Briefspiel:Efferds Zorn
Autoren: Amarinto, Carenio, Illumnesto, Kacheleen, Tribec, VivionaYaPirras
Sturmflut in Sewamund 20. Travia 1046 BF
Prolog
Über den Dächern von Sewamund hingen schwere, dunkle Wolken wie die Faust eines erzürnten Gottes, als die Flut unbarmherzig über die Stadt hereinbrach. Seit Tagen hatten die Bewohner den Regen ertragen, aber jetzt war das Wasser gekommen, um sich zu nehmen, was ihm zustand. Die meisten Menschen hatten sich in ihre Häuser zurückgezogen, Türen verriegelt und Fenster verrammelt, während das Meer gegen die Hafenmauern donnerte. Nur wenige, wie der Deicharbeiter Angold, blieben draußen, standen knietief im Wasser und versuchten, zu retten, was noch zu retten war.
Er war ein kräftiger Mann, an die Stürme und Fluten des Siebenwindigen Meeres gewöhnt, doch dieser Tag brachte eine besondere Kälte mit sich. Sie kroch ihm durch die Kleidung, ins Mark, und der Wind schnitt durch die Gassen wie die Klinge eines unsichtbaren Messers. Um ihn herum tobte die Natur, als hätte Efferd selbst beschlossen, der Stadt eine Lektion zu erteilen. Viele glaubten daran. In den letzten Stunden hatten die Stimmen unter den alten Fischern zugenommen, die von vergessenen Opfern und dem Zorn des Meeresgottes sprachen.
Er watete durch das schäumende Wasser, seinen Blick auf den Kai gerichtet, wo Boote an ihren Leinen rissen und sich loszulösen drohten. Er konnte nur hilflos zusehen, wie der uralte Kutter "Seepferd" gegen die steinernen Pfeiler der Sewakbrücke geschleudert wurde. Das alte Boot brach in zwei Hälften, das Holz splitterte unter der Gewalt des Wassers und ein dumpfes Krachen drang über das Tosen des Sturms hinweg.
Doch das war nicht das einzige Geräusch, das die Luft zerriss.
Über das Dröhnen der Wellen hinweg, weit über dem Kai, hörte er das ächzende Stöhnen eines Bauwerks, das schon seit Generationen stand: der Leuchtturm von Sewamund, einst das stolze Wahrzeichen der Stadt. Mitten im Sturm stand er noch immer aufrecht, doch das Wasser hatte sich längst bis zu seinem Fundament gefressen. Angold sah, wie eine besonders hohe Welle gegen den Turm schlug und ihn zum Schwanken brachte.
Er hielt den Atem an, sein Blick starr auf den Turm gerichtet. Der Leuchtturm hatte so viele Stürme überstanden, seine Flamme hatte unzählige Schiffe sicher nach Hause geleitet. Doch jetzt – es war, als würde Efferd selbst ihn mit einem einzigen gewaltigen Schlag auslöschen wollen. Die Flut zog sich kurz zurück, nur um dann mit Wucht heranzurollen, wie es der Deicharbeiter nicht für möglich gehalten hätte.
Der Turm ächzte erneut, dieses Mal lauter, beunruhigender. Seine Mauern begannen zu zittern, und dann, als wäre es der letzte Stöhnen eines alten, müden Giganten, brach das obere Drittel des Turms mit einem ohrenbetäubenden Krachen ein. Trümmer und Steine flogen in alle Richtungen, einige schlugen ins Wasser, andere stürzten auf den Kai. Die Flamme des Leuchtturms erlosch in einem einzigen Moment und der Rest des Turms fiel, als hätte das Meer selbst ihn niedergerissen.
Der Angold konnte nur fassungslos zusehen. Das Rauschen des Wassers war für einen Moment das einzige Geräusch, als die Trümmer des einst stolzen Leuchtturms im Meer verschwanden. Er spürte, wie das Wasser um ihn herum anstieg, doch er konnte sich nicht bewegen. Der Leuchtturm, das Symbol der Sicherheit für die Seeleute und Fischer der Stadt, war fort – zerschlagen wie die Fischerboote, die gegen den Kai geworfen worden waren.
Neben ihm war ein anderer Deicharbeiter auf die Knie gesunken, den Blick zu den Göttern gerichtet, als ob er in dem Chaos nach einer Antwort suchte. "Efferd hat uns verstoßen", flüsterte der Mann kaum hörbar, seine Stimme rau vor Angst und Ehrfurcht.
Die Worte hallten in den Gedanken Angolds wider. War dies wirklich Efferds Zorn? Hatte die Stadt den Meeresgott so verärgert? Er sah sich um – das Wasser hatte große Teile der Altstadt überschwemmt, einige kleinere Boote waren zertrümmert und nun lag auch der Leuchtturm in Trümmern. Es war schwer, in diesem Moment nicht zu glauben, dass der Meeresgott ihnen zürnte. Aber dennoch beschlich ihn das Gefühl, dass hier etwas nicht stimmte.
Trotz des Flüsterns um ihn herum, trotz der unheimlichen Stille, die nach dem Einsturz des Turms herrschte, spürte er eine seltsame Ruhe in sich aufsteigen. Sewamund war stark, das wusste er. Diese Stadt hatte bereits Fluten und Stürme überstanden, wie sie sich nur die wenigsten vorstellen konnten. Auch wenn der Leuchtturm gefallen war, auch wenn Efferds Zorn vielleicht heute ihnen galt, die Stadt würde nicht untergehen. Die Menschen hier wussten, wie man wiederaufbaute. Wie man weitermachte.
Er wandte sich um und watete durch das tiefe Wasser, bereit, sich wieder an die Arbeit zu machen. Der Leuchtturm mochte gefallen sein, doch Sewamund würde sich erheben – immer und immer wieder.
Der Sturm fordert seine Opfer
Heerlager vor den Toren Trafiumes
Inmitten des tobenden Sturms, als Regen und Wind wie peitschende Schläge auf die Erde niederprasselten, herrschte hektisches Treiben im temporären Heerlager des Selziner Heerbanns. Die schäumenden Wellen der heranrollenden Sturmflut hatten das Land jenseits der schützenden Mauern von Sewamund bereits in eine tückische, schlammige Einöde verwandelt. Zelte wurden abgerissen, Ausrüstung fortgespült, und der Boden selbst schien unter den Füßen zu schwanken.
Salkya de Gerimaldi, Erbin des Hauses de Gerimaldi und Cavallerista des Selziner Ratsherrn Toliban Zwijnhof, stand mitten in diesem Chaos. Ihr Umhang flatterte wild im Wind, während sie scharfe Befehle rief. Ihre Stimme trug trotz des Heulens des Sturms und des Durcheinanders der Männer und Frauen, die hektisch die Trosswagen beluden und die Pferde beruhigten. "Bringt die Wagen in Bewegung! Wir dürfen keine Zeit verlieren!", rief sie, ihre Augen fest auf die näher rückenden Wellen gerichtet. Jeder Augenblick zählte, doch die klammen Hände und die schwindenden Kräfte der Söldner und Arbeiter machten die Aufgabe umso schwerer. Die Pferde waren nervös, stampften und wieherten, während die schweren Trosswagen langsam in Bewegung gesetzt wurden.
Ein donnerndes Krachen erfüllte die Luft, als ein Baum am Rand des Lagers unter den gewaltigen Winden brach und direkt in Richtung des Zuges stürzte. Mit einem Sprung warf sich Salkya zur Seite, um ihren Adjutanten Regon, der das Unglück zu spät bemerkt hatte, aus der Gefahrenzone zu stoßen. Doch sie selbst war nicht schnell genug. Ein massiver Ast traf sie seitlich am Bein und ein durchdringender Schmerz schoss durch ihren Körper. Sie spürte, wie der Knochen nachgab und die Welt um sie herum für einen Moment verschwamm. Mit zusammengebissenen Zähnen und einem unterdrückten Schrei versuchte Salkya, sich aufzurichten. "Weiter! Bringt die Wagen in Sicherheit!", befahl sie, ihre Stimme schwächer, aber immer noch befehlsgewohnt. Zwei Söldner eilten herbei, um ihr aufzuhelfen, doch sie wies sie ab und deutete auf die Wagen. "Helft den anderen, ich komme zurecht."
Trotz des unerträglichen Schmerzes stützte sie sich auf einen herumliegenden Ast und humpelte weiter, entschlossen, ihre Pflicht zu erfüllen. Die Trosswagen rollten langsam den schlammigen Weg hinauf, fort von den grollenden Wellen, während Salkya, gezeichnet von ihrer Verletzung, sich gegen die aufkommende Schwäche wehrte. In ihren Augen brannte noch immer die Entschlossenheit, die ihr adeliges Blut und ihre ritterlichen Ideale sie gelehrt hatten. Als der letzte Wagen den rettenden Pfad erreichte, gaben ihre Kräfte nach, und sie sank auf die Knie, den Schmerz nicht länger unterdrücken könnend. Doch ein Blick auf die in Sicherheit befindlichen Wagen erfüllte sie mit Stolz und Erleichterung.
