Sanct Parvenus
"Man ist, wenn man die ganze Zeit auf See ist ja froh um jeden Berg, den man während seines Landgangs erklimmen kann. Und Efferdas hat davon einen ziemlich steilen. Kaum vorbei am alten Markt und dem Theater, welches hier Parvenoleum genannt wird, betrat ich schon bald einen wieder etwas flacheren Stadtteil, der mir vor allem durch sein emsiges Treiben auffiel und erst an der Stadtmauer und den beiden die Stadt umschließenden Seen sein Ende fand. Dabei musste ich feststellen, dass der hafenwärtige Bereich dieses Stadtteiles – von den einheimischen Schmiedewinkel genannt – nicht minder handelstüchtig als der Neue Markt war, aber schon bedeutend unbehaglicher. Mag ich Seebär doch auch mal das Grobschlächtige, prägten hier grimmige Gesichter von fest in ihre Arbeit vertieften Muskelprotzen ähnlich das Stadtbild, wie lieblos und eng aneinander gereihte Häuser, meist nur durch Treppenaufsätze oder kleinen Gässchen getrennt, so eng, dass zwei Menschen kaum aneinander vorbei passen würden. Und auch der Begriff "Schmiedewinkel" als solcher stellte sich als gar nicht so unpassend heraus. Immer wieder hörte man das Hämmern eines Hammers auf einen Amboss, ohne diesen genau ausmachen zu können, denn mit den steiler und auch enger werdenden Gässchen stieg auch die Anzahl entsprechender Häuser.
Es schien, als ob Efferdas eben nicht nur diesen Hafen als Umschlagspunkt hatte, sondern auch den Händlern des Landes eine gute Basis bieten konnte. So kamen mir auf meinem Weg schnell diverse Händler mit ihren Gaben auf mich zu und baten sie entsprechend feil. Wer aber nun wie bei den Tulamiden Melonen und allerlei Obst als Gabe erwartete, sah sich getäuscht. Zwar zeigte sich eine deutliche Präsenz von Nüssen als Handelsgut, aber das Angebot war wahrlich breit gefächert. Sogar Spieluhren und andere Handwerksgüter fanden dort ihren Abnehmer, auch Kirschen, Oliven, Äpfel oder Gewürze aller Art suchten neben all den Brot-, Eisen- und Rüstungshändlern selbige. Das emsigste Treiben fand derweil im tiefer gelegenen Stadtteil Parvenusgrund statt, ein Platz nahe eines großen Turmes, welcher jedoch etliche Höhenmeter über dem von Geschäften umzingelten „Piazza Avellana“ lag. Das Getümmel dieses „Haselnussmarkts“ war mir aber zu hektisch, ich wollte eher meine Ruhe und beschloss, mir diesen Turm näher anzusehen. Angefangen an der Piazza Pistacia begann also der steile Aufstieg. Erstmals, aber immer wieder begrüßten mich hier einige steile Treppenpassagen. Unterwegs wurde mir bereits vom Besuch des nördlicheren Stadtteiles Parveneo abgeraten. Dort war es wohl noch enger und wohl auch noch etwas schmutziger. Wen wundert es, denn wo gehobelt wird, da fallen Späne. Und gerade in Parveneo würde wohl sehr viel gehobelt, wie man mir berichtete. Doch mein Ziel war ja der Turm, welcher zugleich der höchste Punkt der Stadt war. Sicher würde man von der Spitze des Turmes eine gute Aussicht über die ganze Stadt haben..."
