Briefspiel:Das Fest der vielen Bösartigkeiten/Empfang
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Das Eintreffen der Gäste
- Im Palazzo Lacrimosa am Nachmittag des 4. Efferd
Leomar war aufgeregt wie ein kleines Kind. Es war ein seltsamer Anblick, den alten Recken in diesem Zustand zu sehen. Er hatte zahllose Duelle gefochten, einige große Schlachten überlebt und so manchen Gegner überwunden, aber vor der Ausrichtung einer großen Feierlichkeit war er jedes Mal so nervös und ungeduldig wie die kleine Tharinda vor ihrem Tsatag.
„Ob die Plätze reichen werden? Es haben ja auch nur wenige Bescheid gesagt, ob sie kommen werden. Typisch … das hält niemand für nötig. Und die Dienerschaft ist instruiert?“
Odina hörte sich nun zum wiederholten Male dieselben Gedanken ihres Gemahls an. Schon den gesamten Tag war Leomar unausstehlich gewesen und die meisten Familienmitglieder waren ihm wohlweislich aus dem Weg gegangen – ebenso wie Odina. Aber nun beim Ankleiden für das Fest sah sie es doch als ihre Pflicht an, für ihren Gatten da zu sein: „Geliebter Leomar, die Dienerschaft ist instruiert … sie hat ja bereits die vergangenen zwei Tage mit Proben für den heutigen Tag verbracht, ebenso wie die Musiker für den Ball später. Alles wird ganz wunderbar werden, da bin ich mir sicher!“
Beruhigend hatte sie ihre Hand auf den Arm Leomars gelegt.
„Ach, wenn ich dich nicht hätte … Du hast ja Recht. Sicher wird es heute mit Rahjas Hilfe ein unvergessliches Fest werden. Und stolz können wir ja sein auf unsere bescheidene Behausung.“
Schmunzelnd rief sich Leomar seine Begeisterung in Erinnerung, als er zum ersten Mal in den fertiggestellten Palazzo Lacrimosa getreten war. Einen ganzen Tag hatte er sich vom Baumeister Hesindiago ya Liporto durch das Gebäude führen lassen und immer wieder etwas Neues entdeckt, was ihn begeisterte. Nun, die Anfangseuphorie hatte sich etwas gelegt, und mittlerweile sah er auch die kleinen Mängel, die nicht ausblieben, wenn man alte Gebäude als Bausubtanz nutzte und nicht von Grund auf neu baute, wie Stadtherr Traviano es wohl angegangen war. Aber die Gäste wären sicherlich sehr angetan von der prunkvollen Ausstattung und alles würde er ihnen sicher auch nicht zeigen …
- Später am selben Tag
Den Gästen, die in den frühen Abendstunden am Palazzo Lacrimosa eintrafen, bot sich ein prächtiger Anblick: von der Piazza Domani aus führte eine breite Freitreppe hinauf zum reichverzierten Portal, das am Türsturz von einer Darstellung der Namenspatronin und Hausgründerin Lacrimosa della Pena gekrönt wurde. Komplettiert wurde die herrliche Fassade von den beiden recht schlanken Türmen, die vier Stockwerke gen Alveran strebten, und den Balkonen, die in den beiden Geschossen über dem Eingang die Form des Portals wieder aufgriffen.
Der Eingang wurde bewacht von zwei Ehrengardisten des Hauses, und spätestens hier wurde deutlich, dass die della Pena ein altes Rittergeschlecht waren, denn keine herausgeputzten Laffen mit Zierhellebarden standen hier neben dem Portal: zwei streitsame Kämpen, zwar gepflegt, aber dennoch kampfgezeichnet, den geflügelten Löwen der della Pena auf dem Waffenrock, musterten hier, ihre schweren Bidenhänder vor sich auf den Boden gestellt, mit aufmerksamem Blick die Eintretenden und achteten darauf, dass keiner eine Waffe mit zur Feier brächte. Glücklicherweise reichte die Kenntnis der Etikette bei den allermeisten Gästen, um zu wissen, dass ein solches Ansinnen eine enorme Beleidigung des Gastgebers gewesen wäre – hätte es doch seine Fähigkeit in seinem Hause für ihren Schutz zu garantieren in Frage gestellt.
Freilich war ohnehin jeder nicht völlig von Hesinde Verlassene in diesen Tagen voller Krieg und Unruhen froh, wenn er sich einen Abend lang nicht mit dem Waffenhandwerk beschäftigen musste; die Wortgefechte auf dem glatten Parkett des Ballsaals waren fordernd genug.
Und so trafen nach und nach die Gäste in der Eingangshalle des Palazzo ein. Gegenüber der Eingangstüre hing an der Wand das große Prachtbanner der della Pena, das in wichtigen Schlachten auch oft im Felde den Haustruppen vorangetragen worden war. An den Seiten führten offene Treppen auf eine Galerie, von der man offenbar auch auf den Balkon im ersten Geschoss gelangen konnte. Doch momentan wurden die Sinne der Eintreffenden hauptsächlich vom Gewimmel der vielen Menschen und den Gesprächen über die anderen Gäste in Anspruch genommen.
Stadtherr Traviano von Urbet-Marvinko war mit seiner Schwester Odina erschienen und viele fragten sich, warum er schon so schnell nach seiner Hochzeit nicht mit der liebreizenden Preciosa erschienen war. Ganz anders der Stadtvogt: Alessandero dell'Arbiato kam gerade mit seiner Gattin Aliena herein und fand schnell Desideria di Punta, die allein erschienen war, mit der er sich rasch in ein Gespräch vertiefte. Romejan di Tamarasco wurde von seiner Schwester Larissa begleitet, während das Haus d'Auspizzi von Signor Gregoran nebst Gattin vertreten wurde, in ihrer Begleitung ihre Tochter samt Gemahl Giacomo ya Russelo – pikanterweise hatten die Auspizzi noch kürzlich den della Pena beim Krieg in der Urbasiglia im Felde gegenübergestanden. Kurz darauf traf auch Tarquinio della Pena, der Bruder des kürzlich zum Grafen von Bomed ernannten Horasio della Pena, mit seiner Gattin Tsabella ein.
