Briefspiel:Der Herzog des Westens
23. Travia 1046 BF, Gut Cusimosruh am Norderkoog nördlich von Sewamund
Zusammenfassung: Herzog Cusimo Garlischgrötz trifft mit einem Heer in der Baronie Sewamund ein und zitiert die Konfliktparteien am 23. Travia zu einer Unterredung zu sich. Als neugewähltes, vorübergehendes Stadtoberhaupt erscheint Dimiona della Carenio in Begleitung ihrer Ratgeber vor dem Herzog.
Die Delegation des Lilienrats bestehend aus Sturmfriede ter Beer, Aurelio van Kacheleen und Dimiona della Carenio wurde durch das Tor des Gehöfts geführt, die Schritte hallten auf feinem Kies wider, während sie auf das gewaltige Zelt des Herzogs zuschritt. Der Hof am Rande der Stadtmark Sewamunds, sonst einfach und unscheinbar, hatte sich in ein prunkvolles Spektakel verwandelt. Überall, wohin die Sewamunder blickten, sahen sie den Glanz und die Macht des Herzogs. Schwarze und weiße Zelte, mit goldenen und silbernen Stickereien verziert, bildeten die Kulisse für diese Audienz, doch das größte Zelt, das des Herzogs, überragte alle anderen. Seine prächtigen Banner, die das Lilienwappen des Hauses Garlischgrötz und des Herzogtums Grangor sowie der Grafschaft Phecadien zeigten, wehten im Wind und erinnerten jeden daran, wer hier das Sagen hatte. Links und rechts standen 12 mal 12 Soldaten in makelloser Formation. Die Hälfte gehörte zur Phecadigarde, der Eliteeinheit des Herzogs, angeführt von Esquiria Luciana Amarinto. Die andere Hälfte bestand aus Söldnern der Goldenen Legion, deren Rüstungen im Licht der Sonne wie geschmolzenes Gold glänzten, angeführt von Cavalliera Zelda von Nervuk. Die Sewamunder spürten, wie die Blicke der Soldaten auf ihnen ruhten, während sie durch die Reihen schritten, als wären sie von lebendigen Mauern aus Stahl umgeben. Der Anblick der gewaltigen Streitmacht ließ die Mitglieder der Delegation unruhig werden; der Herzog ließ keine Gelegenheit aus, seine Macht zur Schau zu stellen.
Schließlich kamen sie vor dem Zelt des Herzogs zum Stehen. Der Eingang öffnete sich mit leisem Rascheln und Baronet Pandolfo Pirialdo, Hofseneschall des Herzogs, trat heraus. Gekleidet in edle Stoffe nach Vinsalter Schnitt und geschmückt mit goldenen Verzierungen, musterte er die Delegation mit einem kühlen, abschätzigen Blick. Seine Haltung strahlte absolute Kontrolle und Würde aus, als er sie mit einem eleganten, aber unmissverständlichen Wink ins Zelt hineinführte.
Im Innern des Zeltes fühlte sich die Atmosphäre noch drückender an. Vor ihnen, auf einem erhöhten Podest, saß Herzog Cusimo Garlischgrötz. Sein Thron war reich verziert, seine schwarzweiße Robe mit Silberfäden durchzogen und auf seinem Haupt ruhte die Herzogenkrone, während die Kronen der Markgrafschaft Windhag und der Grafschaft Phecadien auf samtenen Kissen neben ihm ausgestellt waren. Der Herzog selbst saß regungslos da, seine Augen ruhten neugierig auf der Delegation, während ein kaum merkliches Lächeln seine Lippen umspielte. Besonders lange musterte er Dimiona della Carenio, die unzweifelhaft die Delegation der Stadt anführte.
Neben ihm standen seine engsten Berater: Comto Zandor von Nervuk, der Statthalter des Herzogs, mit strengem und prüfendem Blick; Baron Merkan von Farsid, der Colonello der Phecadigarde, ein imposanter Mann in schwerer Rüstung, der allein durch seine Präsenz eine Aura unerschütterlicher Autorität ausstrahlte. Die herzogliche Schatzmeisterin, Leonora Tribêc, war ebenfalls anwesend, ihre scharfen Augen glitten über die Delegation, als beurteilte sie ihren Wert in Gold.
