Briefspiel:Königsturnier/Die Meister des Tjosts I
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Die Episode Der Zorn des Geflügelten Löwen spielt während der Siegerehrung des Lanzenreitens des Königsturniers und erzählt die letzte gemeinsame Geschichte von Tarquinio della Pena, dem letzten Getreuen des Fürsten von Urbasi und Volparo de Crux, dessen Mörder.
Arivor, das Schwerterfeld, am Abend des 25. Rahja 1038 BF
Über Arivor knisterte die Luft. Den ganzen Mittag hatte Praios‘ Auge auf die Geronsbahn hinabgeschienen und die sommerliche Hitze der vergangenen Tage hatte auch den letzten Tjost zwischen Adalrik von Schreyen und Mondino von Calven begleitet. Nunmehr waren Wolken über dem Schwerterfeld aufgezogen. Die Fahnen über der Tribüne, der güldene Adler des Horas und das rote Schwert der Ardariten, flatterten wild im aufkommenden Wind.
Unten auf der Bahn, die nach dem Einhändigen Geron benannt worden war, hatten jene dreißig Lanzenreiter Aufstellung genommen, die in die Finalrunde vorgedrungen waren. Dort wo sich der Popolo hinter den Absperrungen drängte standen 15 Tjoster, die bis in die erste Finalforderung vorgestoßen waren. Ein Platz in der Mitte war freigehalten worden, wo Oljana von Tomrath hätte Aufstellung nehmen sollen, wäre der Rennspieß des Schwarzen Turms Torreon ihr nicht zum Verhängnis geworden. Jener stand in einer Reihe mit sieben weiteren Tjostern, die in der zweiten Finalforderung ihren Meister gefunden hatten. Der Schwarze Turm überragte auch ohne Gestechrüstung und Helm die Umstehenden, selbst der Chababier Fidorion war fast einen Kopf kleiner als der Cavalliere des Grafen vom Sikram, auch wenn er einen dunklen Hut schattenspendend ins Gesicht gezogen hatte. Neben Signore de Torri standen andere Streiter, die mancher deutlich weiter vorne erwartet haben würde, etwa Gerone vom Berg, Gräfin von der Südpforte, deren Ausscheiden gegen Tilfur, den Grafen von Thegûn diesen endgültig zum Liebling des Popolo hatte werden lassen, denn noch weniger als den Schwarzen Turm wünschte man sich eine Ultramontane als Streiter des Horas. Andere Sympathien hatte da schon Batiste d'Imirandi, der meisterliche Langschwertkämpfer, genossen, der seinem Kontrahenten schließlich im Lanzengang unterlegen gewesen war, der Baron von Montarena, Lorian, der sich dem späteren Finalisten Adalrik hatte beugen müssen und nicht zuletzt Baronet Darion, jener einstige Königsturniersieger, der einem anderen, dem Cavalliere di Valese unterlegen war. Die einstigen Rivalen und nunmehrigen Verbündeten Hesindiano della Trezzi und Ariano Sal von Veliris standen schließlich am äußeren Rand der Reihe, in rot-silbernen und rot-goldenen Wappenröcken.
Schließlich eine weitere, kürzere Reihe. Reo di Valese, der gealterte, einstige Sieger, der alle, die auf Erfahrung gesetzt hatten, entzücken konnte und doch mit gramgezeichneter Miene neben dem Baron von Aldyra stand. Ungleich waren jene zwei nicht nur im Alter, sondern auch im Gebahren, stand doch der junge Folnor von Firdayon-Bethana nicht ohne Stolz, jedenfalls aber mit jugendlicher Kraft neben dem Cavalliere aus der Septimana. Tilfur von Eskenderun, Graf von Thegûn, fieberte mit strahlendem Lächeln und aufgeregten Bewegungen dem Höhepunkt entgegen.
