Briefspiel:Kaiserjagd/Bündnis auf Zeit
Bündnis auf Zeit
1. Firun 1046 BF, mittags, Aldyra
Autor: Amarinto
Die Sonne legte sich über die weitläufigen Felder vor Aldyra, ein sanftes Leuchten, das die frostige Kälte der Nacht langsam verdrängte. Die Felder waren gesprenkelt mit kleinen Gruppen von Jägern und Jagdgesellschaften, die sich auf die bevorstehende große Kaiserjagd vorbereiteten. Hier und da funkelten die Abzeichen der Adligen im Morgenlicht, und das leise Murmeln von Gesprächen vermischte sich mit dem Schnauben der Pferde und dem Klirren der Jagdausrüstung.
Lemiral Wolkenflug stand etwas abseits des Getümmels, ihre Haltung stolz und aufrecht. Die kalte Luft schien ihr nichts anzuhaben; im Gegenteil, sie fühlte sich in dieser Umgebung zu Hause. Ihr hochwertiges, aber dennoch praktisches Gewand aus Wolfsfell und der kunstvoll verzierte Jagdbogen auf ihrem Rücken verstärkten ihre Aura der Entschlossenheit. Ihr scharfen Augen suchten das Feld nach bekannten Gesichtern ab, der Hauch eines zufriedenen Lächelns spielte um ihre Lippen – heute war ein Tag der dem frostigen Vater zur Ehre gereichen würde.
Doch dann blieb ihr Blick an einer Gestalt hängen, die sie nur zu gut kannte. Asariel Rehsprung, ebenfalls eine Dienerin Firuns, war nur wenige Schritte entfernt und stand bei einigen Phecadiern. Ihr schwarzes Haar war unter einem Mantel aus Hirschleder verborgen, und ihre smaragdgrünen Augen blitzten unter dem Rand der Kapuze hervor. Sie war in tiefe Gespräche mit einem der Jäger vertieft, doch als ob sie Lemirals Blick gespürt hätte, wandte sie den Kopf zu ihr.
Die Luft zwischen ihnen schien augenblicklich zu gefrieren. Sie waren sich in den letzten Götterläufen selten begegnet, aber jedes Mal war es in firungefälliger Kälte geschehen. Keine von ihnen hatte je nachgegeben, weder in den Auseinandersetzungen über Firuns Lehren noch in den Jagdwettkämpfen, die sie beide an ihr Äußerstes trieben.
Asariel trat einen Schritt nach vorne, das Kinn erhoben, die Augen kühl.
„Lemiral. Wie passend, dass wir uns hier treffen – zu Beginn der größten Jagd der jüngeren Geschichte. Unser Herr wird wohl entscheiden müssen, wem seine Gunst mehr gilt.“
Ihre Stimme war ruhig, doch in ihren Worten lag ein stichelnder Unterton.
Lemiral nickte knapp, ohne die provokante Bemerkung zu beachten. „Firun belohnt die Stärkste. Wir wissen beide, wer das ist.“
Ihre blauen Augen funkelten herausfordernd.
Ein leises Flüstern von einem der umstehenden Jäger brachte die Spannung beinahe zum Bersten. Doch bevor eine von ihnen etwas entgegnen konnte, erhob sich ein Tumult in der Nähe. Die Aufmerksamkeit beider Geweihten wurde sofort abgelenkt, als ein Adliger, gekleidet in prächtige Jagdkleidung, plötzlich vom Pferd stürzte und sich mit Schmerz verzerrtem Gesicht am Boden krümmte.
Die Menge rückte zusammen, Stimmen erhoben sich, und einige der Jäger eilten zu dem Gestürzten, um ihm zu helfen. Lemiral und Asariel tauschten einen kurzen, wortlosen Blick und gingen gleichzeitig auf den Vorfall zu.
Als sie näherkamen, erkannte Lemiral das Wappen des Hauses Durinquell auf dem Mantel des Mannes. Es war kein Geringerer als Cavalliere Rowin von Durinquell, ein meisterlicher Jäger und Landvogt von Venga. Sein Gesicht war vom Schmerz verzerrt und er hielt sich den linken Arm.
„Was ist passiert?“, fragte Asariel und kniete sich neben den Cavalliere.
„Der Sattel ...“, flüsterte Rowin und keuchte. Sein Arm sah gebrochen aus.
Lemiral beugte sich über den Sattel, der mit dem Cavalliere am Boden lag und bemerkte den gerissenen Riemen, der auffällig angeschnitten aussah. Mit geschultem Blick untersuchte sie den Riemen, während Asariel den Bruch mit einem Balsam Salabunde heilte. Schon kurze Zeit danach konnte Rowin von Durinquell wieder aufstehen und sogar den eben noch gebrochenen Arm wieder belasten. Er bedankte sich überschwänglich bei der Geweihten, die emotionslos abwinkte.
„Nichts zu danken, Signor. Ihr wisst ja, wo der Opferstock in meinem Tempel steht.“
Lemiral jedoch zog die Brauen zusammen und berührte Asariels Arm.
„Das war kein Unfall, jemand hat den Sattel manipuliert.“
Das Eis in ihren Worten war fast verschwunden.
Asariel nickte knapp, ihre Gedanken rasten. „Wer würde so etwas wagen? Und warum ausgerechnet bei der Kaiserjagd?“
Bevor sie eine Antwort finden konnten, stieg plötzlich ein lautes Hornsignal über das Feld. Die Jagd würde bald beginnen und die Teilnehmer begannen sich auf ihre verabredeten Positionen für die Eröffnung durch den Kaiser zu begeben.
Doch Lemiral und Asariel blieben noch ein wenig zurück. Beide wussten, dass etwas Dunkles über der Jagd lag, etwas, das über die Rivalität hinausging, die sie beide so lange gepflegt hatten. Der Kaiser selbst würde an diesem Tag jagen, und wenn jemand politische Anschläge verübte, dann war dies nicht nur ein Frevel am Herren der Jagd, sondern auch ein Verrat am Kaiser.
Asariel sah Lemiral mit einem ernsten Blick an. „Es scheint, dass wir diesmal gemeinsam jagen müssen – aber nicht nach Wild.“
Lemiral erwiderte den Blick mit einem widerstrebenden Nicken.
„Nur dieses eine Mal. Zu Ehren des Weißen Jägers.“
Sie reichte ihrer Widersacherin die Hand und ihre Blicke rangen miteinander, sie mochten erbitterte Rivalinnen sein, aber dennoch waren sie Dienerinnen des eisigen Herrn und würden alle strafen, welche sich an seinen Lehren und der Heiligkeit der Jagd versündigten.