Die Stille war überwältigend, als Baronet Pandolfo Pirialdo einen Schritt vortrat. Er atmete tief ein, hob den Kopf und sprach mit einer klaren, durchdringenden Stimme, die jeden Winkel des Zeltes erfüllte: "Seid ehrerbietig in Gegenwart von Comto Cusimo Garlischgrötz", begann er mit einer Betonung, die den Augenblick noch feierlicher machte. Dann folgte die Aufzählung der Titel, jeder einzelne sorgfältig und voller Bedeutung ausgesprochen:
"Herzog von Grangor, Markgraf des Windhag, Graf von Phecadien, Reichsvogt von Kaiserlich Phecadien, Herr von Harben, Garlan, Greifenklamm, Lilienhöhe und Bosparanshain."
Die Soldaten draußen riefen "Hoch!" nach jedem Titel und die Pracht des Zeltes verstärkte den Eindruck, dass der Herzog über unermessliche Macht und Autorität verfügte. Die Sewamunder wussten, dass dies nicht nur eine Audienz war, sondern eine Machtdemonstration, eine Erinnerung daran, wer der wahre Herr im Lande war. Nachdem die Titel des Herzogs verkündet worden waren, legte sich angespannte Stille über den Raum. Dann hob Herzog Cusimo langsam und bedächtig die Hand – eine kleine, aber überaus mächtige Geste, die ihre Bedeutung nicht verfehlte. Alle Blicke richteten sich auf ihn und seine warme, tiefe Stimme, ruhig, aber voller Autorität, durchbrach die Stille.
"Herrin der Sewamunder Lilien, Baronessa Dimiona della Carenio", sagte er und seine Worte klangen wie das Urteil eines Herrschers, dem niemand zu widersprechen wagte. "Wir begrüßen Euch."
In der Stimme des Herzogs lag eine Spur jovialer Freundlichkeit, die der Herzog trotz der feierlichen Situation nicht ablegen konnte. Die Sewamunder Delegation spürte dennoch das Gewicht des Augenblicks. Sie standen nicht nur vor ihrem Herzog – sie standen vor einem Mann, der über ihre Stadt und ihre Geschicke entscheiden konnte, und jeder falsche Schritt in dieser Audienz konnte schwerwiegende Konsequenzen nach sich ziehen.
Dimiona della Carenio hatte sich dem Anlass entsprechend edel gekleidet. Sie trug ein traditionelles Gewand Vinsalter Mode aus schwerem Brokat in verschiedenen Grüntönen, in das einzelne Goldfäden gewoben waren. Das lange, schlohweiße Haar hatte das vorübergehende Stadtoberhaupt Sewamunds mit einem farblich passenden Haarband aus dem Gesicht gehalten. Dezenter Perlenschmuck zierte ihre dünn gewordenen Ohrläppchen und das faltige Dekolleté, das von feinster Spitze eingerahmt war. Sie strahlte Würde, gediegene Eleganz und Selbstbewusstsein aus.
Der Herzog inszenierte sich und seine Macht mit allem, was dazugehörte. Es sollte klar sein, wer die Macht innehatte und wer der Bittsteller war. Dimiona wusste, wo sich die Sewamunder Delegation einzusortieren hatte. Die ehrfürchtige Stille vor der Proklamation sämtlicher Titel derer sich Cusimo rühmen durfte, die Hochrufe der Soldaten vor dem Zelt, die hochrangigen Berater an der Seite des Herzogs. Die Nervosität der Verhandlungsführerin stieg ins Unermessliche als Herzog Cusimo die Hand hob und endgültig alle Aufmerksamkeit auf sich zog.
"Herrin der Sewamunder Lilien, Baronessa Dimiona della Carenio, wir begrüßen Euch."