Ein Raunen ging durch die Menge als Romualdo di Salsavûr eintraf, ohne weibliche Begleitung an seiner Seite, dafür aber mit seinem entfernten Verwandten Acanio d'Alsennin-Salsavûr und dessen zwei Enkeln Khadan und Lorian. Offenbar hatte man die Erwähnung des Balls übersehen, meinten die einen, oder wie sei das völlige Fehlen potentieller Tanzpartnerinnen zu erklären. Andere – böse Zungen möchten Lutisana della Pena, die Tochter des Hauses, hier gehört haben – vermuteten gar, das Familienoberhaupt habe die Möglichkeit genutzt, dass sich die übrigen Salsavûrs mal kostenlos satt essen könnten, sei es ja schwer genug in den heutigen Zeiten alle hungrigen Mäuler zu stopfen.
Auch die Häuser de Falcona, della Turani und di Tolfiano hatten Vertreter hierher entsandt, doch nicht nur Adelige genossen in der Eingangshalle den Bosparanjer und das Olivengebäck, das von eilfertigen Dienern verteilt wurde.
Auch viele Patrizier Urbasis waren erschienen. Die alte Hesindetta Silbertaler hatte sich entschuldigen lassen, aber ihr Sohn, der Hotelier Azzo, dessen Gast die della Pena in den vergangenen Monden gewesen waren, war mit seiner Gattin erschienen. Familienpatriarch Bosper Acciaioli kam mit seiner Gemahlin, ebenso wie Amaldo Balestriano. Domenico Changbari nutzte die Gelegnheit um sich hier mit seiner frisch vermählten Gemahlin Sanya di Onerdi zu zeigen. Familienoberhaupt Phelippa Girrando wurde von ihrem Gatten begleitet, ebenso Leonore Dalidion.
Aufsehenerregend war der Auftritt von Rahjalin Solivino, dem Rahja-Hochgeweihten Urbasis, der sich allein die Ehre gab, aber für ihn sollte es nicht schwer sein eine Tanzpartnerin auf dem Ball zu finden.
Die Flaviora waren scheinbar nicht geladen worden – man hatte schon von den Vorbehalten Leomars den Patronen von Agreppara gegenüber gehört – dafür trafen nach und nach dann auch noch die Familien Deraccini, Aspoldo und Zorgazo ein.
- Begrüßung durch den Gastgeber
Als offenbar alle Geladenen versammelt waren, oder auf Nachkömmlinge nicht mehr gewartet werden wollte, betraten der Hausherr und seine Gattin durch das Portal an der Stirnseite die Halle. Schon viele hatten sich gefragt, wo der ‚Held von Urbasi’ sein mochte, doch offenbar hatte er mit seinem Auftritt auf einen dramaturgisch günstigen Moment gewartet und die Betreuung der Gäste bislang seinen erwachsenen Kindern überlassen. Doch nun ergriff Leomar das Wort, sein voller Bariton übertönte mühelos das Stimmengewirr in der Halle:
„Verehrter Stadtherr Traviano, liebe Mitadelige, geachtete Patrizier Urbasis, wir begrüßen euch alle hier in unserer bescheidenen Behausung, die am heutigen Abend unter Rahjas Segen stehen möge, damit wir alle eine unvergessliche Feier erleben.
Doch nun wollen wir gar nicht viel Zeit verlieren. Viele freuen sich bereits auf das Bankett – ich sehe der geschätze Signor von Salsavûr hat dafür seine gesamte Sippschaft anreisen lassen. Doch bevor alle zur Tafel schreiten, haben wir eine kleine Führung durch unsere Behausung für die Versammelten vorgesehen.
Wir möchten dies aus Gründen der Praktikabilität in zwei Gruppen vollführen. Die Patrizier Urbasis werden von meiner Tochter Lutisana und ihrem Gatten Capitan Drakon di Gorfar herumgeführt, während unsere adeligen Gäste von unserer geliebten Odina und uns höchstselbst durch die Räumlichkeiten geleitet werden. Als Dank für die traviagefällige Gastfreundschaft in den letzten Monden möge sich unser Freund Azzo Silbertaler unserer Gruppe anschließen – das ist das mindeste was wir tun können um ihm die herzliche Aufnahme zu vergelten.
Doch bevor wir gehen, möchte ich noch einmal das Glas erheben auf die großartige Stadt Urbasi, die nun endlich auch vollends meine Heimat geworden ist.“
Groß war da der Beifall von allen Seiten, doch nachdem man die Gläser geleert hatte, kam bei den Patriziern teilweise Murren darüber auf, dass Leomar offenbar seine Standesdünkel immer noch nicht abgelegt hatte und die Adeligen den tüchtigen urbasischen Patriziern vorziehe. Und während die Patrizierpaare unter Lutisanas Führung die Treppen zur Galerie hinauf schritten, setzten sich die Adeligen in Bewegung um dem Hausherren Leomar Romualdo della Pena durch das Portal gegenüber der Eingangspforte zu folgen, direkt unter dem Banner mit dem geflügelten Löwen hinweg.
- Della Pena j.H.