Lucrann von Leihenhof
Nunmehr verwickelt in einen Krieg im Horasreich zwischen einer Handelsstadt und dem Baron des Umlandes war der horasisch erzogene Nordmärker Lucrann von Leihenhof bei den Ruthorer Hellebardieren gewesen und hatte nach dem Rechten gesehen. Donnernd waren die Fluten herangerollt, unaufhaltsam, unbeugsam, eine Macht, der sich die Sterblichen nicht in den Weg stellen sollten.
Die Vorstadt Sewamunds war den Gewalten des Meeres beinahe schutzlos ausgeliefert - eine erste Welle riss Lucrann beinahe von den Beinen, gerade noch bekam er seinen Knappen Geron zu fassen, seine Ritterin Grimhelds, noch einmal zehn Halbfinger größer als ihr ohnehin schon großer Führer, stemmte sich der Wassermacht entgegen. “Scheiße!”, brüllte Lucrann gegen den Wind und fuhr herum. “Wir müssen den Mannschaften helfen!” “Herr, nicht!” Das Wasser stieg, Wiesen und Wege wurden schlammig, doch breitete sich das hereindrückende Meer hier weitflächig aus, ungehindert, von keiner Mauer aufgehalten. Lucrann blieb stecken, stolperte, stürzte in den Matsch! “Lucrann!” Grimheldis packte den Knappen, bevor auch er kopfüber in den Matsch fiel, dann langte sie mit einer ihrer Pranken zu und zog den Cavalliere aus dem Dreck. “Gut, dann helfe mer de Mannschaft’n, aber uffpasche!”, grollte sie in ihrem breiten nordmärkischen Dialekt. “Geron, du gehscht … “ Ihre Anweisung ging in einem Schmerzensschrei, eher einem Gebrüll unter, als die Hünin von etwas getroffen schwankte wie eine brüchige Eiche und sich dann an die Schulter fasste. “Scheiße, verdammter Drecknocheins.” Lucrann und Geron sahen zu ihr auf. So hatten sie die sonst so zurückhaltende und höfliche Ritterin nicht fluchen hören. Neben ihr lag ein dicker, kurzer Fahnenmast, von irgendwo her abgerissen und angeweht. “Des Scheißding isch mir in de Rüggn geknallt!” Lucrann stand auf. “Nicht gut. Seid Ihr schwer getroffen.” “Nich schwer, geht schon. Lasst uns weidr!”
Sie wateten durch den Sturm in Richtung des Lagers der Hellebardiere, um dort zu helfen. Im ganzen Lager war ein heilloses Chaos ausgebrochen, als Efferds Zorn auf sie niederging. Lucrann beeilte sich, er musste zu den Truppen kommen, um zu helfen, wo es nötig war.
Im Kriegshafen
Die „Nixe von Nevorten“ lag schwer beladen mit Geschützen und Munition am Pier, die dicken Taue spannten sich wie Sehnen unter der Last der anstürmenden Wassermassen.
Die Mannschaft kämpfte verzweifelt gegen die Elemente. Die Admiralissima Nevortens Charine ya Corrada brüllte Befehle über das Heulen des Windes hinweg, während die Seeleute versuchten, das Schiff zu sichern.
Plötzlich krachte eine gewaltige Welle gegen den Bug des Schiffs. Das Holz ächzte bedrohlich, und ein entsetztes Aufschreien ging durch die Reihen der Frauen und Männer, als eines der Taue riss. Die Seeleute sprangen zur Seite, doch für zwei von ihnen kam jede Hilfe zu spät. Das gerissene Tau peitschte mit voller Wucht gegen sie und ihre Schreie verstummten abrupt.
Währenddessen rutschte eine der Rotzen, die sich losgerissen hatte, über das glitschige Deck. Sie krachte gegen die Bordwand und zerbarst.
Eine weitere Matrosin, die versucht hatte, das Deck zu sichern, wurde von einem heranrollenden Fass getroffen, das sich ebenfalls losgerissen hatte. Sie stürzte über Bord, und trotz der verzweifelten Versuche ihrer Kameraden, sie zu retten, verschwand sie in den brodelnden Fluten.
Das Chaos an Bord der „Nixe von Nevorten“ hielt den ganzen Tag an. Die Besatzung kämpfte unermüdlich, doch am Morgen, als der Sturm endlich nachließ, war der Schaden offensichtlich. Ein Teil der Munition war zerstört und mehrere Geschütze beschädigt, einige Seeleute wurden ins Hospital gebracht, und zwei waren tot. Die Admiralissima stand stumm am Bug, die Augen auf den Horizont gerichtet. Für die Besatzung der „Nixe von Nevorten“ würde die Erinnerung an diese verhängnisvolle Sturmflut noch lange nachhallen.
Das Drama im Kontor der Nordland-Compagnie
Der Himmel über Sewamund war bereits in ein bedrohliches Grau getaucht, als der Sturm anrollte. Die ersten düsteren Wolken hatten sich wie ein düsteres Vorzeichen über dem Hafen zusammengezogen.
Plötzlich erhob sich ein ohrenbetäubendes Heulen. Der Wind tobte, als ob die Götter in ihrem Zorn gegen die Stadt ankämpften. Die Wellen, die zuerst sanft an den Hafen schlugen, verwandelten sich rasch in eine unaufhaltbare Flutwelle, die mit der Gewalt eines riesigen Wasserdrachens auf die Stadt zuschoss.
Das Wasser stieg an und überflutete die Uferpromenade in einem Atemzug. Die Menschen, die noch vor wenigen Minuten in den Tavernen gesessen hatten und Geschichten von fernen Ländern austauschten, wurden von der Flut wie Spielzeug fortgerissen. Ein Schrei der Panik durchbrach die Stille der Nacht, als die ersten Bewohner versuchten, sich in Sicherheit zu bringen. Doch das Wasser war schneller.
Familien wurden auseinandergerissen, Mütter schrieen nach ihren Kindern, die im strömenden Wasser verschwanden. Die Brücken, die von den Wasserkanälen zur Stadt führten, wurden von der Flut erfasst, und Holzsplitter knallten auf die Straßen, während die Strömung alles mit sich riss, was sich ihr in den Weg stellte. Die prunkvollen Stadtpaläste, die einst für ihre Schönheit gepriesen wurden, wurden zu Gefängnissen aus Wasser und Tod.
Alfredo Continio, der Kontorleiter der Handelsgesellschaft HPNC, blickte aus dem Fenster seines Büros und spürte, wie ein ungutes Gefühl in seiner Magengegend wuchs. Der Wind pfiff durch die Gassen und kündigte das Unheil an, das sich rasant näherte.
Das Handelskontor der renommierten Handelsgesellschaft HPNC war ein imposantes Gebäude am Rande des Hafens. Es ragte stolz empor und erfüllte die Luft mit dem Duft von edlen Gewürzen und kostbaren Stoffen. Doch an diesem verhängnisvollen Abend sollte das Kontor Zeuge einer Katastrophe werden, die alles in den Schatten stellen sollte, was die Stadt je erlebt hatte.
Die Arbeit im Kontor der HPNC war hektisch. Angestellte hasteten hin und her, packten Waren zusammen, schlossen Kisten und versuchten, das Chaos zu bändigen, während das Heulen des Windes immer lauter wurde. "Schnell! Wir müssen alles sichern!", rief Alfredo und seine Stimme drang mit Mühe über das Geräusch des aufbrausenden Sturms. Als er diese Worte sprach, schlugen die ersten Wellen gegen die hölzerne Kaimauer, als wollten sie die Grenzen des Hafens sprengen.
Mit jedem Moment wurde der Sturm wütender. Die Wellen türmten sich wie riesige, drohende Bestien. Plötzlich erfasste eine gewaltige Böe das Büro, und das Fenster zersplitterte in tausend Stücke. Kalt und nass strömte der Regen herein, als wäre der Ozean selbst auf der Suche nach Rache. "Holt die Kisten hoch. Rettet die Akten!", schrie Alfredo, doch seine Worte gingen in dem wütenden Orkan verloren.
Die Fluten des Sturms hatten das Kontor erreicht und brachen mit einer zerstörerischen Wucht über das Gebäude herein. Die reißenden Wassermassen bahnten sich unaufhaltsam ihren Weg durch die Eingänge, die zuvor so stolz den Handel und Wohlstand symbolisiert hatten. Die Wände erzitterten unter dem Druck des Wassers, während das Inventar mit einem ohrenbetäubenden Lärm zu Boden krachte.
Angestellte, die verzweifelt versuchten, ihren Arbeitsplatz zu retten, wurden von den reißenden Fluten erfasst und mit sich gerissen. Schreie des Entsetzens erfüllten die Luft, als Menschen um ihr Leben kämpften und gegen die unbarmherzige Naturgewalt keine Chance hatten. Einige wurden von den Trümmern des einst prachtvollen Kontors begraben, während andere in den eisigen Fluten ihr tragisches Ende fanden.
Die kostbaren Waren, die einst stolz in den Regalen des Kontors präsentiert wurden, wurden nun zu Opfern des Sturms. Wertvolle Gewürze und kostbare Stoffe trieben wie traurige Überreste einer vergangenen Blütezeit durch die überfluteten Straßen. Viele Schätze der Handelsgesellschaft waren nun nichts weiter als verlorene Träume, zerstört von den gnadenlosen Wellen des Meeres.
