Briefspiel:Kaiserjagd/Eine magische Nacht II
Eine magische Nacht II
30. Hesinde 1046 BF (Wintersonnenwende, Erleuchtungsfest), Einhornwälder
Autor: Gonfaloniere
Dulcinea, die drittgeborene Tochter der urbasischen Priora curatoris Leonore, war eine der ersten Schwestern ihres Zirkels, die in dieser sternenklaren Nacht auf der Lichtung inmitten der Einhornwälder landeten. Dabei hatte sie weder den kürzesten Weg zurückzulegen, noch war sie ebenjenen ohne Umwege geflogen. Mit der hoch in den Goldfelsen heimischen Siphiona hatte sie sich noch in den Ruinen von Zifirrion getroffen, dem Schauplatz des letzten Hexentreffens, bevor beide zusammen zum Treffpunkt des Winterfests aufgebrochen waren.
Die Silberstadt an der Argennamündung, ihre Heimat, hatten sie überflogen, als es bereits dunkel wurde. Deren Lichter waren mit die letzten fremden Lichtquellen am Boden, die ihnen auf dem Weg hierher begegneten. Von Alicorno, dem ihrem Treffpunkt nächstgelegenen Ort nördlich des Waldes, war wenig zu sehen gewesen. Und doch wurden ihr, Dulcinea, die Wunden, die dort vor einem halben Dutzend Götterläufen in den Leib Sumus gerissen wurden, bei jedem ihrer Aufenthalte in dieser Gegend noch immer wieder allzu bewusst.
Inzwischen loderte das Feuer, das zum Zentrum ihres nächtlichen Treibens werden sollte, hoch auf. Rund zwanzig Schwestern versammelten sich darum, darunter ihre eigene Tante und Lehrerin Nevinia, Siphionas Lehrerin Laodomia und auch ihre Anführerin Sarissa, die Grafentochter. Als eine der letzten war selbst Thespia gekommen, die von den meisten im Zirkel schon lange nicht mehr gut gelitten war, beim Treffen aber traditionell geduldet wurde. Dass es vor allem ihrem fragwürdigen Verhalten zu verdanken war, dass der Zirkel seit einigen Jahren wieder verstärkt im Visier des Praios-Kults stand, war allen Anwesenden nur zu bewusst …
„Die Erdmutter erstarkt wieder, ohne Frage. Und das ist gut so, denn die Wunden des Sternenfalls verheilen langsam. Aber das Erstarken scheint nicht überall gleich ausgeprägt zu sein, sondern einen lokalen Ursprung zu haben. Und der liegt im Alten Bosparanischen Wald weiter nördlich, meine ich.“
Khorenas Worte ließen ihre Zirkelschwestern für einen Augenblick innehalten. Dulcinea wusste, dass niemand – schon gar nicht die eher städtischen Hexen – die Erfahrung ihrer Schwester, was etwa Belange des Waldes anging, in Frage stellte. Neben dem Knistern des Feuers im Hintergrund war das beipflichtende Schnurren von Khorenas Wildkater zunächst die einzige Reaktion auf ihre Worte.
„Wenn dem so ist“, griff Dulcineas Tante Nevinia den Gedanken dann auf, „muss uns die Jagd des Kaisers, die Horden von selbstgefälligen ‚Edelleuten‘ in den Wald bringt, aber umso mehr sorgen.“
„Und wir müssen uns fragen, was er selbst womöglich schon weiß und beabsichtigt. Denn trotz seiner Jugend ist der Horas ja nicht dumm.“
Das analytische Denken Simiaras, ihrer dem Hesinde-Tempel in Silas am nächsten stehenden Schlangenschwester, schien wie so oft ungewollt eine Handlungsrichtung zu empfehlen. Dass die jüngeren Hexen wie Dulcinea sich in Gesprächen von solcher Bedeutung eher zurückhielten und auf die Worte ihrer eigenen Lehrerinnen vertrauten, war daneben wenig verwunderlich.
„Ich weiß“, war es schließlich Sarissa, die Erste ihres Zirkels, die sprach, „es gehen Dinge vor sich, die wir in ihrer Gesamtheit noch nicht begreifen, was wir dringend ändern müssen. Ich werde deshalb einige von euch entsenden, die Geschehnisse im Alten Bosparan im Auge zu behalten, aus der Ferne, aber auch aus der Mitte dieser kaiserlichen Jagd. Wen, das werde ich im Laufe der nächsten Stunden entscheiden …“
Damit schien die Diskussion erstmal beendet zu sein, denn Sarissa gab das Zeichen, mit dem üblichen Zeremoniell des Treffens fortzufahren. Dulcinea sah im Feuerschein vor allem die abseits stehende Thespia beim letzten Satz der Grafentochter misstrauisch ihre Augen verkneifen. Vielleicht war gerade deren Anwesenheit jedoch auch der Grund dafür, dass Sarissa wohl lieber in Einzelgesprächen ihre Agentinnen in dieser Mission benennen wollte.
Dulcinea spürte, wie ihre Beine nach vielen Stunden des Rausches allmählich nachzugeben drohten. Die Rituale des Treffens, der Tanz und die Hingabe den magischen Strömungen gegenüber forderten unweigerlich einen körperlichen Tribut. Manchmal fragte sie sich, wie ihre dreißig oder vierzig Jahre älteren Schwestern dies durchhielten. Und doch war es weniger Erschöpfung als Euphorie, die sie erfüllte. Die Ausgelassenheit der Hexen hatte dabei erst nach dem Brauen der Flugsalbe ihren Höhepunkt erreicht, als das ‚schwarze Schaf‘ Thespia nämlich – wieder mit selbiger ausgestattet – wie zuletzt so häufig verfrüht die Rückreise (wohin auch immer) angetreten war.
Bevor ihre Knie unter ihr einknicken konnten, setzte sie sich nun auf einen der Findlinge in der Nähe des herunter brennenden Feuers. Siphiona, ihre einige Jahre jüngere Begleiterin am früheren Abend, saß bereits direkt daneben und schien ins Zwiegespräch mit ihrem kleinen Vertrautentier, der Roten Jungfer versunken zu sein. Dulcinea wusste, dass ihr eigener den Moment kaum erwarten konnte, da sie sich gemeinsam in die Lüfte erheben würden. Bis dahin saß er aber, wie sie ihn kannte, noch auf einem Ast am Rand der Lichtung. Sie lauschte aufmerksam, um möglicherweise seinen Eulenruf unter denen der anderen herauszuhören.
Den Drang sofort in die Lüfte aufzusteigen, bekämpfte sie jedoch noch, weil sie neugierig war. Neugierig, ob sie selbst zu den von Sarissa entsandten Agentinnen gehören würde …