Dimionas Herz machte einen erschrockenen Doppelschlag, die Luft blieb ihr schlagartig weg. Baronessa hatte Cusimo sie betitelt! Ein Feuerwerk an Gedanken entzündete sich in ihrem Kopf, lenkte sie ab, führte einen Augenblick lang dazu, dass die della Carenio ihre Aufgabe beinahe vergaß. Zum Glück fing sie sich sehr schnell wieder. Sie war kein eitles Schulmädchen mehr, das man mit einem netten Titel ködern und von den wirklich wichtigen Dingen ablenken konnte. Die "Herrin der Lilien" atmete tief durch, hob das Kinn und sah den Herzog mit dem Selbstbewusstsein einer Sechzigjährigen herausfordernd an. Sie trat einen Schritt vor und vollführte einen Knicks in der Souveränität jahrzehntelang geübter Cortesia. Nun war es an ihr dem Herzog zu zeigen, dass sie auch über die anderen drei Eigenschaften der vornehmen horasischen Gesellschaft verfügte. "Möge der Segen unseres geliebten Horas und der zwölf Alveransgeschwister auf Euch liegen, Hoheit! Habt Dank für die dem Lilienrat angebotene Audienz. Wir wissen dieses Privileg zu schätzen!"
Der Herzog nickte wohlwollend. "Wir haben Euch persönlich hierher gerufen, da uns die Neuigkeiten über den politischen Zwist und die Ansammlungen von Waffenvolk in unseren Landen betrüben. Stets haben wir Sewamund als die strahlendeste Perle in der Krone Phecadiens betrachtet. Nun liegen Schatten auf dieser Krone und dunkle Flecken trüben den Glanz. Sowohl unsere treuen Lehnsleute in der Landstadt Sewamund als auch der geschätzte Baron der Sewamunder Lande schulden uns daher eine Erklärung, wie es zu dieser tragischen Situation kommen konnte und welche Schuld die beiden Parteien selbst an der Entwicklung tragen." Er blickte zu seinem Statthalter Zandor von Nervuk herüber. Dieser ergriff das Wort und wirkte dabei deutlich weniger erhaben als sein Herzog. Er fixierte Dimiona della Carenion mit analytischem Blick. "Baronessa, erklärt Eurem Herzog und mir, wie es aus Eurer Sicht dazu kommen konnte, dass Sewakien von Bewaffneten wimmelt, Dörfer niedergebrannt und Schlachten geschlagen wurden, wo doch ursprünglich nur Fragen der Gleichbesteuerung in Phecadien verhandelt werden sollten. Erklärt uns zudem, warum der Lilienrat nichts unternommen hat, um diese betrübliche Eskalation zu verhindern." Alle Augen waren nun auf Dimiona gerichtet und ihre Erklärung wurde mit Spannung erwartet, während die Luft vor Spannung stillzustehen schien.
Das Familienoberhaupt der della Carenios hörte beiden Männern aufmerksam zu. Als der Herzog und sein Statthalter geendet hatten, senkte sie ehrerbietig ein wenig das Haupt, bevor sie zu ihrer Antwort ansetzte. "Glaubt mir, Hoheit, dass mich selbst nichts mehr betrübt als die Situation, wie sie sich derzeit in und um Sewamund darstellt. Der Lilienrat ist entsetzt und bis ins Mark erschüttert über die Gewalt, die sich in den Gassen der Stadt und durch die Truppen des Barons im Umland nördlich und nordöstlich von Sewamund ereignet hat und noch immer ereignet. Menschen wurden auf offener Straße ermordet, Amarinto niedergebrannt, der Sewakturm und der dazugehörige Ort eingenommen. Der Handel in unserer einst so prosperierenden Stadt, sowohl über das Meer als auch der Handel über den Sewak, liegen brach. Die Stadt ist an drei Seiten umzingelt und belagert." Sie lenkte ihren Blick auf Zandor von Nervuk. "Und natürlich habt Ihr Recht. Es gehören zum einen immer zwei zu einem solchen Zwist und Schuld tragen vermutlich auch beide Seiten. Doch ich muss den Vorwurf mit Vehemenz zurückweisen, dass der Lilienrat nichts unternommen hätte, die Eskalation zu verhindern. Denn der Lilienrat hat sich, als sich immer mehr Morde in der Stadt ereigneten, hohe Adelige und Mitglieder der führenden Familien der Stadt zu Tode kamen und die ermittelnde Stadtgarde die Mörder nicht finden konnte, an Baron Irion von Streitebeck gewandt und ihn um Hilfe gebeten. Den Mann, den Ihr, Hoheit, mit Privilegien gegenüber dem Lilienrat Sewamunds ausgestattet habt, obwohl Baronie und Landstadt Sewamund voneinander unabhängig sind. Der Baron, immerhin Vorsitzender des Lilienrates, hat seine Hilfe bei der Aufklärung der Morde und der Wiederherstellung der Ordnung in Sewamund abgelehnt." Dimiona machte eine Wirkungspause und beobachtete die Gesichter der beiden Männer, die von ihr Rechenschaft erwarteten.
