nicht zurück beim Namenlosen!“
Ein Schrei neben ihr, ließ sie erneut herumfahren, ehe sie hinausstürmen konnte. Antonius drückte sich mit dem Rücken zur Wand und wich angsterfüllt wieder davon zurück.
„Bleib in meinem Rücken, pass auf, dass keiner von hinten kommt!“, schrie er und drehte sich noch einmal. „Kämpf fair, du dreckige Ratte!“
Lissa sah sich um, konnte aber niemanden erkennen. Der Raum war leer. Sie war von Hesinde verlassen und der Namenlose drohte jeden Moment in sie zu dringen. Sie glaubte seine faule Anwesenheit zu spüren. Lissa fasste sich an den Kopf, der unbändig schmerzte, während Antonius in ihrem Rücken aufgebracht hin und her ruckte, überall einen Angreifer witternd.
„Nein, Hesinde kann mich nicht so einfach verlassen haben. Es gibt keinen Grund, keinen … Warte, da war doch was.“ Sie nahm das Buch von Helion erneut hervor, und las dann laut: „So ist es sicher verwahrt durch dicke Tür und magisch Macht, die niemand kennt und immer wacht.“ Ihre Gedanken überschlugen sich. „Keine magische Macht kann meine Verbindung zu Hesinde trennen, dafür gibt es keinen Zauber, sie ist also noch bei mir. Aber was für ein Zauber kann mir das Gefühl geben?“
„Komm endlich heraus!“, brüllte Antonius und zog schließlich sein Schwert, stürmte an Lissa vorbei und auf die Betbank zu, die sich kurz darauf in einen Regen aus gesplittertem Holz auflöste. In einer geschmeidigen Bewegung setzte Antonius seinen tödlichen Tanz fort, der das Schwert nicht zur Ruhe kommen ließ und nach und nach mehrere der alten Gegenstände in Kleinholz verwandelte. Immer wieder stoben auch Funken von der Decke und den Steinwänden.
„Warte, natürlich! Eine Illusion, die uns unsere Ängste vor Augen führt! Ein Horriphobus wacht ohne zu schlafen, aber wo? Ich habe nichts berührt, als ich zum Löffel griff.“
Ihr Blick wanderte zum Podest, das noch nicht in Fetzen lag, es war alles unberührt dort, einzig der heruntergefallene Vorhang, der sich an sie gewickelt hatte, lag nun in ihrer Nähe.
„Das ist es! Antonius! Beruhig dich, lass bitte den Bettpfosten in Ruhe. Hier ist kein Feind, es war ein Zauber“, versuchte sie ihn zu beruhigen.
„Ein feindlicher Zauberer? Was für ein hinterhältiger, verdammter …“
„Nein! Ein Zauber! Er hat dir deine größte Angst gezeigt, aber sie ist nicht real! In dem Vorhang war ein Zauber, der dir deine schlimmsten Alpträume zeigt. Hier ist niemand, der dich angreift.“
Antonius ging vorsichtig und prüfend zu dem Vorhang. „Bleib in meinem Rücken, man kann nie wissen …“
„Schieb es einfach mit dem Schwert zur Seite, dann sollte es uns nicht mehr stören“, befahl Lissa sanft und Antonius gehorchte. Langsam gewannen beide ihre Fassung wieder.