Briefspiel:Packratten aus der Ponterra (4)
Autoren: Gishtan re Kust, Carenio
14. & 15 Travia 1046 BF, Sewakien, auf dem Dämonenstieg und in Sewamund
Promenieren
"Allen Ernstes? Diese Straße wird Dämonenstieg genannt?” Alecor ya Papilio war verblüfft. Er ritt neben dem jungen Leonello her. In Kürze sollte die Stadt in Sicht kommen, doch das war für einen Moment in den Hintergrund getreten: "Ihr müsst mir erzählen, weshalb man so eine harmlose Strecke entlang des Flusses mit einem solchen Namen versah", verlangte er. Leonello sah den Esquirio zunächst erstaunt an. Hatte ya Papilio noch nicht die Saga von der Entstehung des Dämonenstiegs gehört? Dann entsann er sich, dass Alecor ja aus der einstigen Domäne Pertakis stammte und daher die Sagen und Legenden der Sewaklande nicht kannte: "Nun, wenn ich ehrlich bin, dann ist mir sogar ein wenig mulmig zumute bei der Vorstellung auf dem Dämonenstieg in die Dunkelheit zu geraten. Es gibt immer noch Leute, die von Geistererscheinungen munkeln. Es heißt auch, dass sich hier ungewöhnlich häufig Schwarzmagier aufhalten und ihre sinistren Rituale abhalten." Es schüttelte Leonello bei dieser Vorstellung. "Angeblich hat es auch seinen Grund, warum es nicht eine Herberge gibt auf der gesamten Strecke zwischen Veliris und Sewamund. Offiziell heißt der Weg ja Sewakstieg, aber wenn man die Entstehungsgeschichte kennt, versteht man auch warum er Dämonenstieg genannt wird."
Und dann erzählte der junge Carenio Alecor, wie vor einigen Götterläufen die dämonische Wesenheit Gurondaii die Region um Veliris heimgesucht und dabei entlang des Flusses eine Schneise der Verwüstung hinterlassen hatte. Achselzuckend beschloss der Wagenlenker seinen Bericht: "Pragmatisch wie man hier eben ist, beschlossen die phextüchtigen Phecadier, dass man die nun vorhandenene Schneise gleich zum Bau eines gepflasterten Handelssweges nutzen könne. Man schaffte das schwarze Basaltgestein aus dem Phecanowald her und errichtete daraus den Straßenbelag."
"Da denkt man, man lebt in modernen Zeiten, in denen übernatürliche Ereignisse nur noch in unzivilisierten Gegenden passieren, und nicht in einem Land, das von Wissenschaft und Erkenntnis geprägt ist", sinnierte Alecor. "Und dann hört man den Widerhall von Ereignissen, die noch nicht lange zurück liegen und sich nicht in der Fremde zutrugen, sondern unmittelbar im Lieblichen Feld. Wir scheinen das schnell zu verdrängen und nur abergläubische Furcht erinnert nach wenigen Jahren noch an solche Dinge."
Ya Papilio zupfte sich nachdenklich an den Bartspitzen: "Vielleicht war es aber sogar gut für unsere Sache, dass wir auf diesem...Stieg reisten, wo uns kaum jemand begegnet ist. Aber nun seht...da vorne lichtet sich der Wald und ich kann schon die Stadtmauer erkennen. Wir müssen durchs Neue Tor, sagt Ihr?" "Durch das Neutor, richtig!", bestätigte Leonello della Carenio. "Wir werden allerdings durch die Hauptstraße und über den Markt promenieren müssen. Das könnte zu unerwünschten Kontakten mit der hungernden Bevölkerung führen. Die Preise für Nahrungsmitteln sind auf dem Markt in exorbitante Höhen geschnellt. Also wird es vermutlich etwas ungemütlich werden. Denn eigentlich müssen wir unsere Waren ja unangetastet abliefern, auch wenn sie später an die Hungernden ausgegeben werden sollen. Ich nehme an, dass es Dimiona sich nicht nehmen lassen wird, sich öffentlich als Wohltäterin zu präsentieren."