Beide hatten aufmerksam den Worten Dimionas gelauscht. Nach einer kurzen Pause, in der sich Stille über das Zelt senkte, ergriff der Statthalter Zandor von Nervuk wieder das Wort: "Hat der Baron die Aufklärung der Morde und die Wiederherstellung der Ordnung verweigert oder seid ihr nur nicht zufrieden mit den Ergebnissen der Maßnahmen, die er eingeleitet hat? Hierzu gibt es offensichtlich widersprüchliche Sichtweisen. Mehrere Personen, welche für einen Teil der Untaten verantwortlich sein sollen, wurden jedenfalls an das Hochgericht in Farsid übergeben und sitzen derzeit dort in Erwartung ihres Prozesses im Kerker."
Das vorübergehende Oberhaupt der Stadt Sewamund lächelte hintergründig. "Nun, es ist tatsächlich so, dass der Capitan Rimendoza der Stadtgarde drei Männer hat festsetzen lassen. Ich möchte nur anmerken, dass ebenjener Capitan wenig später die Seiten gewechselt hat. Man müsste also den Baron fragen, welche Beweise der Capitan für seine Festnahmen vorbringen kann." Sie ließ ihren Blick von Zandor von Nervuk zum Herzog und zurück wandern, um sich die Reaktion beider zu vergegenwärtigen. Beschwichtigend ergänzte sie schließlich: "Ich bin mir allerdings sicher, dass das Hochgericht in Farsid mit Praios Hilfe ein gerechtes Urteil fällen wird."
Zandor von Nervuk kratzte sich sanft am ergrauten Bart. "Erlaubt mir die Frage Baronessa, ist es nicht auch so gewesen, dass ebenso Unterstützer des Barons unter den Opfern der Unruhen waren. Welches Interesse sollte der Baron haben, diese Verbrechen nicht aufzuklären?"
"Da habt Ihr recht, Comto, es würde auch mich interessieren, welches Interesse der Baron daran haben sollte, die Verbrechen in der Stadt Sewamund nicht aufzuklären", erwiderte Dimiona und blickte den Berater des Herzogs mit einem aufrichtigem Interesse an.
Nun drängte die brummende Stimme des Herzogs zwischen die Baronessa und seinen Statthalter. "Die ganze Angelegenheit erscheint mir mehr als ungewöhnlich, die Merkwürdigkeiten treten jedoch auf beiden Seiten auf. Was hat denn der Lilienrat getan, um die Morde aufzuklären? Weder der Capitan der Stadtgarde noch das formelle Stadtoberhaupt schienen mir hier die einzigen zu sein, die Verantwortung tragen."
Das aktuelle Stadtoberhaupt und damit die Verhandlungsführerin des Lilienrates nickte bedächtig. "Nun, die einzelnen betroffenen Familien des Lilienrates haben ihrerseits Nachforschungen angestellt. So beispielsweise auch meine Familie und ich weiß, dass Phexter van Kacheleen ebenfalls ermittelt hat. Dann aber kam die Überschwemmung der Stadt und viele Verluste an Menschen und Hab und Gut. Ich nehme an, dass diese Naturkatastrophe die Prioritäten verschoben hat. Was den Baron angeht, war wohl dieser mit seinen Truppenbewegungen beschäftigt und weniger mit Aufklärungsarbeit in Sewamund, wo er gerade nicht wohlgelitten war."
