Briefspiel:Kaiserjagd/Wenn Träume verblassen I
Wenn Träume verblassen I
1. Firun 1046 BF, auf dem Yaquir zwischen Vinsalt und Aldyra
Autoren: Amarinto, Carenio, Gerberstädter, Tribec, VivionaYaPirras
Dareius und Cariana
Dareius stand an der Bordwand der Flussbarke, das kühle Licht des ersten Tages im Firunmond spiegelte sich flackernd auf der Wasseroberfläche. Der sanfte Wellenschlag des Flusses tat wenig, um sein Unwohlsein zu lindern; sein Magen war wie ein Knoten, und sein Kopf schien von der letzten Nacht noch immer wie von einem Nebel umhüllt zu sein. Er versuchte, seine Gedanken zu ordnen, doch die Erinnerung an die Geschehnisse verwirrte ihn nur noch mehr. Baronessa Dalia Ollantur hatte ihn verführt, geschickt, voller List aber doch nicht wirklich gegen seinen Willen. Er würde sich nur selbst belügen, würde er behaupten er hätte die Nacht mit der Baronessa und den Kurtisanen nicht genossen. Eine berauschende Nacht voller Exzess und Verlangen, die nun eine zugleich angenehme und unangenehme Schwere hinterlassen hatte. Das Bild von Orleane schob sich vor sein inneres Auge, ihre warmen Augen, die ihn oft mit einer Sanftheit anblickten, die ihm Trost geboten hatte, als er es am meisten brauchte. Eine bittere Mischung aus Erregung, sich falsch anfühlender Zufriedenheit, Schuld und Reue lastete auf ihm.
Er atmete tief durch und schloss die Augen, doch das flaue Gefühl in seinem Bauch wollte nicht weichen. Die Kaiserjagd sollte der Höhepunkt dieses Winters werden, doch Dareius empfand nun eine Leere in sich, eine Leere, die auch die weichen Klänge des Wassers und die schöne, friedliche Morgenlandschaft Yaquiriens nicht zu füllen vermochten.
Geräusche von Schritten ließen ihn aufblicken, und als er sich umdrehte, sah er Cariana, seine Schwester. Sie wirkte blass, ihre Augen lagen tief in den Höhlen, und sie schien ebenso wie er von der vergangenen Nacht gezeichnet zu sein. Ein schwaches Lächeln legte sich auf ihre Lippen, als sie sich ihm näherte, doch es war von einer seltsamen Spannung durchzogen.
"Darf ich?", fragte sie, während sie an die Reling trat, ihre Hände legten sich auf das kühle Holz.
Dareius nickte nur und schwieg.
Eine Weile standen sie nebeneinander, die Stille war schwer und unangenehm, gefüllt von unausgesprochenen Gedanken. Cariana spürte, wie ihr Herz schneller schlug. Die Schuld nagte an ihr. Dareius war ihr Bruder, und doch hatte sie die Nacht mit Orleane verbracht – die ihm wirklich etwas bedeutete. Das hatte sie schon früh gespürt, nachdem sie in seine Dienste getreten war.
"Bruder ...", begann sie schließlich, ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.
Er sah sie von der Seite an, seine Augen voller Müdigkeit und doch neugierig.
"Ich ... wollte nur sagen, dass ... ich hoffe, du bist nicht allzu ..."
Sie stockte, wusste nicht, wie sie fortfahren sollte. Ihre Finger trommelten unruhig auf der Reling, ein leises Klopfen, das gegen die Stille anklopfte.
Dareius schüttelte leicht den Kopf, als würde er versuchen, ihre Worte zu verstehen.
"Was auch immer du sagen willst, Schwester, es ..."
Er seufzte, eine bittere Note schwang mit.
"Es war eine außergewöhnliche Nacht für uns alle."
Er wandte sich wieder dem Wasser zu, versuchte, seinen Blick ihr abzuwenden, als ihn die beschämende Erinnerung wie ein Blitz traf, dass er selbst sie mit lüsternen Augen betrachtet hatte.
Cariana schluckte schwer, ihr Blick suchte die Ferne, das endlose Blau des Flusses. Sie wollte ihm alles gestehen, wollte die Last der Schuld loswerden, doch die Angst vor seiner Reaktion hielt sie davon ab. Stattdessen nickte sie nur, die Worte blieben ungesagt. Sie standen eine Weile schweigend da, Bruder und Schwester, beide beladen mit ihren Geheimnissen und der Schwere der letzten Nacht, die zwischen ihnen wie eine unsichtbare Mauer hing.