Alecor runzelte ob der letzten Anmerkung die Stirn: "Meinetwegen soll Eure Tante das tun. Mir liegt nicht viel darin, im Mittelpunkt des Interesses zu stehen. Wichtiger ist mir, dass wir alle halbwegs heil nach Villago zurück gelangen. Das wird leichter sein, wenn wir nicht sonderlich auffallen. Und das wiederum glückt eher, wenn nicht in größerem Rahmen bekannt wird, welche Ladung wir in die Stadt karren. Mein Vorschlag: Lasst uns dem Befehlshaber des Wachtrupps am Tor Geschenke für ihn, seine Familie und seine Kämpfer geben, damit er möglicht geringes Interesse an unseren Wagen hätt’."
Der junge Mann zog die Schultern hoch. "Nun, meine Art wäre das nicht und meine Mutter schüttelt darüber auch nur den Kopf, aber Dimiona ist als Familienoberhaupt der Carenios Mitglied des Lilienrates. Dementsprechend legt sie Wert auf ihren Leumund in der Stadt. Mehrere Familien versuchen, persönlichen Profit aus der Situation zu ziehen. Das ist das Prinzip: Tu Gutes und sprich darüber!" Leonello schenkte dem Esquirio der ya Papilios ein entschuldigendes Lächeln: "Nun denn, Euer Vorschlag ist gut, wir verteilen ein paar Geschenke und dann versuchen wir so unbehelligt wie möglich zum Palazzo Vistelli zu kommen. Kurz bevor sie das Neutor erreichten, lenkte Grangorion den Wagen der Papilios ganz nah an den der Carenios heran. Er wandte sich an Alecor. "Esquirio Alecor, wir sollten womöglich die Verletzung von Rauris ausnutzen, um die Durchsuchung der Wagen abzukürzen. Ein begünstigendes Argument könnte sein, dass sich das Hospital in direkter Nähe des Palazzo Vistelli befindet. Vielleicht könnten wir damit argumentieren, um möglichst schnell die Stadttore passieren zu dürfen."
Alecor nickte zustimmend. Bald hatten sie das Neutor erreicht. Da der morgendliche Verkehr bereits abgeebbt war, mussten sie nicht lange warten, bis ein Trupp Wächter mit dem Sewamunder Wappen auf den Wämsern zu ihnen kam. Eine einäugige Corporala führte das Wort und richtete sich gleich an Grangorion, der nicht nur die Zügel des größten Wagens hielt, sondern auch die stolzeste Haltung zeigte: "Die Zwölfe mit Euch. Wer seid Ihr und was ist Euer Begehr in Sewamund?" "Den Segen der Zwölfe für Euch und die Stadt Sewamund. Wir bringen eine Lieferung für Gerodan Vistelli, Corporala! Und da wir auf dem Weg hierher in einen Hinterhalt gekommen sind, bei dem unsere Wagenlenkerin Rumina verletzt wurde, hoffen wir auf die schnelle Hilfe durch die Heiler im Stadthospital. Dürfen wir passieren?"
Das verbliebene Auge der Kommandantin blickte äußerst misstrauisch. Mit einem, kurzen, harschen "Durchsuchen!" an ihre Leute ließ sie erkennen, dass sie nicht vorhatte, die Wagen unkontrolliert passieren zu lassen. Eine herrische Handbewegung forderte von Grangorion die Papiere. Während die Torwächter bereits die Abdeckungen der beiden Gefährte lüfteten, überflog die Corporala die Warenliste.