Der Statthalter von Phecadien nickte. "Jedoch haben aber offenbar die Nachforschungen des Lilienrats auch keine handfesten Ergebnisse geliefert oder die der Stadtgarde widerlegt. Dass der bewaffnete Konflikt und auch die tragische Flut vor einigen Tagen die Prioritäten verschoben haben, erscheint in diesem Zusammenhang nicht überraschend. Aber lasst uns nun weiter über die Ursachen und Ursprünge dieses Konflikts sprechen." Der Herzog nickte. Dieser Punkt war ihm offenbar sehr wichtig.
"Auf die Frage nach den Ursachen der Zwistigkeiten will ich eine Einordnung aus der Sicht des Lilienrates versuchen. Nun, es ist festzustellen, dass sich die eine Hälfte des Lilienrates nicht mit der Überstimmung durch den Baron beim Antrag zur Neubesteuerung abfinden wollte. Es herrschte Stimmengleichheit und der Baron nutzte das ihm gewährte Privileg, um die von ihm favorisierte Neubesteuerung durchzusetzen. Das hat zu Zwist zwischen den Familien des Lilienrates gesorgt und in gewisser Weise zwei Lager geschaffen. Wenn ich mir die Aussage erlauben darf, so finden sich einige einflussreiche Familien der Stadt nur ungern mit der Situation ab, dass das Wohl dieser prosperierenden Stadt von der Stimme des Barons im Lilienrat abhängt. Sieht man sich doch eigentlich nur Euch, dem Herzog, verpflichtet und treu ergeben, da die Stadt Sewamund nicht der Baronie, sondern einzig Euch, Hoheit, untertan ist. Und dabei, das betone ich, geht es nicht darum, dass man einer Veränderung des Steuerungssystems grundsätzlich negativ gegenübersteht."
Der Herzog nahm gerade die letzten Worte mit einem wohlwollend Nicken zur Kenntnis. Wieder ergriff sein Statthalter das Wort: "Lasst uns nun zu den Vorgängen um die Flucht Baron Streitebecks aus der Stadt kommen. Uns wurde zugetragen, der Lilienrat beschloss in Abwesenheit des Barons diesen seines Amtes als Stadtoberhaupt zu entheben und mit Hilfe der städtischen Sewakgarde festzusetzen. Auf welcher juristischen und politischen Basis erfolgte dieser Beschluss?"
Nun setzte Dimiona ein entschuldigendes Lächeln ein. "Ich fürchte, Euer Hoheit, dass die Basis des Beschlusses, den Baron seines Stimmrechts im Lilienrat zu berauben, sicherlich nicht zur Gänze den strengen Gesetzen des Herrn Praios genügen würde. Der Lilienrat berief sich bei der Enthebung des Barons von seinem Posten im Rat auf das Statut, dass jedes Ratsmitglied seines Amtes enthoben werden kann, wenn es eine Gefahr für die Stadt darstellt. Zu diesem Entschluss ist die Mehrheit der Ratsmitglieder gekommen. Die versuchte Festsetzung war, soweit ich informiert bin, eine Art von Sicherheitsmaßnahme, da der Unmut der Bürger Sewamunds sich gegen die Person des Barons richtete. Um die Situation zu entschärfen, sollte Irion von Streitebeck zunächst vor dem wütenden Mob in Sicherheit gebracht und zugleich auch dazu genötigt werden, sich gegenüber dem Lilienrat bezüglich der Morde eindeutig zu positionieren."
