Briefspiel:Reise in die Vergangenheit (5)
Autoren: Galebquell, Amarinto
Im Arbeitszimmer der Baronin
Am frühen Abend, nachdem die Baronin von ihrem Ausritt zurückgekehrt war, wurde Lucrann von einem Diener zur Besprechung in ihr Arbeitszimmer gerufen. Während Horadan und Geron die nötigen Arbeiten verrichteten, wie etwa die Waffen und die Wehr ihres Herrn polierten, bat Lucrann seine Ritterin Grimheldis mit sich. Sie war immerhin ebenfalls eine Frau von Stand, eine Ritterin aus altem Adelsgeschlecht und von hervorragender Ausbildung. Und sie war hier, um ihr Schwert und ihre Lanze über Lucrann auch der Baronin von Ruthor zur Verfügung zu stellen.
Vor der Tür mit den feinen Intarsien aus exotischen Hölzern, welche das große Wappen der Barone von Ruthor darstellen, standen zwei Hellebardiere Wache. Als Lucrann und Grimheldis vor ihnen standen, verneigten sie sich wortlos und öffneten die doppelflügelige Tür. In dem ausladenden und mit edlen Möbeln ausgestatteten Raum stand der schwere Eichenschreibtisch mit dem bequemen Sessel dahinter. An den Wänden hingen wie eh und je die Porträts der letzten Barone von Ruthor, hinter dem Schreibtisch das von Oleanas Vater Alwîn di Bellafoldi, dem Comto Seneschall und Wappenkönig des Horasreiches, der in der Schlacht an der Kreuzung von Castarosa nach seinem Seitenwechsel zu den Anhängern Aldare Firdayons gefallen war. Dessen Tod, die Entführung Oleanas, die Machtübernahme der Galahanisten und damit den Ruthor-Konflikt ausgelöst hatte. In diesem Raum hatte sich der Bruder des selbsternannten Barons, Cavalliere Bustio von Selzin das Leben genommen, als die Verbündeten der Bellafoldi das Castello erstürmten, ein dunkler Fleck in dem aus Khunchomer Werkstätten stammenden Teppich zeugte bis heute davon. Die Baronin Oleana hatte darauf bestanden, den Teppich nicht auszutauschen.
Lucrann hatte diese Ereignisse nicht selbst miterlebt, aber wieder und wieder erzählt bekommen - so war es ihm, als sei er selbst dabei gewesen. Alwîn di Bellafoldi, ein heldenhafter Ritter, der Bruder Efferdias und der Vater Oleanas. Darion Amarinto selbst hatte seinen Knappen bei einem Besuch bei der Baronin Oleana di Bellafoldi in diesem Raum die ganze Geschichte erzählt. Damit auch Lucrann wusste oder wissen konnte, was seine Knappenmutter Efferdia zu der Person hatte werden lassen, die sie heute war. Dass zu diesem Zeitpunkt, da Lucrann, der schneidige nordmärkische Knappe, mit seinen gerade erst einmal 16 Jahren das Interesse der vierzehn Jahre älteren Oleana weckte - und dieses Interesse irgendwie auf Gegenseitigkeit beruhte, hatte der heutige Paladin des Horas nicht absehen können und hätte es wohl auch nicht gut geheißen.
Jetzt stand Lucrann wieder in diesem Raum, betrachtete den Teppich und ließ diese Erinnerung anderer auf sich wirken, bis ein knappes Räuspern ihn wieder nach einigen Momenten in die Realität holte. Grimheldis dagegen hielt sich für eine Frau ihrer Größe erstaunlich unauffällig im Hintergrund. Lucrann ahnte, dass der Ritterin aus einem kleinen albenhuser Adelsgeschlecht die gesamte Pracht des Horasreiches, allein dieser Palazzo, beeindruckten. Grimheldis kannte die kleine Burg ihrer Familie, sie kannte die Galebburg, eine kompakte Höhenburg in den Koschbergen, sie kannte natürlich auch den Palast der Gräfin von Albenhus - aber all das war scheinbar nichts im Vergleich zu diesem Palazzo einer ‘einfachen Baronin’ aus dem Horasreich. Zumindest hatte Lucrann die Ritterin während der letzten Wochen ihrer Reise gut genug kennengelernt, um dies einschätzen zu können.