Die Panik brach aus. Schreie und das Geräusch von Metall, das gegen Metall schlug, erfüllten den Raum. Kisten trieben wie Spielzeug auf dem Wasser, und das Inventar des Kontors wurde zum Spielball der Wellen. Die Angestellten versuchten verzweifelt, sich gegenseitig zu helfen, während die reißenden Strömungen unbarmherzig alles mit sich rissen.
Alfredo kämpfte sich durch das Chaos, als er sah, wie ein Angestellter, der ihm stets zur Seite gestanden hatte, von einer Welle erfasst und in die Tiefe gezogen wurde. "Gersbart!", schrie er, aber es war zu spät. Die Flut hatte ihn verschlungen, und mit ihm die Hoffnung, dass sie alle unbeschadet davongekommen würden. In diesem Moment spürte Alfredo eine ohnmächtige Wut und Trauer, während sich um ihn herum das Wasser weiter erhob und das Kontor langsam, aber sicher in die Tiefen des Hafens zog.
In einer letzten verzweifelten Anstrengung gelang es Alfredo, sich an einem Tisch festzuhalten, der gerade noch über Wasser war. Er blickte um sich und sah das Entsetzen in den Augen seiner Angestellten, die ebenso um ihr Überleben kämpften. Einige waren schon bis zur Hüfte im Wasser, während andere verzweifelt nach Halt suchten. Der junge Grangorius van Kacheleen schaffte er soeben noch mit einem gewagten Sprung von einem Tisch mitten im Wasser die Treppe hoch ins Erdgeschoss zu gelangen, im Arm wertvolle Akten an seinen zitternden Körper gepresst. „Wir müssen helfen!“, rief er mit dröhnender Stimme, während nasse Strähnen ihm ins Gesicht fielen. Er mobilisierte die wenigen Überlebenden, organisierte das Chaos, stellte sich der Dunkelheit, die sich über Sewamund gelegt hatte. Der Sturm hatte vieles mit sich gerissen, was die HPNC aufgebaut hatte, und die verheerenden Wellen schienen nicht den geringsten Anzeichen von Nachlassen zu zeigen.
Schließlich, in einem Moment, in dem der Sturm einen kurzen Atemzug nahm, gelang es Alfredo, sich zur Tür zu schleppen. Das Wasser war inzwischen bis zur Brust gestiegen, und jeder Schritt fühlte sich an, als würde er gegen die Strömung der Hölle kämpfen. Mit einem letzten Krampf öffnete er die Tür und wurde von einem Schwall Wasser hinaus in die dunklen Weiten des Hafens gespült.
Als er auf der anderen Seite ans Ufer gespült wurde, keuchte er nach Luft, während er sich mit letzter Kraft an einem Balken festklammerte. Der Sturm tobte noch immer, aber er war lebendig. Er blickte zurück auf das, was einst ein florierendes Handelskontor gewesen war – jetzt war es ein Schatten seiner selbst, ein zerbrochener Ort voller Tod und Zerstörung. Tränen des Verlustes und der Verzweiflung strömten über sein Gesicht. Einige Angestellte hatten nicht überlebt, und die Fluten hatten alles, was sie besessen hatten, mit sich gerissen.
Alfredo wusste, dass der Weg zur Wiederherstellung lang und steinig sein würde, doch der Wille zu überleben brannte in seinem Herzen. Es war ein neuer Tag, ein neuer Kampf, und er würde alles tun, um die Erinnerung an seine gefallenen Kollegen zu ehren und das Handelskontor wiederaufzubauen.
Die Nacht verging und der Sturm ließ langsam nach, doch die Schäden waren hoch. Als der Morgen graute und die Sonne wieder über die Ruinen der Stadt aufging, war Sewamund nicht mehr dieselbe. An den Ufern lagen Trümmer, die Erinnerungen an ein Leben, das einst voller Freude und Hoffnung war, zurückließen. Der Schrecken der Sturmflut hatte die Stadt für immer verändert, und die Menschen würden die Warnung der Götter nicht vergessen.
In den folgenden Tagen versammelten sich die Überlebenden, um den Schaden zu begutachten und um ihre Toten zu betrauern. Das Wasser hatte nicht nur das Land, sondern auch die Seelen der Menschen verwüstet. Wenn die Wellen sich zurückzogen, trugen sie die Hoffnung mit sich fort, während die Stadt mit dem schweren Herzen der Trauer und dem unstillbaren Wunsch, zu überleben, langsam wieder zu neuem Leben erwachte.
Flüchtlingslager und Strandbad
Der Regen prasselte unaufhörlich auf die Dächer der notdürftig errichteten Barracken der Flüchtlinge aus Amarinto nieder. Schon seit Tagen hatten die Bewohner des Lagers den steigenden Wasserpegel beobachtet, wie er sich langsam, aber unaufhaltsam über den nahen Strand ausbreitete. Doch an diesem Tag war etwas anders. Der Wind wurde stärker und die Wellen des Siebenwindigen Meeres, die sonst sanft an das Ufer des nahen Strandbads schwappten, türmten sich jetzt zu bedrohlichen Wänden aus Wasser auf. Plötzlich durchbrach ein lauter Knall die Geräuschkulisse des Sturms. Eine der Baracken, die am nächsten zum Meer stand, wurde von einer gewaltigen Welle erfasst. Das Wasser riss mit brutaler Kraft an den Wänden, hob die leichte Konstruktion an und schleuderte sie gegen die benachbarten Hütten. Panik brach aus, als die Bewohner versuchten, sich in Sicherheit zu bringen. Kinder schrien nach ihren Eltern, während die Erwachsenen verzweifelt versuchten, Habseligkeiten zu retten und die jüngsten Familienmitglieder zu evakuieren.
Die schlammige Flut drang unaufhaltsam voran, überschwemmte das Lager und zog die ungesicherten Vorräte und Habseligkeiten mit sich. Betten und Decken wurden von den Wassermassen fortgerissen, und die provisorischen Feuerstellen versanken in den Fluten. Die Flüchtlinge zogen sich verzweifelt in die höher gelegenen Teile der Neustadt zurück und versuchten zu retten was zu retten war, doch das Wasser war schneller. Es brach durch die schwachen Barrieren, die aus Sand und notdürftig aufgeschichteten Holzplanken bestanden, und drang tiefer in das Lager ein.
Der Sturm peitschte weiter über die Stadt, während das Wasser sich seinen Weg bahnte und das Lager in ein Meer aus Schlamm und Trümmern verwandelte.Am Ende des Tages, als der Sturm allmählich nachließ und das Wasser sich langsam zurückzog, blieb von dem Lager nicht viel übrig. Die Bewohner standen fassungslos inmitten der Trümmer, klatschnass und erschöpft, während die letzten Wellen an den Küsten der Bucht von Grangor verebbten. Sie hatten erneut alles verloren, und das Lager, das gerade erst eine Zuflucht geworden war, lag nun in Trümmern.
Neustadt
Palazzo Phecadien
Der Sturm tobte über Sewamund, und der Regen fiel in schweren Tropfen, die wie Nadeln auf das Wasser des Kanals stachen. Die Hafenstadt war an Fluten und Stürme gewöhnt, doch in dieser Nacht war das Unwetter besonders heftig. Die Bewohner blieben in ihren Häusern, während der Wind durch die leeren Gassen fegte und die Wellen des Siebenwindigen Meeres gegen die Hafenstadt brandeten.
Am Ufer des Kanals lag der Palazzo Phecadien, ein prächtiges Gebäude, das seit einigen Götterläufen unbewohnt war. Die Flut hatte das Erdgeschoss des Palazzos noch nicht erreicht, aber der Keller stand bereits unter Wasser. Das war die Chance, auf die die Männer und Frauen gewartet hatten.
Im Schutz der Dunkelheit glitt ein schmales, unauffälliges Boot lautlos über den Kanal, direkt auf den Palazzo zu. Die Besatzung hatte die Nacht und den Sturm zu ihrem Vorteil gemacht. Der Palazzo besaß im Keller eine alte Anlegestelle, die einst genutzt worden war, um Waren direkt vom Wasser ins Gebäude zu bringen. Diese Anlegestelle war lange nicht mehr genutzt worden, doch die Diebe hatten sie bei ihrer Vorbereitung entdeckt – und jetzt führte der hoch angestiegene Wasserpegel sie direkt dorthin.
Mit kräftigen, aber leisen Ruderschlägen steuerten sie das Boot durch die enge Einfahrt. Das Wasser hatte die alte, morsche Holztür der Anlegestelle bereits teilweise eingedrückt, sodass sie keinen Widerstand leistete. Ein letzter Stoß, und das Boot schob sich in den überfluteten Keller des Palazzos. Die Dunkelheit im Inneren verschlang sie sofort.
Im Keller schwappten die Wellen sanft gegen die Wände. Hier war der Lärm des Sturms gedämpft, und die Männer und Frauen konnten sich lautlos bewegen. Sie banden das Boot an einem der alten Pfeiler fest. Dann stiegen sie in das brackige Wasser, das ihnen bis zur Hüfte reichte, und bewegten sich zielstrebig in Richtung der Treppe, die ins Erdgeschoss führte.