„Ich muss nur zum Beten von Parvenus wech! All’s annere krich ich ooch uffm Haselnussmaagt. Ooch watt von Giorgio Changbari, nur halt jebraucht...“ (Stolzer Bewohner von Sanct Parvenus, neuzeitlich)
Sanct Parvenus ist in Efferdas der Stadtteil der Handwerker und einfachen Leute. Viele der eng zusammenstehenden Häuser, die zum Teil noch aus der Zeit vor der Unabhängigkeit stammen, - zum Teil (besonders in Parveneo) jedoch auch erst nach 1028 BF erbaut wurden, bilden ein Gewirr von Straßen, Gassen und Gängen, in denen tagein tagaus geschäftiges Treiben herrscht und man besonders auf dem Piazza Avellana (1), den man auch gerne Haselnussmarkt nennt, alles kaufen kann, was man zum Leben braucht und häufig noch viel mehr. In vielen Straßen steht der jedoch Dreck, da bis dato noch niemand auf die Idee gekommen ist, für einen Anschluss an die sonst gut ausgebaute Kanalisation zu sorgen und in den Hinterhöfen des Bereiches, den man „Parvenusgrund“ nennt, lebt in Bretterverschlägen manch armer Schlucker: Tagelöhner, Wanderarbeiter auf der Durchreise und Bettler. Diejenigen jedoch die hier ein Haus, einen Laden oder ein Gewerbe und ihr sicheres Auskommen haben, sehen sich unter dem besonderen Schutz des Stadtheiligen Parvenus und sind stolz darauf hier zu leben, auch weil seit 1031 BF im Herzen des Quartiers, am höchsten Punkt der Stadt im Turm am Platz der Freiheit (2) mit dem Freiheitsgong (3) das Herz der Republik schlägt.
Dieser Turm ist gleichzeitig das Herz des, im Vergleich verschlafen wirkenden, Turmwinkels und wurde auf dem Fundament eines alten Turmes einer vorpriesterkaiserzeitlichen Fluchtburg errichtet. Von seiner Spitze hat man einen exzellenten Blick bis weit in das efferdische Hinterland, so dass die Gongwache (4) auch die Aufgabe hat, nach heranrückenden Feinden Ausschau zu halten. Glückliches Efferdas, dass der Freiheitsgong noch nie außer an hohen Festtagen der Republik willentlich angeschlagen wurde. Dann und wann jedoch wird der Gong auch nachts angeschlagen. Von wem jedoch bleibt rätselhaft, denn der diensthabende Turmwächter wurde stets am nächsten Morgen dem Wahnsinn anheim gefallen oder gar von der Zinne herab gestürzt aufgefunden. Trotzdem ist der Dienst im Turm bei der Stadtwache beliebt, ist doch so manchem Besucher ein Blick von der Turmspitze die ein oder andere Münze wert.
Ungleich bequemer ist es jedoch die beinah ebenso grandiose Aussicht bei einem exzellenten Mahl auf der Dachterrasse des Casa Toretta (5) zu genießen. "Mama Toretta", wie die resolute Besitzerin des Gasthauses von jedermann genannt wird, serviert ihren Gästen typische efferdische Küche mit patriotischen oder republikanischen Namen. So wird bei Mama Toretta aus der klassischen efferdischen Fischsuppe (der "Efferdase") der "Senatorentopf".
Auch die restliche Bebauung des Turmwinkels folgt noch der alten Burganlage, so dass die Häuser den alten Mauern folgend ringförmig um den Platz der Freiheit anordnen. Direkt am Platz befindet sich das Turmhotel (6), welches zwar nicht das nobelste der Stadt ist, sich aber insbesondere bei Gesandten aus aller Herren Länder einer gewissen Beliebtheit erfreut. Denn es verfügt nicht nur über einen Hinterausgang, sondern auch über ein paar fensterlose Hinterzimmer. Ganz in der Nähe befinden sich die beiden Spieluhrenwerkstätten (7) der verfeindeten Familien Cremenzzi und Beltani, die sich seit neustem nicht mehr nur darum streiten, wer die besten Spieluhren baut und wer wem welche Geheimnisse gestohlen hat, sondern auch wem die Ehre zusteht das vom Senat geplante Glockenspiel im Turm zu bauen.