Alecor ya Papilio stieg derweil ohne Hast von seinem Ross und näherte sich der Wachhabenden: "Ich sehe, Ihr widmet Euch Eurer Aufgabe gewissenhaft", begann er betont unverfänglich. "Und Euch wird nicht schwer fallen zu erkennen, dass die Waren, die wir zu Herrn Vistelli bringen wollen, für diese schöne, bedrängte Stadt und deren darbende Einwohner gut sein werden. Allerdings...", er senkte seine Stimme: "...könnten besonders verzweifelte Sewamunder versucht sein, sich unrechtmäßig vor der Verteilung einen Anteil an den guten Sachen anzueignen, wenn Kunde von unserem Transport in die Stadt gelänge, ehe wir den Palazzo erreicht haben. Dann würde von diesen Waren weniger als geplant verteilt werden - und Ihr könnt Euch vorstellen, an wen bei der Verteilung dann zuletzt gedacht werden würde, nicht?" Die Frau beäugte den gut genährten Ponterraner wortlos über den Rand des Klemmbretts mit den Frachtpapieren. So ermutigt fuhr Alecor fort: "An diejenigen, die trotz der schwierigen Lage brav auf ihren Posten bleiben und darauf achten, dass keine Leute des Barons in die Stadt kommen. Man sollte doch meinen, das ließe sich vermeiden, nicht?"
Die Augenbraue über dem verbliebenen Auge hob sich in anmutigem Bogen. Sie schien die Andeutung wohl verstanden zu haben. "Nun, ihr seht hier diejenigen, die im Falle eines Angriffs für die Sicherheit der Stadt ihr Leben geben werden. Wir und unsere Familien hungern ebenso wie die meisten der Stadtbewohner." Sie begleitete Alecor zum Dreiachser der ya Papilios. Es war offensichtlich, dass sie darauf wartete, einen 'Lohn' für ihre Wachtätigkeit zu bekommen. Alecor nickte Leonello ermunternd zu und richtete dann wieder das Wort an die Corporala: "Gerade für Euch, Eure Leute und Eure Familien müsste etwas zu machen sein. Woran mangelt es Euch denn dieser Tage am meisten, Corporala...?"
"Simiona Plantanego", erwiderte die Soldatin, ohne den Blick von dem Wagen zu nehmen. Es schien, als kostete es sie Mühe, sich von den Verlockungen unter der Plane zu lösen. Schließlich drehte sie sich doch noch zu Alecor um. "Glaubt mir, wir haben für alles Verwendung. Vor allem natürlich Essbares. Aber auch Dinge des täglichen Bedarfs. Ihr versteht schon. Und was man nicht selbst brauchen kann, tauscht man gegen Lebensmittel ein." Alecor wandte sich nun an den wartenden Leonello, obgleich seine Worte an Corporala Plantanego gerichtet waren: "Ihr befehligt eine Corazza? Das sind mit Euch sechs Wächter. Sagen wir, jeder hat bereits den Travienbund geschlossen, der von Tsa gesegnet wurde, und hat mindestens einen Sprössling zu versorgen. Runden wir auf, dann sind wir bei 20 fürsorglichen Päckchen, richtig?" Die Corporala sah von einem zum anderen und nickte dann.
"Dann wäre das beraten", hielt Alecor fest. "Ich schlage vor, unser kleinerer Wagen muss bereits durch das Tor und wird innerhalb der Stadt gewissenhaft durchsucht. Derweil wartet der größere zwischen äußerem und innerem..." Und keinesfalls länger als es braucht, um ohne Aufsehen und Zusehen Dritter die "Fürsorgepäckchen" abzuladen und diese den Wächtern zu übergeben, fügte er in Gedanken hinzu.