Der Keller des Palazzos war ein verwinkeltes Labyrinth aus Lagerräumen und langen, dunklen Korridoren. Die Kellerräume waren überwiegend leer. Ihr Ziel lag jedoch weiter oben, dort, wo die Schätze des Palazzo noch unversehrt ruhten.
Sie erreichten die steinerne Treppe, die aus dem überfluteten Keller hinauf ins Erdgeschoss führte. Das Wasser rann von ihren Kleidern, als sie die Stufen hinaufstiegen und schließlich in den trockenen Teil des Palazzos gelangten. Hier oben war nichts von der Zerstörung der Flut zu spüren. Die hohen Decken, die prachtvollen Gemälde an den Wänden und die kunstvoll geschnitzten Möbel erzählten von einem Reichtum, wie er dem letzten Bewohner, dem Grafen Rimon Sâlingor von Bomed, zustand.
Die Diebe verloren keine Zeit. Sie hatten den Palazzo bereits zuvor ausgekundschaftet und wussten genau, welche Schätze sie mitnehmen wollten. Sie suchten nach leicht zu transportierenden, aber wertvollen Gegenständen: fein gerahmte Gemälde, kostbare Vasen und Statuetten. Mit geübten Händen nahmen sie die Kunstwerke von den Wänden, verstauten sie in wasserdichten Behältnissen und trugen sie zurück zur Anlegestelle im Keller.
Immer wieder kehrten sie in die oberen Stockwerke zurück, um ihre Beute zu holen, die sie sorgsam im Boot verstauten. Sie arbeiteten schnell und effizient, die Zeit lief gegen sie. Doch der Sturm draußen und die Flut, die langsam weiter anstieg, sorgten dafür, dass niemand in dieser Nacht auf die Idee kommen würde, den Palazzo zu betreten.
Als sie schließlich alles beisammenhatten, kehrten sie ein letztes Mal zurück zur Anlegestelle. Das Boot, nun schwer beladen mit den Schätzen des Palazzos, lag ruhig im schummrigen Licht einer Fackel. Mit einem kurzen Blick tauschten sie stumme Befehle aus, lösten die Leinen und stießen sich vom Anlegeplatz ab. Das Wasser trug sie lautlos zurück auf den Kanal hinaus, und der Sturm übertönte jedes Geräusch.
Der Palazzo Phecadien stand wieder still und leer da, als wäre nichts geschehen. Am nächsten Morgen würde die Flut eine einzige Spur der Verwüstung hinterlassen, doch die Diebe und ihre Beute waren längst verschwunden, als wären sie nie dort gewesen.
Piazza Nodo
Die Flut erreicht den Knotenplatz
Anfänglich wähnte man sich sicher im Palazzo novo della Carenio. Andere Gebäude, allen voran das ehemalige Seebad, die Albigonenser Abtei und die westlichen Bauten am Knotenplatz würden den Familiensitz vom reißenden Wasser abschirmen - so dachte man. Doch als die unaufhörlich steigende Flut schließlich die Türschwelle des Familiensitzes überwand, war die Zuversicht dahin. Ricardo della Carenio rief die Bediensteten zur Eile auf, die im Keller gelagerten Vorräte nach oben zu schaffen. Er selbst hastete mit seinem Diener die Stufen hinab, über die das trübe Wasser bereits in schlammigen Kaskaden abwärts stürzte. Der Justiziar und ehemalige Stadtrichter von Veliris glitt auf den glitschigen Steinstufen aus, riss die Arme mit einem Schrei hoch und versank schneller in den Fluten, die den Keller bereits hüfthoch angefüllt hatten, als der treue Faveo reagieren konnte. Die Hände des Dieners durchkämmten das trübe Wasser in der Hoffnung, den versunkenen Justiziar aufzuspüren, während er gleichzeitig um Hilfe schrie.
Ricardo selbst war mit dem Hinterkopf auf einer der Stufen aufgeschlagen. Benommen verlor er die Orientierung im trüben, eiskalten Wasser. Die Bewegungen, mit denen er versuchte an die Wasseroberfläche zu kommen, waren reichlich unkoordiniert und als er endlich kurz den Boden unter seinen wild strampelnden Füßen zu fühlen vermeinte, fanden diese keinen Halt im schlammigen Untergrund. Die Luft wurde ihm knapp. Ricardo bäumte sich auf, orientierungslos treibend und in alle Richtungen um sich rudernd. Schließlich gab er den Kampf auf. Das letzte was er wahrnahm, bevor er bewusstlos wurde, war dass kaltes Wasser in seine Kehle eindrang und ein unstillbarer Hustenreiz ihn würgen ließ.
Einem glücklichen Umstand verdankte der Justiziar seine Rettung. Im Todeskampf stieß er seine Rechte über die Wasseroberfläche. Dem aufmerksamen Diener Faveo gelang es, diese zu ergreifen und gemeinsam mit weiteren, herbeigeeilten Bediensteten Ricardo aus dem Keller zu retten. Lange kämpften sie unter den besorgten Blicken der Familie um das Leben des geschätzten jüngeren Bruders von Dimiona della Carenio. Erst am folgenden Tag, als der Justitia erstmals wieder die Augen aufschlug, wurde deutlich, dass Ricardos Lunge einen schweren Schaden genommen hatte.
Und damit nicht genug des Unglücks. Ein herabfallender Dachziegel erschlug noch am selben Abend den Lebensretter und verdienten Leibdiener Ricardos, den tapferen Faveo.
Ein Helfer wird selbst zum Opfer
Nandurion della Carenio eilte auf das Strandbad und die Flüchtlingsunterkünfte zu, um zu sehen, was Efferds Zorn von ihnen übrig gelassen hatte. Es war schließlich nicht lange her, dass seine Familie, unterstützt von den Sheniloer ya Papilios, eine Wagenladung Hilfsgüter in die Stadt geschleust hatte. Die Freude unter den gewaltsam Vertriebenen war groß gewesen und so fühlte man sich in der Familie della Carenio auch weiterhin verantwortlich für das Schicksal der Flüchtlinge aus Amarinto und den umliegenden, von Baron Irion eingenommenen Dörfern. Dimiona della Carenio, das Oberhaupt der Familie, hatte Nandurion ausgeschickt, der nach dem Tod seiner Schwertmutter Rondriane Tribêc zunächst wieder in den Familienpalazzo zurückgekehrt war, um sich über das Ausmaß der Schäden in den Flüchtlingsunterkünften zu informieren.
Schon von weitem konnte man erkennen, dass viele der Baracken der Sturmflut nicht hatten trotzen können, ganz zu schweigen von den notdürftig errichteten Zelten. Schon in den Straßen, die auf das ehemalige Seebad zuführten, mischte sich Schlamm mit Trümmern der Baracken und Habseligkeiten derer, die dort Zuflucht gesucht hatten. Als der junge Knappe den baumbestanden Vorplatz des Strandbades erreichte, offenbarte sich das Chaos, das die Sturmflut dort angerichtet hatte. Die Wassermassen hatten einige der Bäume vollständig entwurzelt und mit sich gerissen, andere unterspült, so dass es nur eine Frage der Zeit war, wann sie stürzen würden. Eine Frau in zerrissenen, schlammüberkrusteten Kleidern versuchte im entblößten Wurzelwerk eines arg in Schräglage geratenen Baumes verfangene Kleidungsstücke zu bergen. Plötzlich fuhr eine Sturmböe in das Geäst. Ächzend gab die Linde dem wütenden Wind nach. Ihre Wurzeln rissen sich aus dem Schlamm los, reckten ihre bizarr geformten Finger immer weiter dem tiefgrauen Himmel entgegen. Nandurion ließ einen Warnruf los, doch die Frau schien die drohende Gefahr nicht wahrzunehmen. Also schnellte er vor und schubste sie aus der Gefahrenzone. Dabei verfing sich jedoch seine Kleidung in dem gen Himmel schnellenden Wurzelstock und riss den drahtigen jungen Mann von den Füßen. Ein heftiger, schneidender Schmerz fuhr in den linken Arm des Jünglings, der hilflos etwa einen halben Schritt über dem Boden im Wurzelstock baumelte. Warm rann das Blut seinen Arm hinab durch die Kleidung hindurch. Nach einer ersten Schrecksekunde schaffte es Nandurion, sich mit der unverletzten Rechten aus der Umklammerung der Wurzeln zu befreien. Unsanft fiel er in dem vom ausgerissenen Wurzelstock geformten Erdloch zu Boden. Er besah sich den linken Arm genauer. Die erdverkrusteten Wurzelfinger hatten ihm die gesamte Innenseite seines Armes von der Handwurzel bis über den Ellbogen hinaus aufgerissen. Die Wundränder klafften auf, borkige Wurzelreste und Erde schwammen in dem stetigen, roten Fluss zu Boden. Nandurion biss die Zähne aufeinander und presste den Stoff des zerrissenen Ärmels so gut wie möglich auf die Verletzung. Die gerettete Frau hatte sich inzwischen aufgerappelt. Einen Dank murmelnd stolperte sie davon, ohne sich um den verletzten Retter zu kümmern. Also blieb dem Jüngling nichts anderes übrig, als sich ohne Hilfe auf den Rückweg zum Palazzo Novo della Carenio zu machen, um sich dort verbinden zu lassen. Auch ohne tiefergehende medizinische Kenntnisse wusste der Knappe, dass er mit Sicherheit eine lange, unschöne Narbe davontragen würde.