Dareius spürte die Gegenwart seiner Schwester, spürte die Spannung, die zwischen ihnen lag, doch er wusste nicht, wie er die richtigen Worte finden sollte. Am Ende entschied er sich dafür, nichts zu sagen, nichts zu tun. Stattdessen konzentrierte er sich auf das sanfte Schaukeln der Flussbarke, ein tröstender, monotoner Rhythmus, der ihn wenigstens für einen Moment von der Last seiner Gedanken befreite. Er wusste, dass er sich mit all dem auseinandersetzen musste, wusste, dass er sich der Frage stellen stellen musste, warum es sich alles so richtig angefühlt hatte, doch jetzt so falsch. Doch nicht jetzt. Nicht hier. Die Kaiserjagd lag vor ihnen und mit ihr entscheidende Tage, die enorme Veränderungen mit sich bringen würden. Der Fluss trug sie weiter, und Dareius konnte nur hoffen, dass auch die Zeit und die Götter ihm ein wenig Klarheit über die Ereignisse der letzten Nacht und deren Folgen schenken mochten.
Orleane und Dalia
Auch Orleane ging es nicht gut. Und dies lag nicht nur an den Folgen der verabreichten Rauschmittel. Sobald die Kaiserjagd vorbei war, musste sie in ihren Büchern nachlesen, was die Baronessa ihnen allen verabreicht hatte. Baronessa Dalia Ollantur, eine Person, welche mit Vorsicht zu genießen war. Aber Dareius Amarinto sah in ihr eine zukünftige Verbündete.
Dareius. Sie war ihm bisher aus dem Weg gegangen, soweit es auf dieser Barke überhaupt möglich war. Ihm und seiner Schwester Cariana. Sie wusste noch nicht, wie sie den beiden unter die Augen treten sollte.
Bereute sie irgendetwas? Nein, im Gegenteil. Dachte sie über das Aufwachen in Carianas Armen nach, überkam sie ein seltsam wohliges Gefühl. Etwas, das sie vermisst hatte. Was sie das letzte Mal in der Nacht vor der Schlacht bei Sewamund gespürt hatte. Als sie die Nacht mit Dareius verbracht hatte. Er, dem sie so lange nicht mehr so nahe gekommen war. Und Cariana? Sie hatte ihr ihr Herz ausgeschüttet, sich ihr anvertraut. Hatte ihr über die schrecklichen Erlebnisse nach dem Sturm auf Amardûn erzählt und um ihre Hilfe gebeten. Und nun hatte sie es wohl noch schlimmer gemacht. Hatte Cariana gar Gefühle für sie? Trieb sie dadurch einen Keil zwischen die Geschwister?
Sie schaute auf die Rücken der beiden an der anderen Reling. Beide standen dort und schweigten sich an. Orleane konnte die Spannungen zwischen den beiden fast bis zu sich spüren. Sie verspürte den Drang zu ihnen zu gehen, um sie in den Arm zu nehmen, sie zu berühren und es fühlte sich falsch an.
Wieder diese Zweifel, dieses Unwohlsein. Konnte sie unter diesen Umständen überhaupt noch in seinen Diensten bleiben? Wäre es nicht besser, nach Efferdas zu gehen und dem Willen ihres Vaters nachzugeben?
Berytos von Malur war nicht unattraktiv und eine Verbindung zwischen den Häusern ya Pirras und Malur könnte sehr von Vorteil sein. Sie schüttelte den Kopf und verwarf diesen Gedanken wieder. Dies war genau das, was sie nie wollte.
Aber was wollte sie eigentlich?
Während Orleane ihren Gedanken nachhing, legte sich auf einmal eine helle, perfekt manikürte Hand, an der verschiedene teure Ringe blitzten, auf ihre Schulter. Neben ihr stand plötzlich die unheimlich frisch wirkende und von ungeahnter Energie erfüllte Baronessa. Ihre nahezu perfekte Hand streichelte sanft ihre Schulter, dann wandte sie sich direkt an Orleane. Die sonst so perfekt kuratierte Mimik war diesmal ungewohnt ernst, sie sah fast wie eine andere Person aus, vielleicht sogar wie die wahre Dalia Ollantur, die Frau hinter der Maske? Weiterhin stolz, jedoch auch ein wenig nachdenklich. Aber konnte man bei einer Meisterin der Schauspielkunst jemals sicher sein, was wahr und was nur eine sorgfältig geplante Maskerade war?
“Signora Orleane, auch wenn Ihr es vielleicht nicht glauben mögt, aber ich bewundere Euch. Ihr besitzt die seltene Gabe, die Menschen um Euch herum für Euch einzunehmen und ihr müsst dazu einfach nur Ihr selbst sein.”
Sie lächelte sanft. Ein Lächeln, welches sich deutlich von ihrem ansonsten kindlich-charmanten Lächeln abhob.