Leonello bat Simiona noch zu bedenken, dass sie eine Verletzte transportierten, die dringend medizinische Hilfe benötigte. Die Corporala gab das Zeichen, die Wagen zur Durchsuchung in die Stadt zu lassen. Der junge Carnio lenkte den kleineren Wagen durch das Neutor und wartete darauf, dass die geladenen Waren durchsucht wurden. Währenddessen blickte er zurück und verfolgte, wie Alecor und Grangorion sich an dem größeren Wagen zu schaffen machten. Neugierige Blicke der Wachleute überwachten jede Handbewegung der beiden. Nach einer Weile wechselten kleine, in Tuch geschlagene Päckchen vom Wagen der Papilios zu den Torwächtern und ihrer Corporala. Nun durchsuchten zwei der Wächter den großen Wagen und nachdem sie Simona Plantanego bestätigten, dass alles seine Richtigkeit habe, hob die Corporala die Hand und ließ den großen Wagen in die Stadt fahren. Den Wagen Leonellos wollte nun niemand mehr untersuchen. Aufatmend machten sie sich auf den Weg durch die Stadt.
Erst als sie von der Neutor- nach rechts in die Hauptstraße einbogen und damit außer Sichtweite der Torwachen war, lenkte Alecor Audax neben den Kutschbock, auf dem Grangorion saß. Ein Ausdruck von Erleichterung trat auf sein Gesicht: "Das hätte schlechter laufen können", lobte er die anhaltende Gelassenheit der beiden Carenios. "Es ist nicht mehr weit, hoffe ich?" Grangorion schüttelte den Kopf. "Nicht wirklich. Wobei wir ja eigentlich nicht zum Palazzo Vistelli müssen, der war ja nur vorgeschoben. Wir sollten zum Kontor der Carenios, beim Seebad. Das ist dann schon noch ein ganzes Stück. Als erstes aber sollten wir Rauris zum Hospital bringen. Das liegt auf dem Weg."
Die ältere Frau neben ihm verzog keine Miene, nicht als Zustimmung, nicht um ihre Zustimmung zu signalisieren. Gleichmütig blickte sie voraus auf die mit Wagen, Tieren und Menschen gefüllte Straße. Die Herrschaften würden schon allein das richtige Vorgehen wählen, schien ihre Körperhaltung auszudrücken. Alecor hingegen zuckte unentschlossen mit den Schultern: "Schaden kann es sicher nicht, die treue Seele dorthin zu bringen", sprach er in der dritten Person über die verletzte Wagenlenkerin. "Vorausgesetzt, das hält uns nicht länger auf." Grangorion schüttelte den Kopf.
Auf der Hauptstraße, und erst recht auf dem Marktplatz, mussten sie sich einen Weg durch die Menge bahnen. Die Wagenlenker hatten alle Hände voll zu tun, die Pferde durch die Menschenansammlung zu manövrieren. Hände reckten sich ihnen entgegen, manche schickten sich gar an, unter die Abdeckungen der Gefährte zu greifen und sich selbst zu bedienen. Grangorion wurde laut und schrie die gierigen Sewamunder an, ihm Platz zu machen. Leonello beeilte sich, im Schlepptau des größeren Wagens schneller voranzukommen. Alecor bildete die Nachhut und drängte mehr als einmal besonders gierig wirkende Sewamunder von der Seite der Wagen. Einmal zog er gar sein Rapier zwei Finger breit aus dem Schwertgürtel. Zusammen mit seinem entschlossenen Blick und seine wohlgenährte Statur schüchterte dies die Betreffenden genügend ein, dass sie Platz machten - wenn auch mit mehr als gemurmelten Beschimpfungen.
Endlich konnten die Hilfe Bringenden den Marktplatz hinter sich lassen und erreichten ohne weitere Beleidigungen das Hospital. Ein älterer Peraine-Akoluth nahm die Reisegruppe in Empfang. Alecor schilderte ihm in knappen Worten, dass man auf der Fahrt nach Sewamund von Räubern bedrängt worden sei. 'Ohne Mühe' habe man diese abgewehrt, dabei habe allerdings 'diese brave Bedienstete' einen Hieb erlitten, der nun im Hospital Heilung erfahren solle. Ohne zu Zögern legte der Fechter eine Handvoll silberner und bronzener Münzen in die Spendenschale des Hospitalsbediensteten. "Falls unerwartete Kosten auftreten, so kommt Gerodan Vistelli für diese auf, dessen Leumund Euch bekannt sein dürfte. Gute Besserung, Rumina!", wünschte er, während die Verletzte mühselig vom Kutschbock rutschte.