Tarquinio della Pena blickte sich in der Halle um. Wie ein Versprechen zukünftigen Ruhms erhob sich das Schlachtbanner der Familie über den Köpfen der versammelten Grandezza von Urbasi. Schon oft hatte er davon geträumt eines Tages dieses Banner in einer Battaglia vor den gerüsteten Haufen der della Pena zu tragen, doch als Spross eines Nebenzweiges der Familie war damit einstweilen nicht zu rechnen.
Seine Gemahlin folgte ihm schüchtern durch den Saal, noch immer fühlte sie sich hier am Sikram fremd und hielt sich darob ausgerechnet an ihn, der selbst bei solch öffentlichen Auftritten mit innerer Unruhe zu kämpfen hatte. Auf einem Ross im Felde stehend fühlte er sich wesentlich wohler, wenngleich dies etwas besser geworden war seitdem ihn Gransignore Traviano zum Connetabel von Urbet erhoben hatte und er gezwungen war auf dem Parkett der Intrigen und Ränkespiele Erfahrungen zu sammeln.
Nach dem Auftritt Leomar Romualdos führte ihn sein erster Weg zu dem Patriarchen der Familie.
"Die Zwölfe und ihnen Travia voran!", begrüßte er ihn ehrfürchtig und neigte sich tiefer als dies andere Gäste in dem Saale taten. "Ich darf Euch gratulieren zu diesem Palazzo, einem Mann Eures Ruhms und Eurer Herkunft angemessen."
Freundlich bedankte sich der Patron für das Kompliment und lud Tarquinio zu einem Wein ein.
Lächelnd nahm dieser an und schmeckte den dunklen Rotwein, der sicher von einem Weingut der Hausbesitzer stammte.
"Entschuldigt, ich möchte dem Gransignore noch die Aufwartung machen", verabschiedete er sich aber schon bald, da immer mehr Gäste zu Leomar drängten und er bei der folgenden leichtfertigen Unterhaltung keine gute Figur machte.
Den Gransignore begrüßte er mit einer ebenso tiefen Verneigung wie zuvor den Hausherrn und tauschte einige höfliche Floskeln mit ihm aus. Als sich der Gransignore schließlich einer Patrizierin zuwendete, beäugte er misstrauisch die anwesenden Salsavûr. 'Besser ich weiche dem Gransignore heute nicht von der Seite', dachte er bei sich und war in dem Moment froh einen kleinen versteckten Dolch mit sich zu führen.
- Urbet-Marvinko
Trotz des kurzen Weges zum Palazzo Lacrimosa hatte Traviano von Urbet-Marvinko die Kutsche vor- und ihn samt seiner Schwester Odina zum Schauplatz der Feierlichkeit hinfahren lassen. Die Frischvermählte saß ihm schmunzelnd gegenüber. Den unausgesprochenen Vorwurf der Effekthascherei musste er sich wohl gefallen lassen - das wusste er, aber dazu stand er auch. "Politische Notwendigkeit" pflegte er dies stets zu nennen, beließ es diesmal aber bei einem Zurückgrinsen. Anders als zu seinen anderen Geschwistern hatte er zu Odina schon immer ein gutes Verhältnis gehabt, in dem man längst nicht mehr aufs gesprochene Wort angewiesen war, um den anderen zu verstehen. Nur Amando schien ähnlich verständnisvoll veranlagt, doch diesen vermochte Traviano nicht zu durchschauen.
Die Ankunft am Ziel der kurzen Reise setzte seinen Gedanken allerdings ein rasches Ende. Jetzt galt es sich selbst - und vor allem den Stadtherrn, zu dem alle aufblickten - zu repräsentieren. Die Unterwürfigkeit der Urbasier ihm gegenüber hatte in den letzten Wochen bisweilen groteske Formen angenommen. Der offene Bruch mit Croenar und der Sieg in den Neun Schlachten von Urbet schien manchen Patrizier und Bürger beeindruckt zu haben. Bei anderen war er sich sicher, dass sie nur nicht den Fehler begehen wollten, es sich zu früh mit ihm zu verscherzen.
Dies im Hinterkopf behaltend, stieg der Stadtherr mit dem strahlendsten Lächeln, das er aufzusetzen vermochte, aus.
Vor dem Palazzo hatten manche Edelleute und Patrizier bereits auf ihn gewartet. Ariando de Falcona und Bosper Acciaioli, die beide Familienmitglieder in seinen Diensten (Thion als Leibcapitan bzw. Peraijana als Hofadepta und -medica) wussten, begrüßten ihn eilig, um sich ihm sogleich anschließen zu können.
Unter der Freitreppe der neuen Residenz der della Pena nahm Traviano noch einmal die Stelle im Mauerwerk in Augenschein, die er insgeheim bereits für seine Ehrentafel des "Helden von Urbasi" ausersehen hatte. Dann trat er durch das Portal in die bereits mit zahlreichen bekannten Gesichtern gefüllte Eingangshalle.
Nicht nur seine herausstechende, golden glänzende Bekleidung, die ihn beinahe in eine praiosgesandte Aureole zu hüllen schien, ließ ihn sofort zum Mittelpunkt des Geschehens werden - nein, es war vor allem seine Macht, an der alle Teil haben wollten. Das Erscheinen des Gastgebers Leomar della Pena bemerkte Traviano daher auch erst, als dessen ihm selbst zuallererst geltende Begrüßung durch den Saal hallte. Mit einem Nicken bekundete er diesem seine Erwiderung. Kurz darauf begrüßte er auch seinen Vetter Tarquinio, den er vor der Freitreppe bereits vermisst hatte.
Dann stand die Führung durch den Palazzo an, auf die Traviano schon ehrlich gespannt war - nicht zuletzt, um eindrucksvolle Details in seiner eigenen im Bau befindlichen Residenz noch übertreffen zu können ...