Im Sessel hinter dem Schreibtisch saß jedoch nicht die Baronin, sondern ein etwa 30 Götterläufe alter, gutaussehender Mann mit dunkelblonden Haaren. Seine glänzend polierten Reitstiefel lagen verschränkt auf dem Schreibtisch, während er sich entspannt zurücklehnte und eine kandidierte Kirsche in seinen Mund fallen ließ. Die Baronin stand dagegen am Fenster und blickte auf die Stadt hinaus. Sie trug edle Reitkleidung aus hochwertigem Leder und Samt. Als Lucrann den Raum betrat, wandte sie sich zu ihm um. "Willkommen in Ruthor Cavalliere, Eure Baronin ist erfreut, dass Ihr ihrem Ruf so umgehend gefolgt seid. Ich hoffe Ihr hattet eine angenehme Reise." Sie hatte ein undurchschaubares Lächeln aufgesetzt und betrachtete ihn aufmerksam. "Wie ich höre hat sich der vielversprechende Knappe zu einem respektierten Ritter und Junker entwickelt. Lasst mich Euch meinen geschätzten Gatten, Cavalliere Cuzio Ardismôr vorstellen." Sie deutete in einer sanften Geste auf den Mann im Sessel. Der Angesprochene nahm seine Beine vom Schreibtisch, erhob sich und nahm Haltung an. Dann verneigte er sich. "Willkommen Signor, meine Gattin hat mir nur Gutes von Euch berichtet. Wie erfreulich, dass Ihr den weiten Weg so schnell und hoffentlich ohne Zwischenfälle auf Euch genommen habt!" Sein Lächeln war ehrlich und warm. Er trat hinter den Sessel und ließ Oleana dort Platz nehmen, während diese Lucrann mit einer Geste den Sessel vor dem Schreibtisch anbot.
Lucranns Lächeln war weit und offen, als er Oleana erblickte, die Frau, die er seit Jahren kannte - nun, zumindest mit ihr bekannt war. Was hatte sie alles in den letzten Jahren erlebt - wie konnten die beiden, die früher doch einmal Geliebte gewesen waren, miteinander umgehen? Erstaunlicherweise mochte er Cuzio auf Anhieb. Er nahm ihn nicht als Konkurrenten wahr, ganz im Gegenteil. Dem warmen und ehrlichen Lächeln begegnete Lucrann mit einer ebenso offenen Herzlichkeit und nickte ihm in einer wortlosen Verständigung mit eben diesem Lächeln zu. Natürlich hatte Lucrann bereits gewusst, dass Oleana geheiratet hatte und natürlich wusste er, dass es ein passender, standesgemäßer, politisch wertvoller Ehemann sein musste. Er war schließlich nicht dumm - und immerhin war er selbst mit seiner bezaubernden Rahjalind vom Traurigen Stein verheiratet, wenngleich dieser Bund vor Travia und Rahja (nicht der Bund mit Rahjalind) ihm gelegentlich wie eine Fessel vorkam.
"Signora Oleana, es ist schön, Euch wiederzusehen..." Er lächelte die Baronin an, die selbst so uneindeutig wirkte. "...Signor Cuzio, ich freue mich, Euch kennenzulernen." Sein Lächeln schmolz etwas in sich zusammen. "Auch wenn die Umstände nicht wirklich erfreulich sind." Wieder dachte er an die Botschaft von Efferdia, an den gefallenen Rimaldo und die gefangene Cariana. Was trieb den Baron von Sewamund nur an? Lucrann wusste, dass es die eine und einzige Antwort auf diese Frage nicht gab - aber für ihn persönlich war seine Positionierung klar.
Er winkte kurzerhand Grimheldis zwei Schritte näher herbei. "Darf ich Euch Signora Grimheldis von Unkenau, Ritterin des Goldenen Widders der Baronie Galebquell, vorstellen? Sie begleitet mich und wird als meine Ritterin Schwert und Schild Euch, Baronin von Ruthor, zur Verfügung stellen." Die große Ritterin verbeugte sich zackig. "Euer Hochge...Signora...Oleana di Bellafoldi." Ja, sie mochte stolpern, aber Lucrann bemerkte, wie sich die Ritterin aus der albenhuser Provinz wirklich bemühte. "Es ist mir eine Ehre." Als sie sich wieder aufrichtete und stramm stand, sah man ihr an, dass diese Körperhaltung ihr deutlich eher entsprach.
Die Baronin betrachtete die hochgewachsene Ritterin und setzte schließlich ein freundliches Lächeln auf. "Signora, ich fühle mich geehrt, dass ihr den weiten Weg auf Euch genommen habt, um für unsere Sache zu streiten. Seid herzlich willkommen in Ruthor. Wenn ihr etwas benötigt, wendet Euch doch gerne an meinen Onkel, den Haushofmeister Baronet Answin di Bellafoldi. Er wird sich darum kümmern." Sie nickte ihr respektvoll zu und wandte sich dann wieder Lucrann zu. Die stramme Ritterin erwiderte das Nicken und hielt sich dezent im Hintergrund. Oleana sah ihm aufmerksam in die Augen. "Ihr habt sicherlich Fragen dazu, warum Ihr überhaupt hier seid und wie die Lage aussieht?"
