Der Löffel
„Ganz schön effektiv und gemein. Ich hätte es wissen müssen. Der letzte Tempelvorsteher war ein Magier, natürlich hat er das letzte wichtige Artefakt geschützt. Aber jetzt sollten wir es ohne Probleme mitnehmen können.“
Lissa ging wieder näher an den schön gearbeiteten Löffel und fasste vorsichtig an dem Vorhang vorbei, jederzeit bereit eine Illusion oder eine andere Falle auszuweichen, oder zu bekämpfen. Aber nichts passierte. Ihre Finger schlossen sich um das kühle Metall, und der Jadestiel funkelte fröhlich vor sich hin.
„Und das kleine Ding soll große Macht besitzen?“, fragte Antonius ungläubig.
„Es scheint zu der Beschreibung zu passen. Wenn du mir ein wenig Zeit gibst, kann ich versuchen das heraus zu finden.“
Damit setzte sie sich mit dem Löffel hin und begann sich auf den Gegenstand einzulassen. Ihr Geist begann die Fühler auszustrecken und im Vertrauen auf Hesindes Hilfe spürte sie endlich eine Antwort. Sie öffnete die Augen und sah Madas Welt. Hinter dem Podest leuchtete irgendetwas schwach, aber sie konzentrierte sich auf den kleinen Gegenstand. Der Löffel schimmerte in einem silbrigen Glanz voll Magie. Neugierig sah sie genauer hin, aber die Signatur war nicht ganz deutlich, als lägen mehrere arkane Fäden übereinander. Es blieb ihr nur eine Wahl, sie musste sich wohl darauf verlassen, sich Hesinde als würdig zu erweisen.
Mit einer vorsichtigen Bewegung führte sie den gleißenden Löffel an ihre Lippen und trank.
Besser, sie versuchte es, aber der Löffel war leer. Dann traf sie die Erkenntnis mit der Macht einer Trollfaust!
Es trieb ihr die Luft aus der Lunge und die Tränen in die Augen, als sie zu lachen anfing. Völlig perplex stand Antonius daneben und wusste nicht, was bei einer völlig ausgelassenen Hesindegeweihten zu tun war. Schließlich fasste er sich ein Herz und nahm der immer noch vor Tränen lachenden Lissa den Löffel ab. Er legte ihn zur Seite und hielt sie fest. „Verdammte Artefakte, man kann sich wirklich nie sicher sein, woran man gerät“, brummte er, während Lissa sich langsam wieder fing.
„Und da sag noch einer, Hesinde verstehe keinen Spaß!“, rief sie noch immer lachend aus.
„Das muss ich sehen, warte mal.“
Sie wollte wieder nach dem Löffel greifen, aber Antonius war schneller. „Erst erzählst du mir, was das grad war, verstanden?“
„Ich habe doch nur gelacht, was soll daran schlimm sein?“, fragte Lissa grinsend.
„Es klang, als würdest du daran ersticken“, erklärte der Ritter ernst.
„Nein, keine Sorge. Aber ich muss mir den Löffel noch einmal ansehen. Wenn dieser Löffel tatsächlich der von Hesinde ist und die Erleuchtung bringt, die ich gerade hatte, kann ich mir die Gesichter nicht entgehen lassen!“ Ohne auf Antonius zu achten, schnappte sie sich schnell den Löffel und ließ sich erneut auf ihn ein. Diesmal bat sie Hesinde jedoch darum, einen Blick in die Vergangenheit zu werfen. Dorthin, wo der Löffel noch benutzt worden war. Sie fühlte ihren Geist in alte Vorstellungen gezogen. Wie im Traum sah sie sich immer tiefer in die Vergangenheit eintauchen, erkannte jemanden, der den Löffel hinter einen schweren Vorhang legte und den Horriphobus darüber legte, aber sie bat darum, noch weiter zurück zu kehren.
Tatsächlich gewährte Hesinde ihr diesen Wunsch und Lissa tauchte weiter in die Vergangenheit ein, soweit sie es vermochte.
Viel zu weit. Sie sah, wie das Schmuckstück von einem Schmied an einem ihr unbekannten Mann gegeben wurde. Dieser musste ebenfalls ein Hesindegeweihter sein, das verriet seine grüne Robe mit der gelben Schlange. Er nahm den Löffel dankend und ging damit zu einem kleinen Kloster, das auf einem frischen Erdwall stand, direkt vor einem Felsen. Sie folgte dem Mann in den Keller, genau in dem Raum, in dem sie sich gerade befanden.
Lissa musste zweimal hin schauen, sonst hätte sie es nicht geglaubt. Der Mann steckte das Kristallende in eine Kerbe im Fels. Ein Klicken ertönte und es schwang eine gut versteckte, steinerne Tür auf, durch die er verschwand. Gern wäre Lissa der Gestalt weiter gefolgt, hätte wissen wollen, was dahinter lag, aber hier spürte sie Hesindes Zustimmung schwinden. Sie sollte an dieser Stelle nicht weiter sehen, was dort geschah. Langsam, unendlich langsam ließ Lissa sich von der Szene wegtreiben. Sie verschwamm vor ihren Augen und spürte den realen Löffel wieder. Ihre Finger fühlten sich kalt an, ebenso die Beine.
„Ich habe mir schon Sorgen gemacht“, klang die tiefe Stimme von Antonius zu ihr. „Ich denke, wenn wir hier alles erledigt haben, sollten wir langsam gehen. Wir müssen die Tiere versorgen. Erst Recht, wenn tatsächlich ein Angreifer in der Nähe ist.“
Lissa schlug die Augen wieder auf und verarbeitete erst das Gesagte, ehe sie den Kopf schüttelte. „Das war doch nur eine Illusion, ein Zauber, der deine Ängste …“
„Diese Spuren sind real und keine Illusion“, erklärte der Ritter und deutete auf die tiefen Krallenspuren an dem Durchgang. „Besser wir verschwinden bald, wir haben was wir wollten, oder?“
Lissa stand auf und ihre Beine prickelten unangenehm. Wie lange sie wohl gesessen hatte? Sie wusste es nicht, aber mit dem Schmerz von tausenden Nadelstichen, begannen ihre Beine wieder ihren Dienst aufzunehmen. „Ich gehe davon aus, dass es der Echte ist. Eine Sache muss ich aber noch prüfen.“