- Dell’Arbiato
Im Schrittempo rollte die vierspännige Kutsche über die Piazza Magistralis, angeführt von vier Bediensteten in den Farben der Familie dell'Arbiato, die mit lauten Rufen den Weg freimachten. Im Inneren des Gefährts betrachtete Alessandero dell'Arbiato sardonisch den vorbeiziehenden Bau des Palazzo Cascanio, der Behausung des Gransignore und selbsternannten Silberherrn Traviano.
"Was wird uns wohl auf dieser Festivität erwarten", lenkte ihn seine Frau Aliena ab. Die letzten Stunden hatte sie damit zugebracht, drei Zofen, den Hausfigaro und ihre Leibschneiderin zur absoluten Verzweifelung zu treiben in dem Ansinnen, "perfetto" auszusehen. Das weiß-goldene Kleid schien von innen heraus zu schimmern, die Frisur war der allerneuesten Arivorer Mode nachempfunden und von dem Wert des Geschmeides konnte man wahrscheinlich ein Landgut kaufen. Alessandero hingegen hatte sich für ein kostbares Gewand in Schwarz und Silber entschieden.
"Nun, was halt angekündigt wurde, meine Liebe", lächelte Alessandero seine Frau an, "der Hausherr wird uns seine neue Behausung zeigen und dabei unermüdlich betonen, wie kostbar und wertvoll die Einrichtung sei. Dann wäre noch das Bankett zu erwähnen, das selbstverständlich aus exotischen und abenteuerlichen Gerichten besteht. Und schließlich der Ball, bei dem unser Stadtheld schwitzend und mit feuchten Händen versucht, eine gute Figur auf dem Parkett abzugeben."
"Du bist ein unverbesserlicher Zyniker", empörte sich Aliena und musste unwillkürlich lachen. "Ich hoffe nur, dieser schreckliche di Gorfar sitzt nicht neben mir. Der Mann verursacht mir Unbehagen. Jeden Augenblick fürchtet man, er würde mit wildem Blick aufspringen und zur Beschwörung eines Gehörnten ansetzen." Aliena machte schnell eine Schutzgeste mit der Hand.
"Keine Sorge", erwiderte Alessandero, "ihm fehlt es zwar an Etikette, aber sicher kennt er das Minimum an Selbstbeherrschung, das für diesen Anlaß angebracht ist. Du bist also vollkommen sicher - außerdem bin ich ja auch noch da."
"Warum mussten wir eigentlich unbedingt die Kutsche nehmen?"
"Aus dreierlei Gründen. Zum ersten würde ich Dir nicht zumuten, Dich wie ein Mitglied des gewöhnlichen Volkes durch die Menge vor unserem Ziel zu drängen."
"Welche Menge?", wunderte sich Aliena verwirrt.
"Die uns erwartet und mit Hochrufen empfangen wird, wenn wir an unserem Ziel angelangt sind, meine naive Gemahlin. Einige gut verteilte Münzen garantieren uns einen Empfang, der dem Stadtvogt und seiner liebreizenden Ehefrau würdig ist. Aber zum zweiten, ich habe erfahren, daß auch unser selbsternannter Silberherr eine Anfahrt mit der Kutsche für ratsam hielt. Selbstverständlich sollte sein ergebener Freund und Ratgeber, nämlich ich, seinem Beispiel folgen, nicht wahr?"
"Du möchtest ihm doch am liebsten ein langes, schweres und tödliches Leiden anzaubern", empörte sich Aliena.
"Welch schwere Anschuldigung. Und da heißt es immer, ich sei ein unverbesserlicher Zyniker", entgegnete Alessandero mit unbewegter Miene. "Kommen wir nun zum dritten Grund für diese kleine Kutschfahrt: Es ist unwahrscheinlich, dass uns hier der Dolch eines Attentäters oder der Bolzen einen Arbelattiere trifft."
"Glaubst Du etwa, die della Pena würden uns erst einladen und dann einen Meuchler anheuern?", fragte Aliena ungläubig.
Alessandero zuckte mit den Schultern: "Sicher wäre das ein ernster Verstoß gegen die Etikette; aber warum Phex herausfordern. Ich gebe zu, dies ist eine unwahrscheinliche Möglichkeit. Vergiss aber bitte nicht, dass gewisse Kreise dieser Stadt daran erinnert werden sollen, dass es noch eine Alternative zur kriecherischen Liebdienerei vor dem Urbeter gibt. Symbole sind mächtig und wenn der Urbeter nicht der einzige mit einem glanzvollen Auftritt ist, werden die Patrizier der Stadt daraus sicher ihre Schlüsse ziehen."
Kurze Zeit später stoppte das Gefährt vor dem Eingangsportal des Palazzo Lacrimosa. Wie vorausgesagt, erklangen Hochrufe in der Menge, die sich vor dem Portal versammelt hatte, um einen Blick auf die Reichen und Mächtigen der Stadt zu erhaschen, als Alessandero und Aliena gravitätisch die Treppe emporstiegen. Durch das Portal betraten sie den Palazzo und fanden sich bald in der Eingangshalle wieder, die von dem großen Banner der della Pena an der gegenüberliegenden Wand beherrscht wurde.
"Protzig", meinte Aliena knapp und nahm ein Glas Bosparanjer, das ihr von einem Diener angeboten wurde.
"Aber meine Liebe", spöttelte Alessandero leise und verbarg kunstvoll sein Lächeln, "dies soll doch nur den von Hesinde vergessenen mitteilen, wo sie sich gerade befinden."
„Wer sind die denn da?“, machte Aliena ihren Mann auf eine Gruppe aufmerksam, die hungrig die angebotenen Olivenhäppchen betrachtete.