Der jüngere Mann nickte und verschränkte die Arme vor seiner Brust. "Ja. Eure Tante Efferdia hat mir bereits von dem Sturm auf die Feste Amardûn erzählt, von dem Tod Rimaldo Amarintos und der Gefangennahme Carianas. Aber den derzeitigen militärischen Stand und Eure Pläne zu meinem, unserem..." Ein Seitenblick fiel auf Grimheldis. "...Einsatz hat sie mir natürlich noch nicht erläutert. Wie ist der derzeitige Status, wo steht Signor von Streitebeck und wie hält er sich?" Oleana bemerkte durchaus, dass Lucrann - vorerst? - nicht nach dem Warum fragte, sondern nach dem derzeitigen Zustand. Natürlich wusste sie auch um seine Ausbildung beim Strategen und Taktiker Darion Amarinto, der seinen Ruf nicht ohne Grund genoss.
Die Baronin ließ keine Emotionen erkennen, als er die tragischen Ereignisse der letzten Woche ansprach. Sie war über die Jahre immer mehr in ihre Rolle als Herrscherin und Politikerin hineingewachsen und machte dem Erbe ihres bewunderten Vaters alle Ehre. Sie lehnte sich in den mit kunstvollen Intarsien versehenen Sessel aus Kirschholz zurück, legte die Unterarme auf dem massiven Schreibtisch ab und verschränkte die Finger. Langsam begann sie zu sprechen.
"Irion von Streitebeck war immer schon ein sehr ambitionierter Mann, geschickt hat er sich im Windschatten des Thronfolgekriegs zum Baron von Sewamund aufgeschwungen und die Patrizier der Stadt zugleich belohnt und zu seinen Gunsten hintergangen. Es war ein offenes Geheimnis, dass er stets auf die Position des Statthalters von Phecadien, des Herzogs rechter Hand, geschielt hatte. Nur eine Sache stand ihm dabei im Weg, das schnöde Gold. Er hatte sich zur Erreichung seiner Ziele hoch verschuldet und es war nur eine Frage der Zeit bis ihn die Schulden einholen würden. Dieser Zeitpunkt ist nun gekommen."
Ein spöttisches Lächeln schlich sich auf ihr Gesicht. "Er hat einen großen Fehler gemacht, er hat die Sewamunder Patrizier unterschätzt. Sie haben sein Manöver durchschaut und zum ersten Mal überhaupt ist ihm die Kontrolle über die Lage entglitten. Aber wie es seiner Natur entspricht, hat er sich nicht zurückgezogen, sondern die Einsätze erhöht. Ein Sieg könnte ihn seinem Traum von der Macht in Phecadien sehr nahe bringen, eine Niederlage könnte ihn alles kosten." Sie sah zufrieden aus. "Ich empfinde Mitleid mit ihm, wie er die Steuererhöhung in Sewamund gegen den Willen der Patrizier durchgesetzt hat, war ein Lehrstück in politischer Manipulation. Leider ist die Angelegenheit nun eskaliert und andere politische Figuren drängen auf die Bühne." Ihre Mimik machte keinen Hehl daraus, dass sie unter anderem sich selbst damit meinte.
Lucrann lauschte und unterbrach sie nicht. Lediglich sein Mienenspiel, welches nicht so beherrscht war, wie das der Baronin, zeigte an manch einer Stelle eine Regung. Jetzt nickt er, denn auch wenn die hohe Politik des höheren Adels ihm eher abhold war, so verstand er doch mehr davon, als ihm manchmal lieb war. Oleanas Worten entnahm er, dass die Waage nun ausschlagen konnte - doch zu wessen Gunsten, das würde sich noch erweisen.
"Aber um zu den Fragen zu kommen, was die Schwertarme meiner treuen Cavallieri und Lehnsleute in dieser Angelegenheit tun können..." Sie blickte zu ihrem Gatten, der eine zusammengerollte Karte aus einem Schrank geholt hatte und nun auf dem Schreibtisch ausrollte. Lucrann winkte Grimheldis näher, die sich neben ihm aufbaute und mit vor ihrer für eine Frau ihrer Größe eher flachen Brust verschränkten Armen auf die ausgerollte Karte blickte. Lucrann hatte ihr bereits auf dem Weg von Galebbogen bis in die Septimana bei jedem Aufenthalt anhand einer Karte der Region erklärt, wo welche Stadt zu finden war, welches Land welchem Herrscher unterstand und wo Straßen verliefen und Festungen standen - soweit es sein Wissen noch hergab.