Den Rest der Wegstrecke bewältigten sie ohne weitere Vorkommnisse und erreichten zunächst den Palazzo Vistelli, von wo aus sie gleich zum Kontor der Carenios weitergeleitet wurden. Dort warteten bereits einige Bedienstete der Familie della Carenio, die dabei halfen, die Wagen zu entladen. Auch Wachpersonal stand bereit, so dass sich niemand an den mühsam herangeschafften Gütern vergreifen konnte. Kurz bevor sie mit dem Entladen fertig waren, erschien das Familienoberhaupt der Carenios, Dimiona della Carenio. Begleitet von ihren Leibdienern und ihrem jüngeren Sohn Ludovigo inszenierte die 60-Jährige ihren Auftritt. Sie trug ein Gewand aus Seidenbrokat in Dunkelrot und Braun. Aufwändige Stickereien und Borten zeigten den Wohlstand der Familie. Ihr mehr weißes als blondes Haar trug sie mit Seidenbändern zu einer voluminösen Frisur aufgesteckt. Ihre blauen Augen blickten suchend. Als sie Grangorion sah, trat sie sogleich auf ihn zu: "Grangorion! Vetter! Wie siehst du denn aus?" Sie warf einen missbilligenden Blick auf die Tarnkleidung des jungen Esquirio, die nicht erkennen ließ, dass er ein Carenio war.
"Tarnung, werte Tante! Das war notwendig, um unsere Hilfsgüter sicher nach Sewamund zu bringen." Die Tante nickte bedächtig: "Ich sehe schon, du hast an alles gedacht." Grangorion behielt es für sich, dass Alecor derjenige gewesen war, der diesen Vorschlag gemacht hatte. Er beeilte sich aber nun, den Fechter der befreundeten Familie vorzustellen: "Darf ich dir Alecor ya Papilio vorstellen? Er ist mit einem großen dreiachsigen Wagen voller hilfreicher Güter aus der Region Shenilo gekommen, um den Sewamunder Bürgern in ihrer Not zu helfen!" Der Fechter hatte bis zum Eintreffen der Esquiria müßig dem Entladen zugeschaut, stand nun aber kerzengerade und mit eilig frisch gezwirbelten Bart hinter Grangorion. Nun trat er mit gewinnendem Lächeln ein Schritt vor, verbeugte sich tiefer als nötig gewesen wäre und zog seinen Hut for Dimiona: "Dies selbstverständlich nur als bescheidener Statthalter meines Hauses, das Sewamund auf diese Weise die erbetene Hilfe sendet und Euch persönlich die freundlichen Grüße von Gut Montalto überbringen lässt."
Dimiona erwiderte die galante Begrüßung mit einem freundlichen Nicken. "Hocherfreut, Esquirio! Es freut mich sehr Eure Bekanntschaft zu machen und natürlich rührt es mich, wie hilfsbereit sich die Familie ya Papilio gezeigt hat! Es ist eine Schande, dass unsere Stadt auf Hilfsgüter angewiesen ist! Der Baron lässt uns hungern! Umso mehr schätzen mein Verwandter Ricardo und ich die Hilfe aus Montalto. Habt Dank und richtet meinen Dank und die besten Wünsche an die Familie ya Papilio aus! Zunächst aber lasst sehen, was wir an die Bedürftigen weitergeben können!"