Jene Streiter gehörten zu den besten des Reiches – und mussten sich doch ohne die Siegerpreise hinter jenen vieren einordnen, die sich bis in die vierte Finalforderung vorgekämpft hatten. Zunächst stand dort eine der Überraschungen des Königsturniers, der weitgehend unbekannte Cavalleristo Thalion Gabellano, der mit acht Siegen in Folge unter die letzten vier gestürmt war und sich nur dem Cavalliere Adalrik hatte geschlagen geben müssen. Thalion stand mit stolzgeschwellter Brust und – wohl von der Sonne – geröteten Wangen in jener kleinen Doppelreihe, die fast am Fuße der Tribüne von Erzherrscher und Horas aufgestellt worden war. Ganz anders der Condottiere Travian di Faffarallo, der ob der kalten Blicke jener, die ihn immer noch als Heiligenmörder beschimpften weniger gerührt schien, als durch seine letzten beiden Kämpfe, die ihn sichtlich mitgenommen hatten.
Und schließlich die beiden Finalisten, beide in Silber und Schwarz gehüllt, hier der doppelte Fisch der Calvens, dort der schreiende Greif der Schreyen, Mondino, der umtriebige – und angeblich gar gesuchte – Condottiere aus dem Yaquirbruch und Adalrik, Favorit des Landadels und vielfacher Turnierkämpfer, aber, wie schon bei der Krone von Westfar und auch bei anderen Gelegenheiten, wieder nur zweiter!
Über ihnen begann eine hölzerne Treppe, deren Geländer aus hölzernen Säulen bestand, auf denen Figurinen großer Helden und flatternde Standarten der Rondra-Kirche, der Ardariten und des Horas aufgestellt waren. Am oberen Ende der vielstufigen Treppe war ein vorhangverhängter Baldachin aufgebaut, hinter dem man nur schwache Schatten erkennen konnte. Doch jeder wusste, wer hinter dem vom stärker werdenden Wind bewegten Vorhang seinen Thronsessel aufgestellt hatte – Khadan II. Firdayon, der Horas!
Zu beiden Seiten standen je ein halbes Dutzend Männer und Frauen mit blauen Samtröcken und gelben Baretten aufgereiht, die Hellebarden vor sich leicht schräg platziert – Mitglieder des berühmten Ersten Banners der Imperialen Garde, der Leibwache des Kaisers. Erst danach und hinter dem Geländer hatte der Hochadel des Reiches, der dem Lanzengang gefolgt war, Platz genommen.
Vor den Vorhang war nun, in Kettenhemd gehüllt und mit dem Senneschwert gegürtet, die goldene Löwenkopffibel hielt seinen reinweißen Mantel zusammen, Nepolemo ya Torese, Meister des Bundes des Alten Reiches, Erzherrscher von Arivor und Seneschall der Ardariten, getreten.
Jetzt öffnete sich der Vorhang und das brummende Raunen, das die ganze Zeit im Hintergrund aber merklich über der Geronsbahn gelegen hatte, brach sich als Hochrufe Bahn. Doch nicht der Horas selbst trat nun hervor, sondern seine junge Verlobte, Udora von Firdayon-Bethana, Prinzessin von Geblüt, nahm die ihr respektvoll angebotene Hand des alten Kämpen an.
Am Fuße der Treppe war ein Podest aufgebaut worden, wo die Preise für die Teilnehmer der beiden letzten Finalforderungen aufgestellt worden waren. Zwei kupferbeschlagene Kisten mit dem Löwen der Rondra enthielten jeweils mehrere Hundert Dukaten. Daneben, auf einer hölzernen Puppe, war die tauschierte Brustplatte drapiert worden. Sie stand stellvertretend für die Gestechrüstung aus der Esse der Meisterschmiedin Horanthe ya Ferragon, die in den kommenden Wochen maßgeschneidert werden sollte. Schließlich ein fast zwei Schritt langer Spieß mit Widerhaken an der Spitze und lederumwickeltem Griff. Eine Palta, eine urtulamidische Waffe, wie sie die Kataphrakten des Diamantenen Sultanats geführt hatten und die angeblich seit dem Sieg Murak-Horas' in der Schlacht am Gadang im Alten Reich aufbewahrt worden ist.