Die Karte zeigte die Septimana und das angrenzende Yaquirien. Die Baronin deutete auf einige Stellen nördlich von Sewamund. "Das Heer von Baron Irion hat die Feste Amardûn, Burg Trebesco und das Castell della Leonis am Sewak eingenommen und steht vor Sewamund und hat die gesamte Baronie abgeriegelt. Sewamund kann weiterhin von Süden über die Sewakbrücke versorgt werden, aber auch der Hafen ist blockiert. Anscheinend hat der Streitebeck auch irgendwelche Piraten oder Freibeuter in seine Dienste genommen." Lucrann runzelte die Stirn und fuhr mit seinem schlanken Finger die verschiedenen Punkt ab, auch um ohne große Worte Grimheldis noch einmal zu demonstrieren, wovon Signora Oleana sprach.
"Das Concilium Ostreae und ich haben ein Bündnis mit dem Lilienrat geschlossen, der Heerbann von Stadt und Baronie wird sich unter meinem Constabler Dareius Amarinto dem Heer des Lilienrats anschließen und gegen Baron Irion ins Feld ziehen, so es denn notwendig werden sollte. In Anbetracht der Schäden für den Handel und der infamen Gefangennahme meiner Cousine Cariana bleibt mir als Baronin von Ruthor keine andere Wahl als dem Baron von Sewamund die Fehde zu erklären." Es blieb unausgesprochen, war aber offensichtlich, dass dies nur ein Vorwand war, das Bündnis mit dem Lilienrat auch mit einer offiziellen Legitimation zu versehen.
"Für meine treuen Ritter wird es also vermutlich genug Aufgaben bei der Führung des Heerbanns geben, im Beraterstab meines Constablers beispielsweise. Zudem harrt meine tapfere Cousine weiterhin auf die Rettung aus ihrem eigenen Verlies und mit ihr einige andere hochstehende Personen." Sie ließ ihre Worte wirken und wartete ab, ob ihr Cavalliere weitere Fragen hatte.
Lucrann hatte aufmerksam zugehört und betrachtete noch einmal die Karte, um sich das von Oleana geschilderte in sein Gedächtnis einzuprägen. Sewamund reihum bis auf die Sewakbrücke abgeriegelt, die Feste Amardûn besetzt. Und die Burg Trebesco und das Castello della Leonis. Die Baronin sah, wie Lucrann für einen Moment die Augen aufriss. Dann hob er sein schönes Gesicht und schaute in das ihre: "Amardûn, Trebesco, della Leonis. Sewamund abgeriegelt. Wie viele Truppen hat der Kerl denn?" Er fuhr sich mit seiner Hand durch seinen Lockenkopf. "Und wie viele wir?" Wir. Oleana, als Politikerin an feinste Nuancen gewöhnt, fiel es gleich auf.
Sie runzelte kurz die Stirn. "Er hat umfassende Söldnerkontingente in seine Dienste genommen, vor allem aus dem Yaquirbruch und Drôl, aber auch die Goldene Legion und einige kleinere Söldnerhaufen. Dazu kommen wohl noch Verstärkung durch seine Cousine Haldana von Streitebeck aus dem Windhag, sowie weitere Söldner aus Albernia und Almada. Nicht zuletzt die Hausgarde der Streitebeck und die Garden ihrer Verbündeten. Wir müssen davon ausgehen, dass sich die Kopfzahl seines Heeres zwischen einem und zwei Regimentern bewegt." Sie ließ die Aufzählung erst einmal auf ihren Cavalliere wirken. Lucrann sog die Luft scharf durch seine Nase ein, die Nasenflügel bebten. Seine Augenbrauen zogen sich zusammen, eine Falte zeigte sich auf seinem sonst so ebenmäßigen Gesicht. Zwei Regimenter, was mochte das...
"Ihr fragt Euch sicherlich, wie er sich das leisten kann." Sie lächelte dünn. "Natürlich hat er wohlhabende Unterstützer, die ihm umfassende Kredite eingeräumt haben. Wer in der Septimana so wohlhabend ist, muss wohl nicht erwähnt werden." Die Art wie sie dies sagte, ließ keinen Zweifel daran, dass sie die Kaufleute der anderen, mit Sewamund konkurrierenden, Seestädte meinte. "Zudem hat er jeden noch so kleinen Gefallen eingefordert, den ihm jemand schuldig war. Baron Irion war stets ein Mann, der es geschickt verstand, Abhängigkeiten zu erzeugen."