Altstadt
Das Sturmbanner
In der Dämmerung eines stürmischen Abends lag die mittelalterliche Hafenstadt Sewamund friedlich am Ufer des rauschenden Meeres. Die Fischer hatten ihre Boote sicher im Hafen vertäut, und die letzten Marktstände waren gerade abgebaut worden. Doch der Himmel war von dunklen Wolken verhangen, und ein unheilvolles Murmeln des Windes kündigte eine drohende Gefahr an, die die Stadt in ihren Grundfesten erschüttern sollte.
Plötzlich, ohne Vorwarnung, brach die Wut des Meeres los. Eine gewaltige Sturmflut, entfesselt durch einen unerbittlichen Orkan, raste auf die Küste zu. Die Wellen türmten sich wie riesige, schäumende Berge und schlugen mit ohrenbetäubendem Getöse gegen die Hafenmauern. Die Stadt, die sich in trügerischer Sicherheit wiegte, war unvorbereitet auf das Unheil, das sich anbahnte.
Die ersten Wellen durchbrachen die schützenden Dämme sowie die Stadtmauer, und das Wasser strömte in die Straßen, als wäre es ein lebendiges Wesen, das sich seinen Weg bahnte. Die Bewohner, die in ihren Häusern schliefen, wurden jäh aus ihren Träumen gerissen. Schreie hallten durch die Gassen, während die Menschen verzweifelt versuchten, ihre Besitztümer zu retten. Die Wellen rissen an den Fundamenten der alten Steinbauten, die über Jahrhunderte hinweg den Stürmen getrotzt hatten.
Die prächtigen Speicher, die einst voller Waren waren, wurden von der Flut überflutet, ihre Wände zerbrachen teilweise unter dem Druck des Wassers. Die hölzernen Bauten, die am Hafen standen, knarrten und ächzten, während sie dem unbarmherzigen Ansturm nachgaben. Viele Häuser, die stolz in der Abenddämmerung standen, wurden von den Wellen erfasst und in ein Chaos aus Trümmern und Schutt verwandelt. Ziegel und Holzsplitter flogen durch die Luft, während das Wasser unbarmherzig alles mit sich riss.
Die Stadtwache, die in der Nacht patrouillierte, konnte nur hilflos zusehen, wie die Flut die Straßen überflutete. Die Menschen in Sewamund waren nicht ausreichend vorbereitet; sie hatten die Zeichen der Natur ignoriert, die ihnen schon lange vor dem Sturm zugeflüstert hatten. Panik brach aus, als die Wellen höher und wütender wurden, und die Stadt in ein Chaos stürzte.
Der ganze Stolz der Stadt, der majestätische Leuchtturm, der seit Jahrhunderten den Seeleuten als Orientierung diente, wurde von der Wucht der Wellen erfasst. Mit einem ohrenbetäubenden Krachen stürzte er in sich zusammen und ließ nur Trümmer und Schutt zurück, die im Wasser trieben. Die Brücken, die die Stadt mit dem Umland verbanden, wurden ebenfalls schwer beschädigt. Einige brachen unter dem Druck der Flut zusammen, während andere sich gefährlich neigten und drohten, in die tosenden Fluten zu stürzen.
Inmitten des Chaos kämpfte Patriarch Aurelio van Kacheleen, ein Mann von unerschütterlichem Mut, gegen die Wellen. Er hatte sich als Hafenmeister über die Jahre hinweg stets in den Dienst der Stadt und seines Handelshauses gestellt und war bekannt für seine unerschütterliche Hingabe an die Stadt Sewamund. Als die Wellen über die Hafenmauern schlugen und die Straßen in ein reißendes Wasser verwandelt wurden, sah er einen kleinen Jungen, der verzweifelt um Hilfe rief.
Der Junge war in einen umherwehenden Banner verwickelt, der ihn wie ein gefangenes Tier festhielt und ihn unbarmherzig in die Tiefe eines Kanals zog.
Aurelio zögerte nicht. Mit einem mutigen Sprung stürzte er sich ins Wasser, das eisig und wild war. Die Strömung war stark, und die Wellen schlugen über ihm zusammen, doch sein Herz war fest entschlossen. Er kämpfte gegen die Kälte und die Dunkelheit an, seine Augen suchten verzweifelt nach dem Jungen. Schließlich entdeckte er ihn, nur wenige Schritte entfernt, der verzweifelt nach Luft schnappte. Beherzt griff er nach dem Knaben und konnte ihn im letzten Moment greifen. Durch Efferds Zuspruch gelangen Beide wieder an die Wasseroberfläche und konnten gierig nach Luft schnappen. Frische Luft strömte nun in Ihre geschundenen Lungen und ließ ihr beider Leben nicht unnütz in den Fluten untergehen. Aurelio schaffte es, sich und den Jungen mit letzter Kraft aus den Fluten zu retten.
Es stellte sich bei näherer Betrachtung des Banners schnell heraus, dass es das Wappen des Streitebeckers war, welches die Götter ihm hier zugeweht hatte, scheinbar um das Leben eines Sewamunder Knaben zu nehmen. Aurelio erkannte in diesem Banner, nach dem Einsturz des Leuchtturms und der sich daraus auf ihn auswirkenden Hoffnungslosigkeit, ein weiteres Zeichen der Götter. Als wollten Sie ihm Mut zusprechen und zeigen, wenn man nur selbst sein Schicksal in die eigene Hand nimmt, auch wenn der Streitebecker derzeit als allmächtiger Feind wirkte, dann hatte man eine Chance zu bestehen und überleben. Er, der Patriot Aurelio, rettete dem Jungen, der sich in den Fängen des Streitebeckers Banner befand, zweifelsfrei das Leben. Das gab ihm neuen Mut und was noch viel wichtiger war, Zuversicht. Er beschloss von diesem Zeichen der Götter, sicherlich von diesem Zeichen Efferds, dem Lilienrat und den Bürgern Sewamunds zu berichten. Ob das Banner zukünftig als Schandbanner genutzt werden sollte oder wie es sich gezierte, dem Streitebecker bei der nächsten Gelegenheit, sozusagen als Geste des guten Willens überreichen zu können, wollte er noch entscheiden.
Palazzo Aurelio
Im prächtigen Palazzo Aurelio, dem Zuhause der angesehenen Familie van Kacheleen, saß die schöne Svelinya die Ihren Vater Aurelio besuchen wollte. Sie war umgeben von den sanften Klängen des Lebens, das in den Hallen des Palastes pulsierte. Doch plötzlich durchbrach ein ohrenbetäubendes Krachen die Stille, als die Sturmflut mit einer Wucht in die Stadt einbrach, die niemand für möglich gehalten hätte.
Das Wasser drang mit unbarmherziger Kraft in das Erdgeschoss des Handels- und Bankhauses Neven van Kacheleen ein. Die wertvollen Dokumente, die das Vermögen der Stadt sicherten, wurden in einem Augenblick in die Fluten gerissen. Möbel und Waren schwammen wie Spielzeuge in einem tobenden Meer, während die Wellen alles zerstörten, was noch dort war. Die Schreie der Angestellten hallten durch die Gänge, als sie verzweifelt versuchten, das Unvermeidliche abzuwenden.
Svelinya, von der plötzlichen Flut überrascht, fühlte, wie das Wasser schnell anstieg und sie in einen Strudel der Hilflosigkeit und Todesangst zog. Die kalte Umarmung des Wassers ergriff sie, zog sie mit brutaler Gewalt unter die Oberfläche. In diesem Moment, als die Dunkelheit sie umhüllte, kämpfte sie verzweifelt gegen die Panik an. Ihre Gedanken rasten, während sie versuchte, sich zu orientieren, doch das Wasser hielt sie fest, als wäre es ein lebendiges Wesen, das sie nicht loslassen wollte. Der Todeskampf hatte begonnen, und die Welt über ihr schien zu verschwinden.
Doch das Schicksal hatte andere Pläne. Inmitten des Chaos war es ein schwerer Mohagonischreibtisch, Symbol ihrer einstigen Sicherheit, wurde zum Werkzeug ihres Untergangs. Er fiel, als die Flut wütete, und zertrümmerte ihr Bein, während sie verzweifelt versuchte, sich zu befreien. Der Schmerz war unerträglich, und die Hoffnung schien zu schwinden, als sie unter der Wasseroberfläche gefangen war.
In diesem Moment, als die Dunkelheit sie zu verschlingen drohte, spürte Svelinya einen Hauch von Licht, einen flüchtigen Zuspruch der Götter, der ihr die Kraft gab, sich zu befreien. Mit aller verbliebenen Energie kämpfte sie gegen die Schwere des Schreibtisches an, gegen die Kälte des Wassers, das sie festhielt. Schließlich, mit einem letzten, verzweifelten Ruck, gelang es ihr, an die Oberfläche zu brechen.