Sie ließ sich die Waren auf dem Dreiachser der Papilios ebenso zeigen wie die Güter vom Familiengut Villago. Ab und an konnte man ein "oh, wie fein!" oder ein "Ach, wie ungemein hilfreich!" von Dimiona hören. Am Ende bedankte sie sich und bat die drei Helfer in der Not, mit ihr im Palazzo della Carenio zu speisen und die Nacht zu verbringen. Man konnte erkennen, wie sehr Alecor ya Papilio hin- und hergerissen war. Der Appetit war ihm anzusehen, doch da war noch ein anderer, vorerst unbestimmter Gedanke seiner Miene abzulesen, weniger erfreulich als die Aussicht auf gutes Essen, reichlich Trinken und unterhaltsame Gesellschaft.
Nachdem ihre Gastgeberin enteilt war, um sich für den Abend frisch zu machen, gebot er mit freundlicher, wortkarger Bestimmtheit Leonello und Grangorion zu einem unbelauschten Sechsaugengespräch zwischen den beiden inzwischen ihrer Fracht erleichterten Wagen. "Meine wackeren Reisegefährten", hub Alecor ungewohnt wortreich an. "Ihr kennt Eure edelblütige Verwandte Dimiona so viel besser als ich bescheidener Schlagdrauf. Wäre sie meine feiersinnige Kusine Sharane, die boshafte Nichte Corrada, die berechnende Tante Atrokela oder auch deren ebenso kluge wie wölfintreue Tochter, Kusine Rahjada - ich wüsste wohl, wie ich die Einladung verstehen sollt’. Indes, ihr Carenios seid keine Papilios, sondern weitaus weltgewandter als meine Verwandtschaft und so frage ich Euch: Wäre es vermessen, die gewiss gastfreundlich gemeinte Einladung zu Speisen und Nächtigung auszuschlagen, mit dem Verweis auf die prekäre Versorgungslage der allgemeinen Einwohnerschaft Sewamunds? Oder würde die Esquiria dies als Zurückweisung verstehen? Sollte besser ich allein ihr meine gänzliche… Aufmerksamkeit widmen? In Travia oder in Rahja? Ich habe keine Bedenken, alles für den allseits zufriedenstellenden Abschluss unserer wagemutigen Reise Erforderliche zu erbringen", unterstrich er abschließend und war sich schon im selben Moment nicht mehr ganz sicher, ob er nicht womöglich zuviel in die Einladung gelesen habe.
Dem Wortschwall Alecors nicht ganz so schnell folgend, blickte Gregorion zunächst etwas verständnislos. Leonello hingegen war etwas schneller von Begriff: "Nun, meiner Tante ist offensichtlich nicht bewusst gewesen, dass es seltsam, um nicht zu sagen, arrogant anmutet, mit seinen Gästen zu schmausen, während die einfachen Bürger der Stadt hungern. Eine Zurückweisung würde sie in dieser Hinsicht vermutlich kränken."
Grangorion war inzwischen im Bilde und mischte sich ein. "Ich gehe davon aus, dass diese Einladung der Dank meiner Tante für die von uns geleistete, erfolgreiche Beschaffung der Hilfsgüter sein soll. Sie sieht das als ihre Gegenleistung für Eure und unsere Dienste für den guten Ruf der Carenios in Sewamund." Mit einem schelmischen Grinsen fügte der Esquirio hinzu: "Und wie weit Euer Einsatz für unsere gemeinsame Aktion geht, entscheidet ganz Ihr selbst, lieber Alecor, beziehungsweise unsere Tante. Ich denke, Ihr solltet zunächst traviafromm das Mahl genießen...ob die Einladung darüber hinaus geht, vermag ich nicht zu sagen."