"Nicht schlecht." brummte der Cavalliere und erntete einen skeptischen Blick der Baronin und einen überrascht-ironischen von deren Gemahl. Lucrann zuckte mit den Achseln. "Ich meine, es ist schon bewundernswert, welche Anstrengungen Signor Irion unternimmt, nur um seinen Hals doch noch aus der Schlinge zu ziehen, obwohl seine Machenschaften offenbar aufgefl...aufgedeckt wurden." Oleanas Gesichtsausdruck veränderte sich nicht, von Respekt war nicht viel darin zu lesen. Lucrann verschränkte erneut die Arme vor seiner Brust. "Und wie viele Bewaffnete stehen uns zur Verfügung?"
Sie nahm ein Schriftstück zur Hand und fasste es zusammen. "Der Heerbann meiner Baronie und der Landstadt Ruthor" umfasst derzeit meine Hausgarde, die Piratenjäger, sowie die Ruthorer Hellebardiere des Rates. Darüber Hinaus wurde der Söldnerhaufen von Condottiere Eriakos dyll Arÿios unter Vertrag genommen. Die Städte Serillio und Pelêshir haben ihre Miliz mobilisiert, Cavalliera Varina di Saliucello, Cavalliere Leomar de Gerimaldi und Esquiria Tairena Carson haben jeweils einige Waffenknechte aufgeboten. Alles in allem ein Bataillon. Hinzu kommen zwei bewaffnete Schiffe mit einigen Seesöldnern, die Sewamund von See her schützen sollen." Wieder runzelt der Ritter die Stirn. "Ein Bataillon. Gegen ein bis zwei Regimenter." Er sog wieder scharf die Luft durch die Nase ein. Sie drehte das Blatt um und las auf der Rückseite. "Von meinen Lehnsleuten Baronet Batiste d’Imirandi, dem Schirmer der Flut Mondino von Calven und Baronet Leomar Gabellano habe ich bisher keine oder nur hinhaltende Antworten erhalten. Richtig?" Sie blickte fragend zu ihrem Gatten, der bestätigend nickte. "Wir sollten also davon ausgehen, dass sie also nur das absolute Minimum beitragen werden." Sie sagte das in einem Ton, als ob sie nichts anderes erwartet hätte.
Ihr Gatte Cuzio legte ihr sanft die Hand auf die Schulter. "Baronin, ihr habt Selzin vergessen." Er lächelte milde. Oleana atmete tief ein. "Ja, richtig. Danke. Selzin hat eine Bandiera der Brüder des Blutes angeworben, aber in der aufsässigen Tradition ihrer früheren Herren, sehen sie sich als selbständiger Verbündeter des Lilienrats und nicht Teil meines Aufgebots." Lucrann erinnerte sich, dass die Stadt Selzin, der frühere Stammsitz des Hauses Selzin, welches damals im Thronfolgekrieg nach der Baronskrone von Ruthor gegriffen hatte, nun ein enger Verbündeter der Sewamunder war und nach Autonomie trachtete. Die Baronin schüttelte nur abfällig den Kopf.
"Die Brüder des Blutes?" Es war eine rhetorische Frage, Lucrann hatte seine Baronin schon verstanden. Die Brüder des Blutes, so erinnerte er sich aus den Berichten und Lehrstunden seines Knappenvaters, waren nicht unbedingt zimperlich und mochten eher Kor denn Nandus oder Rondra huldigen. Er runzelte die Stirn, hob den Blick und schaute die Baronin an. "Was ist mit den Amarinto? Oder dem Lilienrat? Die Familien des Lilienrates werden sich doch mit Sicherheit nicht nur auf Euch verlassen?"
Baronin Oleana schüttelte in einer ruhigen Geste den Kopf. "Nein, natürlich nicht. Der Lilienrat hat seinen eigenen Heerbann aufgestellt, im Kern die Sewakgarde, die Miliz der Stadt und einige Söldner die durch die kleineren Adelsfamilien finanziert werden. Die Amarinto haben, wie nicht anders zu erwarten, ihre Familienmitglieder zusammengerufen und eine Einheit Schlachtreiter mit entsprechendem Gefolge aufgestellt. Dazu noch ihre Gjalsker Söldner unter Gon Arradh..."