Die frische Luft strömte in ihre Lungen, und sie wurde von den Bediensteten des Palazzos ergriffen, die sie mit aller Kraft aus den klammen Fängen des Wassers zogen. Ihre Rettung war dramatisch, ein Wettlauf gegen die Zeit, und während sie in die Sicherheit der Arme ihrer Retter fiel, wusste sie, dass sie zwar am Leben war, aber ihr rechtes Bein wirkte nicht mehr wie ein Teil von ihr. Sie wurde ohnmächtig.
Vor dem Palazzo Aurelio, Stunden nach der Flutwelle
Draußen vor dem Palazzo Aurelio versammelten sich viele, durch die tosende Flutwelle geschundene, aber noch lebende Menschen. Das brennende Licht hoch oben im Turm des Palazzos lockte sie an. Es spendete ihnen irgendwie Hoffnung und ließ sie in dieser eiskalten tödlichen Situation an die Götter glauben, dass es wohl doch noch eine Zukunft geben kann. Velaria, die Hausherrin schickte einige Angestellte an, aus dem oberen Stockwerken Decken zu holen und unter den frierenden und scheinbar hoffnungslosen Menschen zu verteilen. Schnell sprach es sich in der unmittelbaren Nähe des Palazzos herum, dass inmitten des Chaos das Praioslicht schützend strahlen würde. Immer mehr Menschen fanden so den Weg zum Palazzo.
Eine aus mehreren kleinen Wunden blutende Mutter kam mit ihren beiden Kindern die Straße hinauf. Immer wieder musste sie dem Unrat ausweichen, welche die Flut wie Sandkörner im Wind mit sich gerissen hatte und wahllos in den Straßen verteilte. Eines der Kinder schaute apathisch und trottete stumm neben seiner Mutter her. Das kleine Mädel auf ihrem Arm klammerte sich zitternd an ihr fest. Nicht bereit, auch nur einen Atemzug loszulassen. Der Blick war hoch oben auf das Licht im Turm des Palazzos Aurelio gerichtet. “Mama, wird Vati wiederkommen?” ihre Stimme war von vielen Schlurzen schon ganz wund. “Mama, wieso ist Vati nicht da?”
Kalte und lautlose Tränen rannen von Tsadalitas Wangen. Sie konnte es noch nicht fassen, dass Bormeus nicht mehr da war. Sie hatten immer und immer wieder seinen Namen gerufen und inständig gehofft, er würde aus den Tiefen des Kanales wieder hervor geschwommen kommen. Viele Gebete zum stürmischen Herren Efferd, von ihr in die Sturmwogen gerufen. Er war doch ein so guter Schwimmer. Jäh wurde sie wieder aus diesen fürchterlichen Sekunden der Erinnerung gerissen, wo die einst so stabile Brücke unter ihnen nachgab und sie es mit den Kindern gerade noch auf die andere Seite schaffte und dabei verletzt wurde, aber Ihr geliebter Bormeus wurde von der aufbrechenden Brücke in die reißenden und unbarmherzigen Fluten gerissen. Aus ihrem Leben gerissen.
“Mama, wieso antwortest Du nicht?”
Schweigend kamen die Drei vor dem Palazzo an.
Während der Flüchtlingskrise ausgelöst durch den Streitebecker waren sie nach Sewamund geflüchtet und hatten bei Tante Valeria, wie sie von vielen aus der Umgebung einfach nur liebevoll genannt wurde, ihre täglichen Mahlzeiten abgeholt und ein wenig Zeit verbracht. Hier konnten man sich noch gestern in der größten Not für einen kurzen Moment zumindest etwas Zuversicht holen. Nun fühlten sie sich mit Ihren Kindern hier erstmal sicher. “Schatz, sieh doch”, und sie zeigte mit ihrem ausgestreckten Arm auf das Licht oben im Turm, “das Licht leuchtet dort oben, die Götter haben uns nicht vergessen.”
Die kleine Rubia drückte sich noch fester an sie. Große Sorgen hatte Tsadalita auch um ihren Ältesten. Er hatte alles mit ansehen müssen. Seitdem schwieg er.
Velaria van Kacheleen, wahrlich nicht bekannt für große Reden oder dergleichen, sprach in ruhigem Ton, so dass die ihr am nächsten stehenden Bürger Sewamunds ihre Worte gerade so hören konnten.
"Lasst uns das bekannte Sewamunder Lied singen. Es wird uns hoffentlich allen Mut und Hoffnung geben.” Dann stimmte Velaria an.
Von Farsid bis hin zum Sewak,
vom Phecanowald bis hin zum Strand,
gedeiht und blüht ein herrlich' Land
rund um die wunderschöne Stadt.
Ein Prachtjuwel mit gold'nem Rand,
ist Sewamund, Stadt und Umland;
Ein Prachtjuwel mit gold'nem Rand,
ist Sewamund, Stadt und Umland!
Dort tost die See, dort heult der Wind,
dort braust's an Deich und Strand,
doch ruhig wirkt und schafft das Volk,
das Volk in Dorf und Stadt.
Ein Prachtjuwel mit gold'nem Rand,
ist Sewamund, Stadt und Umland;
Ein Prachtjuwel mit gold'nem Rand
ist Sewamund, Stadt und Umland
Dort lebt solide Gediegenheit,
der Wille, hart wie Stahl,
dort fühlt das Herz, was die Zunge spricht,
mit direktem, schlichtem Wort.
Ein Prachtjuwel mit gold'nem Rand,
ist Sewamund, Stadt und Umland;
Ein Prachtjuwel mit gold'nem Rand
ist Sewamund, Stadt und Umland!
Schnell stimmten die ersten verunsicherten Seelen mit an und nach und nach folgten weitere Menschen und sangen mit. Erst zaghaft, dann doch mit festerer Stimme. Die Bediensteten stellten immer mehr Kerzen in die Fenster des Palazzos Aurelio und sorgten so für eine spezielle Stimmung. Die Lichter funkelten im Wind und einige gingen immer wieder aus. Aber die Menschen ließen sich davon nicht beirren. Die Diener entzündeten die Lichter und trotzten so auf ihre Weise den Mächten der Natur. Ein besonderes Gefühl durchdrang den einen wie auch anderen, viele Tränen flossen. Schließlich waren kostbare Leben in dieser katastrophalen Nacht genommen worden und Existenzen zerstört. Was blieb, war nun ein kleiner Funke Hoffnung im horrenden Ausmaß dieser unheilvollen Zerstörung.
Rondrian und Lorion IV. Vistelli
Rondrian Vistelli, Hauptmann der Sheniloer Stadtgarde, stand mit verschränkten Armen an einem Fenster des Palazzo Vistelli in der Sewamunder Altstadt. Der Regen peitschte unablässig gegen die Scheiben und das dumpfe Tosen der Flutwellen, die unaufhaltsam gegen die Sewakstadt rollten, war in der Ferne zu hören, kam aber irgendwie immer näher. Neben ihm stand sein Neffe Lorion, jung und voller Tatendrang, bereit, den Befehlen seines Onkels zu folgen – auch wenn sie in letzter Zeit zunehmend verwirrend waren.
„Nun, Lorion, wie ich schon immer sagte: Ein guter Hauptmann wird nicht nass, wenn er den Regen ignoriert“, sagte Rondrian mit ernster Miene und nickte, als hätte er einen weisen Gedanken ausgesprochen. Der Junge nickte eifrig, obwohl er nicht sicher war, was er daraus lernen sollte.
Rondrian drehte sich abrupt um, seine Lederkleidung knarzte laut, und stapfte mit schweren Schritten in Richtung Tür. „Wir haben keine Zeit zu verlieren! Jemand sollte die Schiffe sichern, bevor die Flut sie mit sich reißt!“ Mit übertriebener Geste zog er seinen Mantel enger um sich und schritt hinaus in den Sturm. Lorion folgte ihm, bemüht, Schritt zu halten.
Draußen tobte das Chaos. Wasserströme schossen durch die Straßen, Bäume bogen sich gefährlich im Wind und immer wieder krachten Trümmer herab. Doch Rondrian ließ sich nicht beirren. „Achtung, Lorion! Im Krieg gibt es keine Ausreden! Ein Sturm ist nur eine Ablenkung – und eine gute Ausrede, seine Stiefel nicht zu putzen.“ Er zwinkerte dem Jungen zu, der, mit nassen Haaren im Gesicht, zu lachen versuchte.
Plötzlich ein lautes Krachen. Eine Matrosenunterkunft, nur einige Schritte entfernt, wurde von der Gewalt des Wassers erfasst. Teile des Gebäudes brachen zusammen, und Balken und Steine stürzten auf die Straße. Rondrian, der immer in Bewegung war, wich den Trümmern mit einem unerwarteten Ausweichmanöver aus, das eher nach einem glücklichen Stolpern aussah. „Siehst du, Lorion? Man muss immer einen Schritt voraus sein“, rief er triumphierend, als er sich wieder aufrichtete und unbeschadet zwischen den Trümmern stand.