Alecor zeigte ein breites Grinsen: "Dann muss ich in keiner Hinsicht ein schlechtes Gewissen haben", sagte er. "Egal, was der Abend bringen mag. Ich vertraue Phex und meinem eigenen Spürsinn, das Beste aus jeder Situation zu machen - für mich selbst wie auch für unsere gemeinsame Sache, die trotz einiger Umwege vor ihrem erfolgreichen Abschluss steht, meine braven Mitstreiter." Er klopfte Leonello auf die Schulter und nickte Grangorion zu: "Dann lasst uns uns mal den Straßenstaub aus den Gewändern schütteln und uns frisch machen. Zumindest einen ordentlichen Schluck und etwas unbeschwerte Zeit haben wir nach diesen beiden anstrengenden Tagen doch verdient."
Paradieren
Die dicht verhangene Wolkendecke riss auf und die ersten Strahlen der Praiosscheibe zwängten sich durch die vormittägliche Bewölkung, als Grangorion sich im Sattel umdrehte und den Blick auf die Stadt Sewamund richtete, die sie gerade verlassen hatten. Scheinbar friedlich lag sie dort, jenseits der Sewakbrücke, im Licht des noch jungen Tages. Und doch wussten er und und seine Gefährten nur zu gut, dass der Friede täuschte. Sewamund war eine belagerte Stadt, der einzige Zugang die Brücke, die sie gerade überquert hatten. Die Bürger und die zahlreichen Flüchtlinge aus dem Dorf Amarinto, welches niedergebrannt worden waren, litten unter der Belagerung.
Sie hatten versucht, mit ihren Wagenladungen das Leid ein wenig zu lindern. Doch war das nur ein Tropfen auf den heißen Stein und die Gefahr einer vollständigen Belagerung war noch nicht gebannt. Was, wenn der südliche Zugang auch noch in die Hände der Baronstruppen fiel? Was würde dann aus der Stadt und ihren Bewohnern werden? Was würde aus Grangorions Familie und dem Stadthaus? Würden sie wieder fliehen und woanders Zuflucht suchen müssen? Wie einst, als man die Carenios aus Veliris vertrieb? Seine Tante Dimiona versuchte sich ins rechte Licht zu schieben, ihren Einfluss für die Zeit nach der Belagerung zu sichern. Doch was wäre, wenn es kein Danach mehr gäbe und die Familie erneut ihre Wertsachen packen und auswandern müsste? Mit sorgenvoller Miene drehte sich der junge Esquirio um und lenkte sein Ross an die Seite Alecors. Die fachkundig verbundene Rauris saß zum Glück wieder auf Kutschbock des Dreiachsers der Familie ya Papilio, während Leonello den Wagen der Carenios lenkte.
"Es hat doch letztlich fast alles so geklappt, wie wir es geplant hatten, nicht?", fragte Alecor ya Papilio eher beiläufig. "Eure Verwandte werden die guten Sachen doch sicher verlässlich an jene weiterreichen, deren Versorgung am meisten im Argen liegt, nicht?" Leonello und Grangorion wechselten Blicke. Schließlich war es der Esquirio der antwortete: "Seid gewiss, dass meine Tante Dimiona sich nicht nehmen lassen wird, als Wohltäterin vor den Sewamundern dazustehen."
Leonello nickte bestätigend. "Gerodan Vistelli ist eher ein Mann der leisen Intrigen. Dimiona setzt sich gern in Szene. Er wird ihr den Auftritt überlassen und sich als Unterstützer nennen lassen. Dann haben beide ihr Ziel erreicht." Der junge Mann aus Villago rollte mit den Augen. Man konnte erkennen, wie wenig er von dem Geplänkel und den Intrigen der Städter hielt. "Ohne Eure Hilfe aber, werter Alecor, wäre das Unternehmen kläglich gescheitert. Eurem Erfindungsreichtum, diplomatischem Geschick und Eurer flinken Klinge haben wir es zu verdanken, dass wir die Hilfsgüter überhaupt bis nach Sewamund bringen konnten!"