Sie sprach den Namen des Gjalsker Barbaren mit Respekt aus. Er hatte ihr damals auf dem Turm des Castello, in dem sie nun saß, das Leben gerettet und den Usurpator der Ruthorer Baronskrone Rimaldo von Selzin mit einem gezielten Wurfspeer zu Boron gesandt, bevor dieser sie vom Turm hatte stossen können. "...sowie die Schildraben von Condottiere Karinor Degano. Alles in allem, etwa drei Bandieras, nur von den Amarinto allein." Sie runzelte die Stirn ein wenig. "Aber auch die anderen Patrizier haben kleinere Gruppen von Söldnern angeworben und Verbündete zu Hilfe gerufen. Das Haus d'Illumnesto aus Pertakis ist als Verbündete der Amarinto und della Carenio sogar mit einer ganzen Eskadron der Rommilyser Reiterei aufmarschiert. Dazu kommt noch ein gemischtes Aufgebot aus Shenilo, welches die dortige Eteria dem Lilienrat zugesagt hat. Durchaus überraschend aus meiner Sicht. Letztlich kann unsere Seite in etwa auf ein ähnlich großes Aufgebot zählen wie der Baron, auch wenn seine Seite vielleicht mehr Erfahrung aufweist."
Lucrann nickte nach dieser Aufzählung all der Verbündeten ehrfurchtsvoll. Sie legte beide Hände flach auf den Tisch und sah Lucrann erwartungsvoll an. "Also, was denkt Ihr, Cavalliere? Eure Perspektive des bislang Außenstehenden erscheint mir von allen meinen Berater am neutralsten, daher bin ich gespannt, wie Ihr die Lage bewertet."
Lucrann erwiderte den Blick, schaute der Baronin in ihr feines Gesicht. Jetzt saß vor ihm nicht die wunderschöne Herrscherin eines mächtigen Lehens, nicht die in der höfischen Kunst bewanderte Edeldame, nicht die frühere Geliebte, die Gefallen an einem jungen, schönen Knappen gefunden hatte - vor ihm saß die Kriegerin, die Heerführerin, die bereit war, ihre Truppen in die Schlacht zu führen, entschlossen und unbeugsam. Das schöne Gesicht, welches damals Begehren in ihm ausgelöst hatte (und auch heute noch auslöste - sie war einfach eine schöne, stolze, begehrenswerte Frau - wusste Cuzio dies zu schätzen oder sah er nur die Macht und den Einfluss?), war hart, zeige diese Entschlossenheit der Heerführerin. Lucrann konnte nicht anders (und er wollte es auch nicht), er bewunderte die Baronin, nein, er bewunderte Oleana.
Ohne auf die Karte zu schauen, ohne den Blick von ihren entschlossenen Augen zu lösen, antwortete er ihr: "Dieser Außenstehende kann sich jetzt nur auf das stützen, was er weiß - von Euch und Efferdia." Er grinste kurz, fuhr dann jedoch fort: "Zahlenmäßig sind die Verhältnisse ausgeglichen, das sagtet Ihr bereits. Signor Irion hat zahlreiche Mercenarios unter Sold, die Euren Truppen hinsichtlich Kampferfahrung überlegen sind." Oleana verzog keine Miene, Lucrann konnte nur ahnen, was hinter dieser Stirn vor sich ging. "Doch eines hat er vermutlich nicht..."
Lucrann machte eine kurze, eine wirklich kurze und doch deutliche Pause. "...Verbündete." Viele andere hätten jetzt die Stirn gerunzelt, doch die Baronin hob nur eine Augenbraue. "Versteht mich nicht falsch, natürlich hat Signor Irion auch Unterstützer. Aber Euch und Sewamund unterstützen mehr Parteien aus freien Stücken, so wirkt es auf mich, und nicht, weil Sie Sold erhalten. Signor Irions - korrigiert mich, wenn ich falsch liege - eher zweifelhafte Machenschaften sind offenbar geworden und daher wäre selbst bei einem Sieg sein Status als Baron unsicherer als vorher."
Der im Horasreich ausgebildete, aber in den Nordmarken geborene Ritter runzelte nun selbst kurz die Stirn. "Nach einem Sieg würden seine Unterstützer, die Feinde Sewamunds, ihn mit Sicherheit unter Druck setzen für eine ihnen genehme Politik. Dagegen hat er bei einer Niederlage alles zu verlieren: seinen Titel als Baron von Sewamund, sein wohlhabendes Lehen, den Einfluss auf die Stadt Sewamund und im Herzogtum Grangor. Ich möchte fast meinen, er kämpft mit dem Mut der Verzweiflung." Nun schaute der Cavalliere doch kurz auf die Karte. "Da er die Feste Amardûn, Burg Trebesco und das Castell della Leonis besetzt hat, dürfte ein Teil seiner Truppen sich dort aufhalten." Er hob den Blick und sah die Baronin und auch den neben ihr stehenden Cuzio an. "Oder hat er die Festungen geschleift?"