„Das sind die di Salsavûr“, antwortete Alessandero abwesend und betrachtete die anderen Gäste. Er sah Vertreter der Silbertaler, der Aspoldo und anderer großen Familien der Stadt. Die della Pena hatten scheinbar jeden eingeladen in dem Bemühen, von den alteingesessenen Geschlechtern akzeptiert zu werden.
"Schau, da sind die Auspizzi", mit einem dezenten Nicken wies Aliena auf eine Dreiergruppe hin.
"Wie ich sehe, hat Orphiles d'Auspizzi entweder keine Einladung erhalten oder es vorgezogen, wegen anderer dringender Verpflichtungen bedauerlicherweise abzusagen", kommentierte Alessandero und sah sich weiter um. Orphiles d'Auspizzi war einer der Verlierer des erst vor kurzem zu Ende gegangenen Feldzuges gewesen, welcher als "Krieg in der Urbasiglia" bekannt wurde.
"Eher würde er sich mit einem stumpfen Messer den Leib aufschneiden als Leomar della Pena seine Aufwartung zu machen", warf von der Seite eine rauchige Stimme ein.
"Signora di Punta", begrüßte Alessandero den Neuankömmling und verneigte sich förmlich. "Wie schön, Euch wieder zu sehen. Darf ich Euch meine Gemahlin Aliena vorstellen?" Die beiden Frauen beäugten sich neugierig. "Aliena, dies ist Desideria di Punta, von den di Puntas aus Efferdas."
Das Gespräch wurde unterbrochen, als endlich der Gastgeber erschien. Mit dröhnender Stimme begrüßte Leomar della Pena die Gäste und gab dann bekannt, dass Patrizier und Adelige in getrennten Gruppen durch das Gebäude geführt werden sollten. Alessandero bemerkte in einigen Gesichtern Zorn ob der Aufteilung.
'Schwerer Fehler', dachte er und merkte sich die entsprechenden Personen. Das Gerücht schien der Wahrheit zu entsprechen, dass Leomar della Pena sich mehr auf dem blutigen Boden eines Schlachtfeldes als dem tückischen Parkett der Diplomatie wohl fühlte. Ein Fehler, den es auszunutzen galt. Aliena legte ihren Arm auf den Alessanderos und gemeinsam folgten sie dem Gastgeber unter dem übergroßen Banner hindurch in das Innere des Gebäudes.
- Di Salsavûr
„Dass sich deine Tochter und deine älteste Enkelin immer verspäten müssen", flüsterte Romualdo zu Acanio.
„Sie sind ja auch heute erst aus Alsennin zurückgekommen …"
Acanio schaute in Richtung der Kutschen, die vorfuhren. Die vier Männer waren ebenfalls, trotz des kurzen Weges, in einer Kutsche gekommen.
„Ah, da kommen sie ja. Schön dich wieder zu sehen, Tochter."
Elea verneigte sich höflich vor ihrem Vater und Romualdo und begrüßte dann ihre beiden anwesenden Söhne. Joela folgte ihr mit der gleichen Reihenfolge. Kurz wurden Neuigkeiten ausgetauscht, was nördlich von Sibur alles vorgefallen war.
Dann betrat die kleine Gruppe auch schon die Eingangshalle …
Beim Anblick des Banners musste Romualdo einen Lacher mit einem kurzen Husten überspielen und sagte leise zu seinen Verwandten: „So einen Fetzen, der mit soviel Schmutz befleckt wurde, würde ich ja nicht so aufhängen, dass ihn jeder sehen kann. Ehre hat diese Familie ihrer Fahne nicht gemacht, ganz und gar nicht …" Romualdos Gesicht war eine Maske, während er sprach. Von vielen der anderen di Salsavûrs kam ein Nicken als Antwort.
„Olivenhäppchen … Anscheinend haben unsere Gastgeber zu viel Geld für andere Dinge ausgegeben, so dass sie nun ihren Gäste nichts weiteres bieten können, als so was", meinte Elea mit leiser, aber überaus eingebildeter Stimme.
Dann kam auch schon der Gastgeber und es kehrte Ruhe ein, auch die di Salsavûrs lauschten den Worten des della Pena.
„Della Pena…", mehr flüsterte Romualdo nicht, als er die ihm zu gedachten Worte hörte. ‚Dieser aufgeblasene Möchtegernheld Urbasis bekommt noch mit, dass man sich nicht mit einem di Salsavûr anlegt und sein Marvinko-Herrchen ebenfalls.'
Seine Wut ließ sich Romualdo nicht anmerken, nach außen hin lächelte er.
Als Leomar della Pena die Gruppen für die Führung bekannt gab, war deutlich zu sehen, dass diese Teilung einigen der hier Anwesenden nicht gerade passte.
„Die Wahl der Gruppen scheint hier einigen nicht zu passen …" Acanio drehte sich mit einem kaum merklichen Lächeln zu Romualdo um. Dieser erwiderte kurz das Lächeln, nur das seines weit unfreundlicher war …
- Di Punta
In einem halboffenen Zweispänner, das helle Holz der Droschke mit Silberbeschlägen verziert und mit dem Wappen der di Punta versehen, fuhr Desideria Salveri di Punta in Begleitung ihrer Leibzofe vor dem Palazzo der della Pena vor. Entgegen der hiesigen Mode, die eher schwere Stoffe bevorzugte, hatte sie sich dafür entschieden, sich im Stile der 'Moda alla Aureliana' zu kleiden. Schlichte Eleganz statt überbordenden Prunks.