Vom Turmwinkel aus Richtung Süden schließt sich mit dem Parvenusgrund ein geschichtlich etwas jüngerer Teil von Sanct Parvenus an, der jedoch gegenüber dem Turmwinkel jedoch fast durchgehend besiedelt war. Geschäftiges Zentrum dieses Quartiers ist die Piazza Avellana (1) südwestlich des Turmwinkels, auf dem vor allem Dinge des täglichen Bedarfes und die Erzeugnisse der Bauern aus dem Umland feilgeboten werden. Typisch für den „Grund“ ist die Zusammenballung gleichartiger Handwerker in bestimmten Straßen, Gassen oder Häuserzeilen. So findet der fromme Pilger ein Andenken im Heiligenschnitzerhof (8), werden Flaschenkorken und Schiffsbedarf in der Korkschneidergasse (9) gefertigt, während die Bauhandwerker ihre Quartiere in der Hüttnerstraße (10) im äußersten Westen des Stadtteils haben. Diese enge räumliche Nähe ist in dem in Efferdas kaum ausgeprägten Zunftwesen begründet: Die wenigen im Laufe der Jahrhunderte von den jeweiligen Herrschern privilegierten Zünfte (wie die Fischer- und die Heiligenschnitzerzunft) trugen ihre besondere Stellung zur Schau, indem sie sich auch räumlich von den Nichtprivilegierten abgrenzten. Zumindest hierin konnten ihnen es jene jedoch gleichtun und gründeten so statt Zünften allerlei Logen und Bünde. So findet sich heute in der Korbmachergasse, gleich gegenüber der Winzerei Vinarii das prächtige Weidenlogenhaus (11), welches so gar nichts mit dem fernen Herzogtum zu schaffen hat.
Südlich des Haselnussmarktes steht die trutzige Belhankaner Münze (12). Im Zuge der Auflösung der Grafschaft Belhanka wurde dem Hause Efferdas das Münzregal übertragen und zur Ausübung desselben dieses trutzige Gebäude gebaut. Heute besteht die Republik Belhanka darauf seine Münzen selber zu prägen, weshalb hier nur einmal im Jahr in geringer Auflage der "efferdische Jahrestaler" geschlagen wird. Daher ist in der Münze heute auch das Druckhaus Efferdas untergebracht.
Verlässt man die Piazza Avellana gen Nordwesten befindet man sich auf der Via Nautica (13), entlang derer die prachtvollen Häuser und Werkstätten der wahrscheinlich reichsten Handwerker der Stadt stehen. Die nautischen Geräte, wie Südweiser und Efferdstäbe aus ihren Werkstätten, sind ob ihrer Qualität weit über die Grenzen von Efferdas, Belhanka, ja sogar Methumis hinaus bekannt.
Direkt an der Silem-Horas-Straße (14) im Süwesten von St. Parvenus befindet sich ein Quartier, das nach dem großen Brand der Dämonenflut 997 BF allem Gewerbe, bei welchem offenes Feuer nötig ist, wie Schmieden aber auch Bäckereien, eine Heimstatt bieten sollte. Doch insbesondere die Bewohner von Sanct Parvenus unterliefen die hehren Plänen des Stadtrates, indem sie weiterhin ihr Brot im eigenen Ofen buken, wie es ihnen gefiel. Darum wird dieser Winkel heutigentags auch „Schmiedewinkel“ und nicht „Bäckerwinkel“ genannt. Und auch kein Geruch von frisch Gebackenem mischt sich unter den Qualm des Essen. Der Backherr der Stadt, der auch als Brandherr fungiert, ist dagegen heute hauptsächlich damit beschäftigt, die Größe dieser privaten Öfen zu überwachen, dass kein nichtzünftiger Bäcker „mehr denn 6 Rechtsschritt befeuere“ und nicht mehr denn „zwiefach die Woche backe“. Als Domizil dient dem Brandherrn das Brandwehrhaus (15) an der Piazza Pistacia (19) am Rande des Schmiedewinkels, das, wie die anderen Häuser des Winkel, aus gebranntem Stein besteht. In den anderen Häusern haben sich Grob- und Feinschmiede, aber auch Fassmacher, niedergelassen. Es werden Anker, Harnische und Schwerter geschmiedet, während die Gold- und Edelschmiede am Alten Markt wohl besser aufgehoben sind.
Die Preise für solche Schmiedewaren fallen in Efferdas etwas höher aus, da z.B. der Rohstahl über weite Strecken herbeigeschafft werden muss. Die Handwerker haben jedoch ein gutes Auskommen, so dass sich ihre Ankerzunft auch das "Eiserne Haus" (16) mit angegliedertem Gesellenhaus leisten kann. Im Zunfthaus ist auch ein kleiner Schrein des Schmiedegottes, die sogenannte Gantur-Kapelle unter dankbarer Führung der Familie Slin untergebracht, während die dazu passende Statue des lokalen Heiligen Isenbert Gantur Slin den Brunnen im Süden des Viertels ziert. Übrigens ist dies nicht der einzige Schrein in St. Parvenus. So findet sich im südlichsten Zipfel Turmwinkels auch noch ein Traviaschrein, gestiftet von Massimiliano Changbari. Die Lage des Schreins, direkt an den Stufen hin zum Platz der Freiheit, brachte dort auch den Brauch mit sich, dass der Bräutigam die Braut die Stufen hoch tragen muss. Ein nicht immer einfaches Unterfangen.