Oleana schüttelte den Kopf, aber weniger energisch als zuvor bei der Frage nach den Verbündeten. "Die Berichte sind widersprüchlich. Augenscheinlich wurde die Feste Amardûn von den Truppen Irions besetzt, möglicherweise bezieht er selbst dort Stellung. Das Castell della Leonis soll unbeschädigt sein, Berichten zufolge durch Verrat gefallen und die Burg Trebesco soll ein leichtes Ziel gewesen sein."
Lucrann nickte. "Dann muss er, um diese Festungen und ihre strategische Bedeutung halten zu können, seine Truppen aufteilen." Er hielt kurz inne, um Grimheldis auf der Karte die genannten Festungen zu zeigen. Er schaute seine Ritterin an. "Das Castell della Leonis ist die alte Grenzfeste zwischen der Baronie Veliris hier und der Baronie Sewamund und bewacht die Furt über den Sewak." Er fuhr mit seinem Finger den Fluss entlang. "Sie wurde schon oft umkämpft, erobert und zurückerobert. Seit dem Thronfolgekrieg wird sie von der Stadt Sewamund verwaltet. Die Burg Trebesco hier an der Küste zwischen Farsid und Sewamund ist eine alte Burg ohne großen Verteidigungswert, vor allem die Stammburg des Hauses Tribêc. Sie wurde vor ein paar Jahren bei einem Piratenüberfall beschädigt und ist immer noch nicht renoviert. Hier liegt noch die Festung Ardenhain zwischen Farsid und Veliris, aber auf sewamunder Grund. Sie gehört dem Herzog und wird von dessen Garde bemannt. Rimaldo Amarinto war da der Kastellan. Daher dürfte sich Signor Irion von ihr fernhalten. Die Feste Amardûn liegt ebenfalls an der Küste, ist jedoch strategisch bedeutsamer als die Burg Trîbec, da sie die Straße zwischen Farsid und Sewamund direkt kontrolliert."
Aufmerksam folgte die Ritterin den Erläuterungen Lucranns und auch den mimischen oder verbalen Einwänden der Baronin. "Also..." Sie hob den Blick und schaute die Baronin an. "Darf ich?" "Natürlich, Signora, bitte." forderte diese Grimheldis knapp auf. "Also kontrolliert der Baron Irion von Streitebeck nun zumindest zwei strategisch wichtige Festungen, Amardûn und..." Sie stockte kurz. "...das Kastell dell la Leonis und dazu mit der Burg Trebesco eine mit geringerer strategischer Bedeutung." Oleana, Cuzio und Lucrann nickten. "Und er kontrolliert den Hafen Sewamunds."
Wieder nickten die drei. Lucrann wusste, Grimheldis hatte als junge Ritterin im Jahr 1039 BF an den Feldzügen gegen Helme Haffax teilgenommen - und sie überlebt. Auch wenn sie in der Schlacht von Mendena, ebenfalls an einer Küste auf der anderen Seite des Kontinets, schwer verwundet worden war, hatte sie diese Verletzungen mit der Zeit überwinden können. "Insofern befindet er sich in einer strategisch günstigeren Position. Wir müssten Sewamund weit umschreiten und das würde Zeit und Energie kosten. Je nachdem, welche anderen Übergänge noch bestehen - Brücken oder Furten." Sie hob den Blick und schaute Lucrann, ihren Lanzenführer an. Oleana bemerkte durchaus, dass die Ritterin sich nicht schaute, ihren Lanzenführer auch kritisch zu beraten. Der nickte und verschränkte wieder die Arme vor der Brust. "Durchaus, Grimheldis, durchaus. Das sind die Feinheiten in der Planung. Dennoch bleibe ich dabei: Ich denke, Signor Irion ist verzweifelt. Und verzweifelte Heerführer machen Fehler. Diese Fehler können provoziert werden. Und diese Fehler können genutzt werden."
Überraschenderweise ergriff nun Cavalliere Cuzio das Wort anstelle seiner Gattin. Er lächelte freundlich. "Es ist interessant, dass Ihr also zum selben Schluss gekommen seid wie die Berater meiner Gattin, allen voran Constabler Dareius Amarinto. Man könnte fast glauben, ihr hattet den selben Lehrer." Er zwinkerte Lucrann zu. Der erwiderte mit einem Grinsen, in dem Cuzio einen gewissen Stolz wahrnehmen konnte. Oleana erinnerte sich, Lucrann war als junger Knappe ein wahrer Bewunderer des einige Jahre älteren Dareius gewesen, dem er versuchte in rondrianischen wie auch Liebesangelegenheiten nachzueifern.