Zandor von Nervuk sah skeptisch aus. Der berühmte Condottiere setzte bereits zu einer Antwort an, da wurde er wieder vom Herzog selbst überstimmt. "Eure Sorge um die Sicherheit des Barons ehrt Euch und den Rat, jedoch muss Euch bewusst gewesen sein, dass dieses Vorgehen das althergebrachte Leumundsprivileg missachtete. Dies ist eine Verfehlung, die nicht ohne Sanktion bleiben kann. Selbst wenn die Festsetzung des Barons misslang." Ein Schreiber, der während der gesamten Audienz immer wieder schriftliche Notizen gemacht hatte, verstand den subtilen Wink und begann eifrig zu schreiben. Dann sprach Zandor von Nervuk wieder. "Lasst uns nun zu den Ereignissen vom 4. Travia in Amarinto kommen. Augenzeugen berichten davon, dass die Feste Amardûn, der Stammsitz des Hauses Amarinto von den Bewaffneten des Barons gestürmt wurde, nachdem Verhandlungen fehlgeschlagen waren. Zugleich brannte das gesamte Dorf Amarinto nieder. Hierzu gibt es widersprüchliche Angaben. Es wurden uns sowohl Stimmen zugetragen, die von einem unglücklichen Unfall sprachen, als auch Stimmen die den Mordbrand den Truppen des Barons zuschreiben und nicht zuletzt sprachen manche auch davon, dass die Verteidiger Amarintos das Dorf selbst niederbrannten, um den Heerbann des Barons in den Flammen zu zerschlagen. Zweifelsfrei steht jedoch fest, dass die Vertreter des Hauses Amarinto das Dorf bereits vor der Ankunft des Barons evakuieren ließen und so keine Einwohner zu Schaden kamen. Berichtet uns Eure Sicht der Ereignisse." Der Herzog lehnte sich minimal nach vorne, es wurde deutlich, dass ihn gerade die Frage besonders interessierte.
Dimiona kannte die Ereignisse aus der Schilderung der Amarintos. "Die Berichte der Flüchtlinge aus Amarinto, die vor der Erstürmung der Feste Amardûn das Dorf verlassen hatten und jener, die den Sturm überlebt haben, sprechen eine deutliche Sprache. Wie die Kundschafter des Lilienrates und die immer zahlreicheren Flüchtlinge vermeldeten, waren die Truppen des Barons bereits weit durch die Baronie Sewamunds gezogen und hatten diverse Dörfer besetzt. Als klar war, dass sie Amarinto erreichen würden, schickte man die Einwohner mit Hab und Gut nach Sewamund. Der Baron lud die Besatzung der Feste zu Verhandlungen ein. Das Feuer, das dann im Dorf entstand, so die glaubhafte Versicherung der Unterhändler Amarintos, war wohl von den Truppen des Barons gelegt worden, als Warnung an die Burgbesatzung. Ob es ein Zufall war, den der Baron zu seinen Gunsten nutzte oder bewusst gelegt, wird wohl nie endgültig geklärt werden. Es nimmt aber kein Wunder, dass die Unterhändler der Amarintos in dem Feuer eine Falle vermuteten. Sie beendeten die Verhandlungen und zogen sich hinter die Mauern zurück. Die Miliz, die Rimaldo, Rondician und Carina Amarinto zusammengezogen hatte, kämpfte tapfer jedoch auf verlorenem Posten gegen die Belagerer. Es waren zahlreiche Verluste zu verzeichnen, unter ihnen Rimaldo und Rondrician Amarinto. Nun, Hoheit, Ihr werdet vielleicht eine andere Version vom Baron hören. Dies ist die Version, die ich in den Flüchtlingslagern und im Lilienrat zu hören bekam."
Nun machte Dimiona eine kurze Pause. Sie atmete einmal tief durch. Man konnte sehen, dass die Wiedergabe der Ereignisse rund um die Zerstörung der Dörfer in der Baronie ihr zusetzte. Zu viele Berichte der Flüchtlinge hatte sie hören müssen. Grausame Beschreibungen der Geschehnisse, die sie emotional aufgewühlt hatten. Mit Nachdruck stemmte die Carenio nun ihre knochigen Hände in die Hüften und sah den Herzog direkt an. "Wir, die Bewohner der Stadt, die Mitglieder des Lilienrates, nahmen uns der vielen Flüchtlinge an, versorgten sie mit dem Nötigsten. Wo war da der Baron? Wo, frage ich Euch, war seine mildtätige Hilfe für diejenigen, denen er alles genommen hat?"