Ein knöchellanges, gerade geschnittenes Kleid aus reinweißer Seide mit hoch angesetzter Taille und kurzen Ärmeln betonte ihre schlanke Gestalt und gab den Blick frei auf die goldbestickten und mit kleinem Absatz versehenen Seidenschuhe, deren weiße Seidenbänder um ihre Waden geknotet waren. Um ihren Körper war ein durchscheinendes rotes, mit goldenen Fäden durchsponnenes Seidentuch kunstvoll gewickelt, dessen lange Enden von den Schultern zum Rücken hin herabfielen. Ihr honigblondes Haar wurde von einem weißgoldenen Diadem gehalten und fiel in einzelnen Lockensträhnen herab.
Während sie die Treppe zum Palazzo hinaufging, sah Desideria mit innerlichem Frohlocken an empörten Blicken einzelner eher konservativer Damen und den offenen Mündern einzelner Herren, dass der Belhankaner Schnitt an den Seiten ihres Kleides, der nicht nur Bewegungsfreiheit verschaffte, sondern beim Gehen vor allem den unteren Teil ihrer Beine enthüllte, bemerkt worden war. Mit einem Schmunzeln stellte sie sich vor, wie erst auf ein Kleid im Al'Anfaner Schnitt reagiert werden würde, war dieser doch noch ungleich freizügiger.
Doch nun wandte sie ihren Blick dem Palazzo della Pena zu: Zwei Türme, die hoch in den Himmel ragten, kolossale Zweihandschwerter in den Händen der Wachen, eine mächtige Freitreppe, die steil heraufführte – fast schien es, als ob die Hausherren etwas kompensieren wollten. Etwas irritiert schweifte ihr Blick im Vorbeigehen noch einmal kurz die Ehrengardisten des Hauses della Pena. Für eine moderne Ausrüstung der Gardisten schien nach der Restauration des Palazzos kein Geld mehr übrig gewesen zu sein, dachte sie spöttisch beim Anblick der in bester mittelreichischer Tradition ausgestatteten Zweihandschwinger, als sie den Palazzo betrat.
Der Saal war hell erleuchtet und zahlreiche Mitglieder der feinen urbasischen Gesellschaft tummelten sich bereits in ihm. Mit strahlendem Lächeln flanierte sie durch den Saal, ein Glas edlem Bosparanjer haltend. Die in ihrem Haar verborgenen Sikramkugeln sorgten dafür, dass sie eine dezente aber doch einprägsame Duftnote nach exotischen Waldinselblumen umgab.
Sowohl Mitglieder des Landadels als auch Patrizier waren geladen worden. Sie unterhielt sich kurz mit dem einen und anderen, ohne sich wirklich lange irgendwo aufzuhalten. Erstmal einen Überblick über die Anwesenden erhalten.
Dann erspähte sie Tarquinio della Pena. Das blasse Geschöpf an seiner Seite schien seine Gemahlin Tsabella Catalina zu sein, Tochter des Hauses Mornicala, die neben den Wiesen-Osthzweygs zu den engsten Verbündeten ihres Bruders Anvher di Punta in Sewamund zählten. Ein wenig tat die Arme ihr leid, sah man ihr doch förmlich an, dass sie sich hier nicht recht wohl fühlte.
Tarquinio war durch seine Berufung zum Connetabel recht unvermittelt selbst Gegenstand und Teil des allgegenwärtigen Ränkespiels geworden. Er, der sich bekanntermaßen auf dem Schlachtfeld wohler fühlte als auf einem höfischen Empfang. Mit etwas Glück würde ihm bei der heutigen Festivität ein Fauxpas unterlaufen. Ihrem Amüsement wäre es mit Sicherheit nicht abträglich.
Mit einem leichten Lächeln bemerkte sie, dass sich in den Gesichtern der meisten Damen, angetan in schweren Ballkleidern, bereits ein leichter Glanz bildete. Es würde nicht lange dauern und volle Räumlichkeiten, dutzende von Kerzenleuchtern sowie Tanz und Bankett würden von den Damen ihren Tribut in Form von Schweiß fordern.
Sie zündete sich gerade einen Cigarello aus feiner methumischer Blattspitzenernte an, als sie einen Tumult am Eingang bemerkte. Gransignor Traviano von Urbet-Marvinko war erschienen, von einem Tross von Speichelleckern umgeben. Sich in der ihm eigenen Selbstverliebtheit sonnend, schien er ihr in seinem vor Prunk überbordendem Gewand wie das Relikt der vergehenden Zeit. Doch noch war es nicht so weit. Mit strahlendem Lächeln deutete sie einen Knicks an, senkte leicht das Haupt und machte dem Gransignor ihre Aufwartung.
Sie hatte gerade ihr leeres Bosparanjer-Glas abgestellt, als sie die di Salvasur sah. Zu viert als reine Herrenrunde gekommen, hatten sie wohl gerade den Lakaien entdeckt, der Olivenhäppchen anbot. Mit strahlendem Lächeln nickte sie diesen zu, als sie neben sich die vertraute Stimme des ehrenwerten Stadtvogtes Alessandero dell'Arbiato vernahm.
"Wie ich sehe, hat Orphiles d'Auspizzi entweder keine Einladung erhalten oder es vorgezogen, wegen anderer dringender Verpflichtungen bedauerlicherweise abzusagen", kommentierte Alessandero gerade und sah sich weiter um.
"Eher würde er sich mit einem stumpfen Messer den Leib aufschneiden als Leomar della Pena seine Aufwartung zu machen", warf sie von der Seite mit rauchiger Stimme ein.
Die sich ergebende leichte Unterhaltung wurde jäh durch das Erscheinen des Gastgebers unterbrochen. Dieser kündigte gerade die Führung durch das Haus in zwei Gruppen an. Alessanderos und ihre Blicke trafen sich, als dies verkündet wurde und man den Unmut auf den Gesichtern der Patrizier sah. Ein leichtes Lächeln genügte als Verständigung zwischen beiden.