„Die olle Madaleni soll ick eheliche? Wie sollt ick die denn die Parvenusstufen hoch bekomme? Nee nee, such ma' wen anderes aus, Mudder...“
Steigt man die Treppen vom Turmwinkel hinauf gen Norden gelangt man nach Parveneo, - dem jüngsten Teil von St. Parvenus. Fragt man einen sittenstrengen Efferder nach Parveneo, wird er dringend von einem Besuch abraten und allerlei Schauriges über seine Bewohner zu berichten haben. Zwar sind die Beutelschneider hier wohl etwas flinker, die Bettler etwas dreister, nicht jede angepriesene Wundertinktur gänzlich frei von "Nebenwirkungen" und nicht jede güldenländische Statuette stammt wirklich dorther, aber es mag auch daran liegen, dass Parveneo der Stadtteil der Exoten und Außenseiter ist. Man findet hier zum Beispiel die Schenke des Ingalf Frenjasson (17) im thorwaler Stil mit angegliedertem Schwitzhaus, zwei tulamidische Teppichknüpfer sowie einige Handwerker, die sich, - insbesondere was die Preise angeht -, nicht an die Absprachen ihrer Standeskollegen halten oder sich auch von diesen absetzen wollen. So sind die zwei Bildhauerwerkstätten der Stadt auch in Parveneo und nicht an der Hüttnerstraße zu finden. Auch die einzige, nicht von der Familie Changbari abhängige Weberei wurde von tobrischen Flüchtlingen in Parveneo erbaut. Doch obwohl oder gerade weil die Parvenüs, wie die Bewohner des farbenfrohen Quartiers auch genannt werden, so wenig mit den anderen Efferdern gemein zu haben scheinen, sind die frenetischsten Anhänger des urefferdischen Delphinocco-Spiels ("Delphinisti" genannt) gerade hier zu finden.
Nachts ist, neben den Tavernen des Quartiers, vor allem das Bockshorn (18) ein Anziehungspunkt für lebenslustige Efferder. Jedoch werden die, schon erwähnten, Sittenstrengen vor den "oronischen Auswüchsen" in diesem Etablissement zu warnen nicht müde. Tatsächlich bietet das Freudenhaus seinen Besuchern allerlei rein rahjanische Genüsse. Zu Lautenspiel wird edler Bosparanjer oder Yaquiertaler kredenzt. Das edle Interieur ist dem Unterholz eines dichten Laubwaldes nachempfunden, in dem die Freudenmädchen und Lustknaben erst aufgespürt werden müssen. Danach folgt zumeist ein fröhliches Versteck- und Fangspiel, bevor der solvente Gast schließlich den Lohn für seine Bemühungen erhält, - und anschließend auch bezahlt. Bei den rahjanisch gesinnten Efferdern ist es in jüngerer Zeit sehr beliebt „ins Bockshorn jagen“ zu gehen.
„Im Freiheitsturm spukt es, wenn du mich fragst. Da kann einem eine Nacht im Bockshorn noch so sehr in den Ruin getrieben haben, niemand wirft sich diesen Turm hinab, der noch bei klarem Verstand ist. Ich hab ja schon gehört, dass da ein alter Geist wache halten soll, welcher früher mal seine Wache vernachlässigt haben soll und daher nun ewig Wache halten muss. Wie dem auch sei, eins muss man denen lassen, die Opfer des Turmgeistes wurden. Wenn wirklich das letzte, was sie hörten, bevor sie sprangen der Glockenschlag der Freiheitsglocke war, dann hatten sie wenigstens im Tod ihr Herz an der rechten Stelle und starben mit wenigstens etwas Ehre im Leib. Was schöneres kann es für einen aufrechten Efferdasser doch gar nicht geben. Abgesehen von der Delphinocco-Stadtmeisterschaft versteht sich...“
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