Die Baronin schmunzelte ob der Anmerkung ihres Gatten. Dann wurde ihre Miene wieder Ernst: "Ein Umgehung von Sewamund ist quasi unmöglich. Die nächste Furt über den Sewak ist bei Veliris, unser Heer müsste die Ländereien der Barone von Shumir und Veliris durchschreiten. Ersterer würde uns vermutlich passieren lassen, aber der Bruder des Barons von Veliris ist mit Baron Irions Adoptivtochter vermählt. Auch wenn er sich nicht offen auf die Seite des Streitebecks gestellt hat, können wir von ihm keine Hilfe erwarten. Der einzige Weg den unser Heer gehen könnte ist direkt durch das Nordtor Sewamunds. Daher glauben wir auch nicht, dass Baron Irion das Castell della Leonis mit mehr als einer Rumpfbesatzung bemannt hat, er wird durch Veliris so oder so geschützt. Die Burg Trebesco ist strategisch ohne großen Wert, aber eine Landung mit Schiffen im Rücken seines Heeres fast unmöglich, so lange seine Schiffe die Bucht von Grangor kontrollieren."
Sie wartete einen Moment bevor sie fortfuhr. "Wir müssen also davon ausgehen, dass der Großteil seines Heeres vor Sewamund konzentriert ist. Ein strategisches Patt also, wir wollen die schützenden Mauern der Stadt nicht verlassen und er will die Stadt nicht direkt belagern. Derweil bluten beide Seiten Gold und Ressourcen um das Waffenvolk in ihren Diensten zu halten. Ein großartige Zeit für die Condottieri."
"Diese Pattsituation klingt...ungünstig, Signora." Lucrann verschränkte wieder die Arme vor seiner Brust und schüttelte mit dem Kopf. "Wir brauchen kleinere Einsatzgruppen, die gezielt an Schwachpunkten eingreifen - damit die Truppen Signor Irions sich aufteilen." "Viel Rauch, Euer Wohl...Signor." ließ sich Grimheldis vernehmen. Lucrann nickte. "Das meine ich." Er sah sie kurz an. Die hochgewachsene Ritterin wiegte mit leichtem Zweifel ihren Kopf hin und her. "Ist es der Rondra gefällig mit kleinen, vielleicht sogar verdeckten Einheiten zu operieren?"
"Ist es Rondra gefällig, in einer solchen Pattsituation Land und Leute zu bedrohen?" konterte Lucrann - nicht aggressiv, sondern mit einem Hauch von Besorgnis. "Mein Gedanke wäre, mit diesen kleineren Einsatzgruppen genug Rauch aufzuwirbeln, um letztlich Signor Irion zu einem taktischen Fehler zu verleiten." Grimheldis schaute nun von Lucrann zum Baronspaar. "Verzeiht diese vielleicht dumme Frage, Euer Ho… Signora. Ihr erwähntet den Söldnerhaufen von Condottiere...Eriakos dill Arü-os und..." Sie verharrte kurz. "...die Schildraben von Condottiere Karinor Degano. Ich kenne diese Einheiten nicht, sind sie geeignet für derartige Einsätze?" Lucrann horchte auf. "Ja, Signora, wenn ich mich recht erinnere, haben die Schildraben doch unter anderem eine Leichte Reiterei als Aufklärer?"
Die Baronin lächelte milde, sie hatte den beiden Nordmärkern wortlos zugehört, als diese bereits die taktischen Feinheiten des kommenden Konflikts zur Debatte stellten. "Entschuldigt, Signores. Die Kriegführung ist bekanntermaßen ein Bereich, den ich mehr kompetenten Persönlichkeiten überlasse. Daher würde ich Euch für diese Fragen an meinen Constabler, meinen geschätzten Cousin, Cavalliere Dareius Amarinto verweisen. Er hält sich derzeit, wie es sich für einen Offizier gehört, in Sewamund auf, wo er die Planungen mit unseren Verbündeten im Lilienrat aufgenommen hat. Ihr solltet baldmöglichst dorthin aufbrechen und alles weitere mit ihm besprechen. Aber habt ihr vorher noch Fragen, die sich nicht auf militärische Feinheiten konzentrieren?"
"Ich denke, Signora..." meinte er nordmärkische Junker galant. "...die Zeit für erheiternde Geschichten über die Erlebnisse der letzten Jahre ist noch nicht gekommen." Er verbeugte sich leicht. "Ich, wir sind gekommen, um zu helfen." Er richtete sich wieder auf und sein ernstes Lächeln erreichte nicht ganz seine Augen. "Über ein gemeinsames Abendessen..." Hier warf er auch Cuzio einen höflichen Blick zu. "...zu angemessener Zeit würde ich mich wirklich freuen, aber ich denke, ich sollte mich mit Dareius über weitere Einsätze beratschlagen."