Der Herzog brummte ein wenig. Sein Gesicht hatte sich bei der Erwähnung der Kämpfe in Amarinto, dem Brand und den Flüchtlingen zusehends verfinstert. "Wir nehmen Eure Bemühungen die Folgen dieses kriegerischen Konflikts zu mildern und der geschädigten Bevölkerung traviagefällige Mildtätigkeit zukommen zu lassen mit Wohlwollen zur Kenntnis. Jedoch kann dies Baron Irion von Streitebeck nicht zum Nachteil gereichen, da er keine Möglichkeit hatte die geschädigte Bevölkerung zu versorgen. Jedenfalls sind uns keine Berichte bekannt, dass er oder seine Truppen der Landbevölkerung Schaden zugefügt hätten. Im Gegenteil hat er die zur Versorgung seiner Truppen notwendigen Nahrungsmittel mit gutem Silber bei den Bauern der Region eingekauft."
Es folgte eine kurze Pause, die von der Stimme Zandor von Nervuks durchbrochen wurde. "Baronessa della Carenio, der Herzog gewährt Euch in seiner Weisheit zum Abschluss dieser Audienz das freie Wort. Ihr erhaltet Gelegenheit, nochmals frei zu sprechen, bevor der Herzog und seine engsten Berater eine Entscheidung zur Beilegung dieses Konflikts besprechen werden."
Dimiona nickte ergeben und sammelte sich noch einmal, dann begann sie mit fester Stimme ihre Abschlussrede zu formulieren. "Eure herzogliche Hoheit, hochgeschätzter Statthalter, hochwohlgeborene Damen und Herren, was sich in diesen Tagen in und um unsere schöne Stadt Sewamund ereignet hat, ist eine Tragödie, so viel steht fest. Morde auf offener Straße, eine Sintflut von zerstörerischem Ausmaß und der unsägliche Zwist zwischen dem Baron von Sewamund, Irion von Streitebeck und dem Lilienrat. Es kann schlimmer beinahe nicht mehr kommen für das einst so prosperierende Sewamund. Wer Schuld daran trägt? Nun, Ihr habt die Sichtweise des Lilienrates aus meinem Munde vernommen, die des Barons wird er Euch kundtun. Auf beiden Seiten wurden Fehler gemacht. Es ist nun an Euch, eine Entscheidung über die Zukunft der Stadt, ihrer Bewohner, des Umlands und auch des Lilienrats zu fällen. Ich möchte noch einmal deutlich machen, dass der Lilienrat an einer gerechten Besteuerung interessiert ist und in direkten Verhandlungen mit Euch, oder einem von Euch benannten Unterhändler, sicherlich zu einem für beide Seiten zufriedenstellenden Ergebnis kommen wird. Das Überstimmen einer Pattsituation bei Entscheidungen durch den Baron ist eine für den Lilienrat schwer erträgliche Situation, die letztlich in einem blutigen Konflikt ausgeartet ist. Der Stadtrat fühlt sich Euch, Hoheit, verpflichtet und steht treu zu seinem Herzog. Somit würde der Lilienrat eine zukünftige Lösung bevorzugen, in der die Stadt nicht mehr von den Interessen des Barons abhängig ist, der schließlich nicht über die Stadt und die Stadtmark Sewamund gebietet. Somit legt der Lilienrat das Schicksal Sewamunds in Eure erlauchten Hände. Hoch lebe Eure Hoheit, Cusimo Garlischgrötz! Mögen die Zwölfe Euch ein langes Leben schenken!"
Der Herzog, sein Statthalter und die restlichen Anwesenden hatten Dimionas Worten aufmerksam gelauscht. Kurz hatte man den Eindruck gewinnen können, ein mildes Lächeln auf den Lippen des Herzogs zu erkennen. Nachdem Dimiona geendet hatte, erhob Herzog Cusimo nochmals das Wort: "Wir danken Euch, Baronessa, für Eure offenen Worte und die Erklärungen, wie es zu dieser misslichen Situation kommen konnte. Kehrt nun zurück nach Sewamund und erwartet unsere Entscheidung, die Euch von unserer Heroldin Comtessa Odina Garlischgrötz morgen zur Praiosstunde überbracht werden wird."