Doch das Schicksal war nicht ganz so gnädig. Eine Windböe fegte plötzlich heran und riss ein herumfliegendes Schild aus einer nahen Werkstatt mit sich. Rondrian, der noch versuchte, sich auf die Umgebung zu konzentrieren, bemerkte es zu spät. Das schwere Holzschild prallte gegen seinen Arm und riss ihm dabei eine tiefe Wunde über den Unterarm, das Blut lief rasch in Strömen hinunter. Lorion stürzte herbei, doch Rondrian lachte laut auf, als wäre nichts geschehen. „Ach, es ist nur eine Schramme, Junge. Die hab ich mir schlimmer geholt, als ich einmal versuchte, das Katzenproblem in Shenilo zu lösen.“
Trotz seiner Tapferkeit und seiner scherzhaften Art spürte Rondrian, wie der Schmerz seinen Arm hinauf kroch. Er biss die Zähne zusammen und versuchte, die Wunde mit einem Stück Stoff zu versorgen, das er beiläufig von einem vorbeischwimmenden Kleidungsstück abriss. „So, das wird reichen. Jetzt müssen wir zum Hafen, bevor das nächste verdammte Schiff kieloben im Wasser landet.“
Entschlossen marschierte Rondrian weiter durch die Überschwemmungen, Lorion folgte ihm dicht auf den Fersen. Der junge Neffe blickte ehrfürchtig auf seinen Onkel, der trotz seines Alters, seiner schmerzenden Wunde und der bedrohlichen Naturgewalten niemals aufgab. Rondrian war für ihn ein Held.
Als sie schließlich den Hafen erreichten, stützte sich Rondrian schwer auf eine zerbrochene Kiste, das Gesicht schmerzverzerrt, doch mit einem breiten Grinsen. „Ein weiterer Tag, an dem Efferd uns prüft, Lorion. Und weißt du was? Wir bestehen immer, weil wir Vistellis sind.“ Mit diesen Worten trat er vor, der Wunde kaum Beachtung schenkend, und half den Sewamundern dabei, ihr Hab und Gut zu sichern und einzusammeln.
Amelthona und die Kräuterfrau
Amelthona Amarinto kämpfte sich durch das aufgewühlte Wasser, das inzwischen fast hüfthoch die Straßen von Sewamund überflutete. Der Sturm peitschte unermüdlich Regen und Wind in ihr Gesicht, während die Wellen unbarmherzig gegen die Häuser der Hafenstadt drückten. Die junge Ordensritterin spähte angestrengt durch die Grautöne der tosenden Flut nach einem Zeichen von Leben.
Plötzlich sah sie es – ein blasses Gesicht, kaum sichtbar zwischen den treibenden Trümmern. Eine ältere Frau, halb im Wasser versunken, klammerte sich verzweifelt an einen umgestürzten Holzbalken. Es war Emeranda, die alte Kräuterfrau, die in einer kleinen Hütte nahe des Flusses lebte. Amelthonas Herz setzte einen Schlag aus. Sie musste sofort handeln.
„Haltet durch, gute Frau!“, rief sie mit aller Kraft gegen den Lärm des Sturms an. Ohne auf eine Antwort zu warten, zog sie die Wäscheleine hervor, die sich auf dem Weg um ihr Bein geschlungen hatte. Sie knotete ein Ende um ihre Taille und befestigte das andere an einem Pfeiler, der noch fest in den Boden verankert war.
Mit schnellen, geschickten Bewegungen kämpfte sie sich durch das reißende Wasser zu Frau Emeranda. Jeder Schritt war mühsam, das Wasser drängte sie zurück, und der Wind schien mit jeder Böe stärker zu werden. Doch Amelthona ließ sich nicht aufhalten. Ihr Blick war fest auf die alte Frau gerichtet, die mit schwindenden Kräften gegen das Treibgut ankämpfte.
Als sie endlich bei ihr ankam, griff Amelthona nach Frau Emerandas Arm. „Ich habe Euch“, sagte sie mit fester Stimme und wickelte die Wäscheleine schnell um den Leib der alten Frau. „Haltet Euch fest!“
Frau Emeranda war blass vor Angst und Erschöpfung, doch sie nickte schwach und umklammerte die Leine mit ihren zittrigen Händen. „Ich... ich weiß nicht, wie lange ich noch durchhalte“, murmelte sie, ihre Stimme kaum hörbar über das Rauschen der Flut.
„Ihr schafft das“, antwortete Amelthona entschlossen. „Wir machen das zusammen.“
Mit aller Kraft zog die junge Ordensritterin an der Wäscheleine, kämpfte gegen die Strömung und die Wellen an, die immer wieder drohten, sie beide umzustoßen. Zentimeter für Zentimeter bewegten sie sich in Richtung des Pfeilers, den Amelthona zuvor gesichert hatte. Das Wasser schäumte um sie herum, und das Treibgut schlug gegen ihre Beine, aber sie ließ nicht locker.
Amelthona konnte spüren, wie Frau Emeranda immer schwächer wurde, doch sie verstärkte ihren Griff und rief über den Sturm hinweg: „Nur noch ein kleines Stück!“
Endlich, nach scheinbar endloser Anstrengung, erreichten sie den Pfeiler. Amelthona zog die alte Frau vorsichtig aus dem Wasser und auf eine halbwegs stabile Erhöhung, die das Wasser noch nicht völlig verschlungen hatte. Beide sanken erschöpft auf den Boden, während das Wasser weiter an ihnen vorbeirauschte.
Amelthona atmete schwer und sah Frau Emeranda besorgt an. „Geht es Euch gut?“
Die alte Frau nickte schwach, zitternd und durchnässt, aber am Leben. „Du... du hast mich gerettet!“, flüsterte sie, während sich ein schwaches Lächeln auf ihren Lippen abzeichnete.
Amelthona, ebenfalls erschöpft, aber erleichtert, lächelte zurück und nahm ihre Hand. „Es ist noch nicht vorbei, aber wir sind in Sicherheit. Wir sollten in ein Obergeschoss gehen, dort ist es sicher.“
Der Sturm tobte weiter über die Stadt, doch für einen Moment war alles, was zählte, dass sie beide der tödlichen Umklammerung des Wassers entkommen waren.
Tsaida Tribêc
Als der Sturm Sewamund in seine gewaltigen Klauen nahm, war Tsaida Tribêc, Matriarchin des Hauses Tribêc, längst nicht mehr in den Mauern ihres Palazzos zu finden. Statt sich hinter dicken Mauern zu verbergen, hatte sie es vorgezogen, sich direkt dem tobenden Unwetter zu stellen. Kapuze tief ins Gesicht gezogen, stand sie am Ufer des Kanals, der hinter dem Palazzo Tribêc verlief, und blickte auf die chaotischen Szenen, die sich dort abspielten.
Der Sturm peitschte mit unbarmherziger Kraft über das Wasser, die Wellen schlugen gegen die steinernen Ufer und trugen alles mit sich fort, was nicht fest verankert war. Zwischen den wilden Wellen sah sie plötzlich ein kleines Schiff, das sich unkontrolliert drehte, die Taue gelöst, völlig den Launen des Sturms ausgeliefert. Es drohte, gegen die alte Stadtmauer zu krachen und zertrümmert unterzugehen.
Mit entschlossenem Blick rief Tsaida den verbliebenen Dienern zu, die versuchten, sich gegen den Sturm zu stemmen. „Holt Seile! Dieses Schiff ist zu wertvoll, um es den Fluten zu überlassen!“
Ohne eine Antwort abzuwarten, machte sie sich selbst an die Arbeit. Der Regen prasselte auf sie herab, das Wasser schwappte bereits über ihre Stiefel, als sie sich mühsam den Weg zum nahegelegenen familieneigenen Poller bahnte. Mit geübten Händen löste sie ein Tau und warf es in Richtung des losgerissenen Schiffes, wo es sich in der Reling verfing. Mit aller Kraft zog Tsaida am Seil, ihre Hände brannten vor Anstrengung, während die Wellen unermüdlich gegen die Planken schlugen. Deriago Dellinger kam herbei, packte mit am Seil und half, das Boot wieder unter Kontrolle zu bringen. Finger für Finger gewannen sie die Oberhand, bis es ihnen gelang, das Gefährt sicher an der Mauer festzubinden.
Kaum hatten sie es geschafft, als Tsaida ein lautes Klirren hinter sich vernahm. Ein weiteres Unglück bahnte sich an. Ein Sturmfenster am Palazzo Vistelli war losgerissen und drohte fortgeweht zu werden. Ohne Zögern schritt Tsaida durch das Wasser, das auf dem Hof stand, auf das defekte Fenster zu, das an einem letzten Scharnier hing und wild im Wind schlug.
„Schnell, bevor es zerstört wird!“ rief sie ihrem herbeieilenden Diener zu. Sie selbst packte das schwere Fenster mit bloßen Händen, stemmte sich gegen den Wind und hielt es fest, bis Deriago es mit einem dicken Seil sicherte. Mit schweißnasser Stirn und Atem, der ihr schmerzend in der Kehle brannte, sah Tsaida dabei zu.