Alecor winkte großmütig ab: "Spielt eure eigene Rolle nicht herunter, mein Guter! Keiner meines Hauses hätte auf die Schnelle die nötigen Anlaufpunkte, die Ortskenntnis und die Logistik dieses Unternehmens organisiert bekommen. Und auch bei der Umsetzung unseres Plans in die Tat hat zwischen Carenio und Papilio ein Zahnrad ins andere gegriffen. Meine Onkel und Tanten werden zufrieden sein - um so mehr, da wir die wünschenswerte Diskretion wahren konnten. Dabei kommt gelegen, dass Eure Tante Dimiona und Euer Onkel Gerodan in Sewamund diese Unterstützung als Carenio-Unternehmung vortragen."
Sein Roß Audax trabte ruhig neben dem Carenio-Wagen her. Dieser, ebenso wie jener der Papilios, rollte ganz ohne Beladung leicht über die breite Straße. Wenn sie das Tempo beibehielten und wenig Pausen machten, könnten sie noch an diesem Abend Gut Villago erreichen. Alecor wusste, dass ihm das Abschiednehmen leicht fallen würde, aber vielleicht konnte er es sich als Gast dort noch ein, zwei Tage gut gehen lassen. Die Verpflichtungen gegenüber der Familie würden ihn früh genug wieder einholen. Und, versuchte er gemeinschaftsdienlich zu denken, auch der verletzten Wagenlenkerin würde eine Pause helfen, schneller wieder zu Kräften zu kommen. "Erwarten Euch daheim auf Villago dringliche Geschäfte?", fragte er Leonello, ohne seine Hintergedanken auszusprechen.
Leonello schüttelte den Kopf. "Die üblichen Arbeiten auf dem Gut. Die Ernte läuft noch. Aber nichts, was über die alltäglichen Erledigungen hinausgeht. Und wie ist es mit Euch, Alecor? Müsst Ihr gleich wieder aufbrechen oder könnt ihr Euch und Rauris eine kleine Rast gönnen?" "Wenn ich zwei, drei Tage ins Land ziehen lasse, ehe ich auf Montalto über das Geschehene berichte, wird das gewiss keinen verwundern", sagte Alecor verschmitzt. "Man könnte meinen, die Verwandtschaft ziehe es mitunter gar vor, mich andernorts und auf Reisen zu wissen. Mit den Verwaltungsdingen und dem Gesellschaftlichen hab’ ich’s nicht so - eine abenteuerliche Unternehmung wie die hinter uns liegende ist mehr nach meinem Geschmack, erst recht, wenn’s noch einen Strauß zu fechten gilt. Ach, und Rauris...", fügte er hinzu: "...ihre Wunde ist ja nicht schwer. Aber um bald wieder voll arbeitsfähig zu sein, schadet ein Päuschen der Guten gewiss nicht." Der junge Carenio nickte. "Das denke ich auch und ich nehme an, dass sich meine Mutter ebenso freuen wird. Sie hat gerne Gäste und bewirtet sie mit viel Hingabe. Rauris und du solltet das ruhig ausnutzen!"
Die Aussicht auf eine wohlgesonnene Hausherrin, noch dazu froh darüber, dass ihr Sohn wohlbehalten zurückkehrte, die ihn, Alecor, umsorgen und danach schauen würde, dass ihm nichts fehlte, stimmte den Schwertgesellen fröhlich. Er grinste seine Begleiter an: "Wir werden nach Montalto aufbrechen, ehe wir beginnen, Frau Darias Gastfreundlichkeit zu sehr zu beanspruchen", gelobte er und trieb sein Roß an, etwas schneller zu traben. Grangorion bemühte sich, mit Alecor Schritt zu halten und gab auch Leonello und Rauris einen Wink, ihren Zugpferden die Peitsche zu geben. Schließlich wollten sie das Landgut Villago noch vor dem Untergang des Praiosmals erreichen. Und wie zur Bestätigung dieses Vorhabens streichelten die Strahlenarme des Göttervaters sanft die kleine Gruppe, die sich nun wirklich auf dem Rückweg zum Gut von Daria della Carenio befand.