Man machte sich nun auf, dem Hausherren die Aufwartung zu machen und der Hausführung beizuwohnen. Ihre Zofe und Leibwächterin, einen mit Schlafgift vergifteten Dolch in einer Beinscheide unter dem Kleid mit leichtem Reifrock verborgen, folgte ihr unauffällig.
Desiderias Blicke schweiften noch einmal über die Patrizier, Landadeligen, die di Salvasurs, Tarquinio della Pena und den Gransignor. Es versprach ein interessanter Abend zu werden.
- Urbet-Marvinko
„Sieh an, Odina, unser ‚beförderter’ Signore von Salsavûr entwickelt langsam auch wieder Ambitionen“, bemerkte Traviano zu seiner Schwester, als er Romualdos und seines durchaus beeindruckenden Gefolges gewahr wurde, „das sollten wir im Auge behalten.“
Die Angesprochene nickte nur kurz und zog angesichts des Aufgebots der di Salsavûr für einen Augenblick die Stirn kraus.
Dann wandte sich Traviano endlich in Richtung des Hausherren und wollte gerade seinen Platz ganz vorne in der Führung einnehmen, um ja kein Detail zu verpassen, als er noch auf eine andere Gruppe aufmerksam wurde: Der junge Kontorleiter Domenico Changbari stand mit seiner hübschen Gemahlin Sanya di Onerdi zwischen einigen einheimischen Patriziern, die eben Anstalten machten, der Führung Drakon di Gorfars zu folgen.
„Die Gattin Changbaris ist eine Adlige, nicht?“, fragte der Gransignore seine Schwester – auch wenn es eher eine rhetorische Frage war.
Ihr abermaliges Nicken zauberte ein verschmitztes Lächeln in Travianos Gesicht und ließ ihn nun auf die Gruppe zugehen. Dem sich von der anderen Seite nähernden Drakon gab er dabei einen kurzen Wink und bedeutete ihm mit den Augen, auf seine folgende Aktion zu achten …
„Vortrefflich, vortrefflich …“, mischte er sich dann in das Gespräch der Patrizier, ohne auf deren vorherige Ausführungen im Geringsten geachtet zu haben.
„Es ist uns auch immer wieder eine Freude zu sehen, welch angesehene Herren unsere Stadt auch aus der Fremde anzieht“, fügte er sogleich an Domenico gewandt hinzu, bevor er sich an Sanya wandte: „und welch liebreizende Damen darüber hinaus.“
Die Hand der Angesprochenen ergreifend, setzte er ohne Unterbrechung fort: „Als Edeldame solltet ihr aber doch eigentlich der Führung des Hausherren beiwohnen … Recht ist Recht und … nunja … ihr erlaubt doch sicher, dass wir eurer Gemahlin dabei ein wenig Gesellschaft leisten, nicht wahr, Domenico?“
Den verdutzten Gatten zurücklassend, wandte sich Traviano ohne auf Antwort zu warten mit der hübschen Adligen in Richtung Leomar, während von hinten bereits Drakon heranschritt …
- Di Punta
Während Desideria in Begleitung von Alessandero und dessen Gemahlin zum Hausherren ging, gewahrte sie des sich ereigneten kleinen Spektakels in der Patriziertraube. Traviano führte gerade die junge Sanya di Onerdi fort, die kaum wusste, wie ihr geschah und ihrem Gatten noch einen hilfesuchenden Blick zuwarf. Dessen Stirn war mittlerweile in Zornesfalten gelegt, doch brauchte es nur einen Augenblick, bis er die Fassung wiedergewann. Auch in den Gesichtern der anderen Patrizier sah man die Missbilligung ob der gerade geschehenen Dreistigkeit.
Desideria di Punta lenkte mit einem leichten Nicken die Aufmerksamkeit des Stadtvogtes auf das gerade Geschehene und raunte diesem zu: "Erst die Firdayon-Auspizzi, dann die Onerdi - der werte Gransignor scheint Gefallen daran gefunden zu haben, Frauen mit Gewalt zu sich zu holen - oder es schlichtweg nötig zu haben."
Ein leichtes bösartiges Lächeln umspielte ihre zarten Züge.
- Di Onerdi
Als Sanya di Onerdi von der Einladung erfahren hatte, war in kürzester Zeit das ganze Haus in heller Aufregung, in dem Bemühen, der jungen Dame ihre Wünsche zu erfüllen. Eigens wurde ein neues Kleid geschneidert und neuer Schmuck ihrer bereits beachtlichen Sammlung hinzugefügt. Einige Tage später war es dann endlich soweit.
Das Pärchen war in Gewänder edelster Machart und prachtvollster Stoffe gehüllt. Dazu abgestimmt Schuhe, Schmuck, Frisur und weitere Accessoires. Sanyas Kleid war knöchellang, fließend und mit einem recht tief ausgeschnittenen Dekolleté. Mehrere Seidentücher verzierten das Kleid zusätzlich, wogegen sie ihr Haar unbedeckt trug. Hinten war es zu einem Zopf gebunden, vorne dagegen offen. Vereinzelte kleine Edelsteine ließen ihr Haar im Licht von Kerzen und Leuchtern funkeln. Dazu legte sie ein exklusives neues Duftwasser auf, frisch, aber nicht aufdringlich. So konnte es also losgehen.
Nach einer kurzen Fahrt durch Urbasi erreichten die Herrschaften den neu erbauten und grandios gestalteten Palazzo Lacrimosa, passierten die martialischen Torwächter und betraten die Eingangshalle. Unsicher sah das junge Mädchen sich um, denn neben ihrem Ehemanne kannte sie keinen Anwesenden. Wohl hatte sie allerhand gehört von der gastgebenden Familie und den Mächtigen dieser Stadt, doch ach! Wie meist sah einer aus, wie der andere, solange man sie nicht kannte, eine graue Masse von Gesichtslosen, obwohl doch Kleider in allen Farben schillerten, Schmuck glänzte und Gesichter sich zu freundlichem Ausdruck formten.