Die d’Illumnesto
Amelthona d’Illumnesto, Oberhaupt des eigentlich pertakischen Hauses d’Illumnesto, und ihr Sohn Solvolio verließen gerade den Palazzo Amarinto in der Altstadt, um ihr Quartier im von den Amarinto besetzten Palazzo Wiesen-Osthzweyg aufzusuchen. Schon als sie aufgebrochen waren zu der Besprechung mit den hier anwesenden Vertretern der Amarinto hatte dr Sturm getost, doch war er immer stärker geworden. Amelthona klammerte sich an ihren Sohn, der seine Mutter schützend im Arm hielt. Vom nahen Kai hörten sie die harte Brandung auf die Speicher treffen, als würde Stein bersten und brechen. Dann raste auch bereits das Wasser heran. Amelthona schrie, presste sich an Solvolio, der seine Mutter mit sich zog. Kaltes Meerwasser strömte von den Werften um die Speicher, Häuser und Palazzi herum und ergoss sich unerbittlich in die dahinterliegenden Straßen.
Die Cavalliera und ihr Sohn wichen in die Turmstraße zurück, das Wasser presste sie unbarmherzig an die Häuserwände, schob sie voran. Solvolio hielt die Hand seiner Mutter fest, die sich wiederum gegen die Wassermassen stemmte. “Mutter, halt dich fest!” Die Cavalliera nickte nur und fasste stärker zu. Holz, vermutlich ein Tisch, trieb heran und wurde ihr mit Wucht in die Seite gedrückt. Sie keuchte. Solvolio zog sie heran. “Wir müssen in ein höheres Geschoss!” Sie deutete auf den Palazzo Wiesen-Osthzweyg. “Dort, der Innenhof!” Solvolio verstand, selbst wenn die Türen verschlossen waren, das Wasser sie nicht mehr einließ, so konnten sie über Vorsprünge vielleicht hochklettern. Er war völlig durchnässt, das Wasser stand mittlerweile hüfthoch und stieg weiter. Doch Treibgut, Bänke, Balken sogar eine Droschke versperrten den Zugang zum Innenhof, trieben in dem hüfthohen Wasser. Amelthona kämpfte sich voran. “Mutter, wir müssen klettern!”, rief Solvolio über das Tosen von Wind und Wogen hinweg. “Klettern?”, entfuhr es der Cavalliera - glücklicherweise trug sie zur Besprechung mit den Amarinto kein Kleid. Solvolio wuchtete sich hoch, zog sich an Brettern empor. Dabei zog er sich Schrammen und Schnitte zu - darum würde er sich später kümmern. Amelthona krallte sich an den Holzbalken fest, versuchte sich nicht von den Wassermassen mitreißen zu lassen. “O Efferd, Launischer, sei uns gnädig!”, betete sie, schluckte dabei Wasser und hustete. “Mutter, ich ziehe dich hoch!” Sie packte Solvolios Hand und so krabbelte sie und wurde gleichzeitig hochgezogen. Jetzt saßen sie auf diesem Bollwerk aus schwankendem Holz. Das Wasser zerrte an den einzelnen Elementen. “Wir dürfen hier nicht bleiben”, meinte sie. “Dort!” Sie zeigte auf einen Vorsprung, ein kleines Dach über einem Gesindezugang, der am nächsten lag. Darüber befand sich auch ein Fenster, klein nur, aber von dort konnten sie ins Haus.
Nacheinander rutschten Amelthona und Solvolio hinunter in das Wasser, das auch im Innenhof merklich anstieg. Oh, diese Verwüstungen. Regen, Wind, Wellen, alles durchnässte sie, zerrte an ihnen, sie mussten dagegen ankämpfen. Im Haus waren bestimmt Bedienstete. “Hilfe!”, schrie Amelthona. “Hilfe!” Doch ihre Stimme konnte das Tosen von Wind und Wellen nicht übertönen. Solvolio sparte sich seine Kräfte und zerrte seine Mutter zu dem Eingang. Die Überdachung war flach, hier konnten sie vor den Wassermassen erst einmal Sicherheit finden. Zumindest von jenen, die von unten kamen. Er streckte die Arme aus, krallte sich am Vorsprung fest und stemmte sich aus dem hüfthohen Wasser mit verbliebener Kraft hoch, um sich dann auf diesen Vorsprung zu ziehen. Vorsichtig, denn das Dach war vor Nässe glatt, drehte er sich herum. “Mutter, jetzt!” Er streckte ihr die Hand hin, sie ergriff sie und mit letzter Kraft zog sie sich ebenfalls hoch. Beide ließen sich gegen die Hauswand fallen, lehnten nun an der nasskalten Mauer. Unter ihnen schwappte das höher steigende Wasser gegen die Hauswand und die Tür. Doch hier oben waren sie vor den Wassermassen sicher. Vorerst.
Orleane ya Pirras im Hospital
Schon als der Sturm stärker wurde und die ersten Gerüchte über Überflutungen die Runde machten, begab sich Orleane ya Pirras ins Hospital, um dort mit Rat und Tat zu helfen. In ihrer Begleitung waren die vier Soldaten der Falcones Aurea sowie die Maga Tharinda della Pena, welche ihr Vater ihr zum Schutz geschickt hatte. Immer mehr und mehr Verletzte wurden ins Spital gebracht und die schlimmsten Befürchtungen bestätigten sich. Der Leuchtturm war eingestürzt, ganze Straßenzüge standen unter Wasser und dazu tobte ein gewaltiger Sturm durch die Gassen. Das Wasser war schon bis zum Rauchsalon Meridiana vorgedrungen und hatte bereits die Fassade des Gebäudes beschädigt. Nicht mehr lange und die Fluten würden vielleicht auch das Spital erreichen. Einige Bürger hatten bereits damit begonnen, Barrikaden gegen die Wassermassen zu errichten, und Orleane hatte den Soldaten befohlen, die braven Bürger dabei zu unterstützen. Sie half dabei, die Verletzten zu verbinden, Wunden zu versorgen und Trost zu spenden.
Auf einmal erklang ein Ruf von hinten. “Die Salbe, die Wirselkrautsalbe geht uns aus. Orleanes Kopf ruckte in die Richtung, aus der der Ruf erschallte. “Im Palazzo Amarinto befindet sich noch welche. Wir kamen noch nicht dazu, alles zu verteilen”, rief Orleane gegen die Geräuschkulisse im Spital. “Und der Tempel der Gütigen hat bestimmt auch noch Vorräte. Wir werden sie holen.”
Tharinda della Pena hielt inne. “Wir werden was?” Orleane warf sich bereits einen schweren Mantel eines Hafenarbeiters, der hier behandelt wurde, um. “Euer Herr Vater…“ ”...ist nicht zugegen und ihr seid zu meinem Schutz hier. Also kommt, Gelehrte Dame. Wir müssen einen Umweg über die Brücke am Grangorer Tor gehen. Das Wasser ist zu weit vorgedrungen und der direkte Weg wäre zu gefährlich.” Sie wartete kurz, bis ihre Bedeckung zu ihr aufgeschlossen hatte, nickte ihnen zu und öffnete die Tür. Ein heftiger Windstoß riss ihr diese aus der Hand und beinahe wäre sie vom Türblatt am Kopf getroffen worden. Dem Wind folgte der Regen, der allen ins Gesicht schlug und sie in kürzester Zeit durchnässte. Selbst der schwere Mantel war nur ein kurzweiliger Vorteil. Gegen den Wind und die Feuchtigkeit ankämpfend bewegte sich die kleine Gruppe zum Grangorer Tor. Es standen keine Wachen mehr am Tor und ein Fuhrwerk hatte die Brüstung etwa in der Mitte der Brücke an der linken Hand beschädigt und drohte, in die Fluten des Sewak zu stürzen. Mit Mühe und Not versuchten die Fuhrleute, dies zu verhindern. Orleane passierte diese Szenerie, da traf ein kräftiger Schlag die Brücke. Kurz war das Bersten von Holz zu hören und dann lief ein Zittern durch die Brücke. Ein Knirschen war zu hören und ein Geräusch, als ob Stein gegen Stein kratzte. Alle verharrten und dann spürten sie einen weiteren Schlag und das Zittern wurde noch stärker. Das Fuhrwerk bekam Übergewicht und fiel mit viel Getöse in die Fluten des jetzt reißenden Stroms. Mit einem Mal zeigten sich kleine Risse auf dem Weg, immer größer und länger werdend. Ein weiterer Schlag und dort, wo das Fuhrwerk über die Brüstung ging, brach jetzt mehrere Steine aus dieser heraus und sie fielen mit lautem Rumpeln ins Wasser. Der Boden begann sich zur Seite zu neigen und Orleanes begann zu rennen. Sie stürmte an Tharinda vorbei, griff ihre Hand und zog sie den Weg zurück, den sie gekommen waren. Sie schrie den Soldaten zu, ihnen zu folgen. Von Angst getrieben, rannten sie, verfolgt von dem Krachen und Bersten von Steinen und dem Schreien der Menschen, die nicht schnell genug waren. Sie stürmten durch das Tor und fielen schwer atmend und hustend zu Boden.
Orleane warf einen Blick zurück und sah mit Entsetzen, dass ein Teil der Brücke in Höhe eines Pfeilers eingestürzt war. Sie konnte nicht sehen, wie viele verunglückt waren, aber sie hörte Schmerzensschreie der Überlebenden. Zitternd stand Orlene auf. Sie sprach ein kurzes Gebet an den Unausweichlichen und sah, dass niemand aus ihrer Gruppe ernsthaft zu Schaden gekommen war. “Kommt…“, sagte sie mit fester Stimme, “... unsere Hilfe wird benötigt.”