“Ihr denkt vielleicht, es bestünde eine Form von Konkurrenz zwischen uns beiden, aber nichts könnte weiter weg sein von der Wahrheit. Wir sind an sehr unterschiedlichen Dingen interessiert. Der Cavalliere hat Einfluss und sein Einfluss wird bald noch weiter wachsen. Ich gedenke mir diesen Einfluss zunutze zu machen, zu unserem beidseitigen Vorteil versteht sich. Was Ihr von ihm wollt, werde ich niemals anrühren. Das verspreche ich Euch.”
Die Situation fühlte sich unwirklich an, wie ein verblassender Traum der langsam mit der Realität verschmolz. Die Baronessa lächelte, das Lächeln war jedoch wieder das einer professionellen Schauspielerin, undurchdringlich wie eine Maske oder vielleicht sogar eher wie eine Rüstung.
Sanft, aber bestimmt schob Orleane die Hand der Baronessa von ihrer Schulter. Leise, auf dass es niemand in ihrer Umgebung mitbekam, richtete sie ihr Wort an Dalia.
“Ihr wollt mich zu alledem noch verhöhnen? Es ist mir egal, ob ihr mich angeblich bewundert oder was auch immer. Und natürlich gibt es eine Konkurrenz zwischen uns beiden. Um Euren Einfluss zu mehren, hätte es durchaus genügt, auf dem politischen Parkett zu bleiben. Aber nein, das hat Euch ja nicht gereicht.”
Langsam richtete Orleane sich auf. Ihr Gesicht war starr wie eine Maske. Keinerlei Gefühl oder Regung war zu sehen. Einzig ihre Augen funkelten die Baronessa an.
“Ihr wollt das, was ich von meinem Dienstherrn will, niemals anrühren? Das habt Ihr doch bereits getan, denn das eine kann ohne das andere nicht sein. Ihr habt die Nacht mit ihm verbracht. Hoffentlich habt ihr es genossen, denn mich macht der Gedanke daran krank.”
Orleane musste sich sehr beherrschen, der Baronessa ihren Schmerz nicht ins Gesicht zu schreien. Aber das wollte sie weder Dareius noch Cariana antun. Ihr Verhalten würde auf ihren Dienstherrn zurückfallen und auch auf ihre Eltern, die auch auf der Jagd zugegen waren. Dies konnte sie sich nicht leisten.
“Leider ist dieser Kahn nicht groß genug, aber sobald wir an Land sind, hoffe ich Euch nicht wieder so schnell zu begegnen. Haltet Euch an Eure Kavaliere oder Gespielinnen. An die, die Euch wohlgesonnen sind und lasst mich in Ruhe.”
Mit diesen Worten setzte sie sich wieder hin und würdigte die Baronessa keines Blickes mehr.
Die Baronessa lächelte sanft und trat nochmals einen Schritt an Orleane heran. Für einen kurzen, flüchtigen Moment war so etwas wie Rührung in ihrem Blick zu erkennen, ehe diese von den eingeübten Reflexen der Gesichtsmuskulatur hinweggefegt wurde.
“Ich hatte niemals die Absicht, Euch zu verhöhnen, Signora. Ihr habt den Luxus den Menschen helfen zu können, zu tun was euch Freude bereitet. Dafür beneide ich Euch. Ihr werdet sicher eines Tages verstehen, dass nicht alle so privilegiert sind und daher Entscheidungen treffen müssen, die verletzen. Einen selbst und andere. Schwelgt in diesem Luxus, solange ihr die Möglichkeit habt, die Zeit in der ihr meine Perspektive verstehen werdet, könnte schon bald gekommen sein.”
Sie beugte sich zu Orleane herunter und flüsterte dieser in Ohr: “Ich schulde Euch etwas, daher will ich Euch etwas geben. Was ihr damit macht, überlasse ich Euch selbst. Es ist ein Name …”
Sie ließ eine Kunstpause folgen und ihr Atem kitzelte in Orleanes Ohr. Für einen kurzen Moment erinnerte sie dieses Gefühl an die wundervolle, aber doch so verbotene Lust, die sie in der Nacht zuvor verspürt hatte.
“... Ursophyne de Maltris.”
Die Baronessa erhob sich lächelnd und deutete eine Verneigung an. Dann wandte sie sich um und schwebte geradezu in Richtung des Barons dil Cordori.
Orleane starrte weiter vor sich hin. Sie hatte die Worte der Baronessa vernommen, aber keinerlei Bedeutung beigemessen. Und dieser Name. Was hatte dieser zu bedeuten? Ursophyne de Maltris war ihr völlig unbekannt. Was sollte sie damit anfangen? Schweiß trat ihr auf die Stirn. Warum kann man sie nicht einfach in Ruhe lassen? Schwerfällig stand sie auf und wollte sich unter Deck begeben.