Bald, Sanya hatte eben Gelegenheit, Leonore Dalidion kennen zu lernen, begann der Hausherr zu sprechen. Eine markante Stimme besaß er, in der Tat. Doch obwohl die junge Onerdi-Dame kaum Erfahrung bei Hofe hatte, bemerkte sie, wie negativ die Entscheidung des della Pena aufgenommen wurde, dass Adel sich von Patriziat zu trennen habe.
Ungeschickt, aber nicht unangebracht - diesen Gedanken versuchte sie jedoch zu unterdrücken, als sie den ärgerlichen Gesichtsausdruck ihres Gatten bemerkte.
Bisher stand sie eng neben ihm, um nicht in ihrer Unsicherheit aufzufallen, doch dann wurde sie des Gransignore gewahr. Unmöglich war es, von ihm nicht gehört zu haben …
Was nicht nur für ihn sprach. Ein Kriegsheld und großer Herrscher, sagten die einen, jedoch waren die Worte der Verwandtschaft nicht minder deutlich. Traviano stehe beispielhaft für die Marvinko, intrigant, machthungrig, dabei treulos selbst den eigenen Verwandten gegenüber und in der Summe der wohl gefährlichste Mann dieses Abends. Ein leichter Schauer lief ihren Rücken hinunter, als der Gransignore ausgerechnet ihr seinen Blick zuwandte.
„Vortrefflich, vortrefflich …", mischte er sich in das Gespräch der Patrizier und Sanya musterte den jungen Silberherrn ein wenig eingehender. Sie hatte schon viele gesehen, die besser aussahen, jedoch entging ihr nicht, wie schnell er die Anwesenden zu mustern und einzuschätzen schien.
„Es ist uns auch immer wieder eine Freude zu sehen, welch angesehene Herren unsere Stadt auch aus der Fremde anzieht", fügte Traviano sogleich an Domenico gewandt hinzu, bevor er sich an Sanya wandte: „und welch liebreizende Damen darüber hinaus." Nur eiserne Selbstbeherrschung, die Sanya selbst überraschte, verhinderte ein allzu starkes Erröten, bevor sie dem Gransignore eine formvollendete Aufwartung machte.
Dieser nahm ihre Hand und fuhr ohne Unterbrechung fort: „Als Edeldame solltet ihr aber doch eigentlich der Führung des Hausherren beiwohnen … Recht ist Recht und … nunja … ihr erlaubt doch sicher, dass wir eurer Gemahlin dabei ein wenig Gesellschaft leisten, nicht wahr, Domenico?"
Eingedenk der warnenden Worte ihrer Eltern schlug Sanyas Herz bis zum Hals und einen Moment lang wünschte sie, dem Urbeter die Hand entreißen zu können, um bei Domenico zu bleiben. Aber kurz darauf gewann ihr jugendlicher Übermut die Oberhand. Während Traviano sich, ohne auf Antwort zu warten, mit der hübschen Adligen in Richtung Leomar wandte, blickte sie sich noch kurz um, die hilfesuchende Miene war halb nur gespielt, bevor sie ihr Kinn voller Stolz nach oben reckte. An der Seite des Stadtherrn! Damit war sie die Dame des Abends, und sei es nur für kurze Zeit ...
- Di Tamarasco
Romejan und Larissa di Tamarasco durchquerten maßvollen Schrittes die Halle. Zuvor hatten sie noch die Arbeiten am eigenen Palazzo begutachtet, hatten jedoch penibel darauf geachtet, den Arbeitern nicht zu nahe zu kommen, so dass kein Stäubchen die teuren Kleider der beiden bedeckte. Im Vergleich zu den anderen Anwesenden wirkten die samtenen und seidenen Gewänder Larissas schlicht; man merkte, dass sie sich nicht wohl fühlte. Umso mehr beeindruckten die schweren goldenen Ringe, die Romejan an den Händen trug.
"Larissa, du weißt, dass es ein schlechtes Licht auf uns wirft, wenn du weiterhin so gequält lächelst..."
Romejan warf seiner Cousine einen missmutigen Blick zu.
Diese ignorierte ihn völlig, denn sie hatte gerade einen gut aussehenden Patriziersohn entdeckt, mit dem sie in einer der hiesigen Schenken Bekanntschaft gemacht hatte.
Romejan seufzte. Wieder einmal blieb die Repräsentation der di Tamarasco auf seinen Schultern. Seine Großmutter Daria di Tamarasco hatte es immer noch nicht überwunden, dass der Stadtherr mit Graf Croenar gebrochen hatte, und vermied es, soweit möglich, mit ihm zusammen zu treffen. Was sie, die aktuelle Lage bedenkend, erst einmal ins politische Abseits stellte.
Aber dafür war ja schließlich Romejan hier. Er schritt durch die Menge der Adeligen, wechselte ein paar freundliche Worte und blickte sich nach dem Gastgeber um, um ihm seine Aufwartung zu machen. Auch den Stadtherrn ließ er nicht links liegen - es wäre ihm auch schwer möglich gewesen, bei dem Aufsehen, das dieser auf sich zog.
Gerade als die Führung begann, trat auch Larissa wieder zu Romejan. Sie hatte sich die ganze Zeit mit Patriziern unterhalten und sich ein wenig in dem Neid gesonnt, den sie als Adelige genoss. Doch auch sie war innerlich erregt über den Standesdünkel, den der Gastgeber zu Tage legte, hieß es doch nun für sie, sich für eine Weile von den interessanten Gesprächspartnern und -themen verabschieden zu müssen.