Auf dem Schwerterfeld
Die Erinnerungen des Igels
"Die kleine Udora", dachte sich Erlan Sirensteen. Ihm kam es fast wie gestern vor, als er mit seiner Nichte das erste Mal auf Burg Irendor war und ihr im Rondraturm ausführlich erklärte, welche Vorfahrin bzw. welcher Vorfahr in dieser oder aber jener Rüstung gekämpft hatte. "Und jetzt ist sie mit dem Horas selbst verlobt", dachte er. Dort vorne stand der Schwarze Calven und wirkte ein wenig mitgenommen. "Kein Wunder", sinnierte Erlan vor sich hin, "er hat ja viele Kämpfe bestreiten müssen" und erinnerte sich daran, wie er sich nach seinem letzten Kampf gefühlt hatte. Als schmerzte ein jeder Knochen. Er versuchte aus dem starren Blick des Kämpen, der ihn besiegt hatte, etwas zu lesen, doch es war ihm nicht vergönnt. Mondino von Calven bemerkte irgendwann den Blick des Yaquirbruchers und fixierte ihn mit seinen Augen. Doch plötzlich löste sich aus den Reihen der Tjoster ein Mann.
Hinter dem Wolfsschädel
Zu jenem Podest – und zu denen, die ihren wohlverdienten Lohn von dort entgegennehmen würden – schritten nun Prinzessin und Erzherrscher hinab, als sich aus den Reihen der Tjoster ein Mann löste und nach vorne schritt.
Unter seinem schwarzen Hut war sein bärtiges Gesicht verdeckt, aber nun nahm Fidorion von Wulfenbein, jener Streiter mit dem Wolfsschädel auf dem Wappen, seine Kopfbedeckung ab. Die andere Hand lag ruhig auf dem Griff des Kusliker Säbels in seinem Gürtel. Laut hallte die Stimme des Mannes über die Bahn.
„Zu lange schon habe ich meine Taten hinter Knochen und Bart versteckt. Nun aber will ich mich dem stellen, was diese Hand getan hat.“ Der Tjoster aus Chababien streckte eine Hand in die Höhe und Unruhe erfasste die Tribüne und mancher Ausruf war vom Popolo zu hören, der sich unzweifelhaft fragte, warum die Zeremonie unterbrochen wurde. Die Gardisten des Ersten Banners aber, die bereits vor den Baldachin getreten waren, entspannten sich etwas, als sie erkannten, dass die Hand Fidorions leer war.
„Ich, Volparo de Crux, einstiger Leutnant der Collaribianci habe mit dieser Hand den Fürsten von Urbasi, den Tyrannen vom Sikram erschlagen. Hier unter den Augen von Göttern und Kaiser will ich mich meinem Schicksal stellen. Ich unterwerfe mich Eurer Gnade, Erzherrscher!“
Der Zorn des geflügelten Löwen
Aus der Reihe der fünfzehn trat nun ebenfalls ein Mann nach vorne, durch die Lücke hindurch, die Fidorion – nein Volparo! – gelassen hatte. Er schob sich am hoch aufragenden Cavalliere de Torri vorbei und stand schließlich hinter dem einstigen Söldner. Mit einer fließenden Bewegung zog er das Rapier, das an seiner Seite gehangen hatte. „Erst habt Ihr meinen Fürsten gemordet, nun soll auch kaiserliches Blut fließen?“
Kaum hatte sich der so Angesprochene umgewendet, schnellte Tarquinio della Pena nach vorne, seine Klinge blitzte auf und ließ einen blutigen Striemen auf dem linken Oberarm Volparos zurück. De Crux griff nach dem Kusliker Säbel und sprang zurück.
Des Erzherrschers Intervention
Als unten die Klingen gezückt wurden, waren mehrere Mitglieder der Imperialen Garde vor den Baldachin des Horas getreten. Der Erzherrscher Nepolemo schritt auf den Podest zu, auf dem die Siegesprämien ausgebreitet worden waren und rief mit schallender Stimme. „Haltet ein, im Namen der Leuin. Beendet diese Schande!“ Doch es war bereits zu spät, beide Männer waren flinke Fechter und einander wohl ebenbürtig – aber Fidorion – oder Volparo! – war überrascht und hatte zudem länger im Turnier gestanden als Tarquinio. Nur wenige Lidschläge, nachdem der Chababier seinen Säbel gezogen hatte, schnellte das Rapier des Urbasiers vor und traf seinen Gegner am Hals. Blut quoll hervor und Volparo sank zu Boden! Großes Geschrei und Unordnung war die Folge. Einige Streiter sprangen nach vorne, um Volparo vor weiteren Hieben zu schützen.