Briefspiel:Kaiserjagd/Wenn Träume verblassen V
Wenn Träume verblassen V
1. Firun 1046 BF, auf dem Yaquir zwischen Vinsalt und Aldyra
Autoren: Amarinto, Carenio, Gerberstädter, Tribec, VivionaYaPirras
Leonora und Orleane
Leonora Tribêc von Trebesco genoss einen Moment der Ruhe, als sie sich von Tsaida und Rahjane entfernte, um einen weiteren Apfel aus der Schale zu nehmen, die an einem kleinen Tisch nahe der Reling stand. Die süße Frische des Obstes half ihr, die Gedanken zu ordnen, die nach dem intensiven Gespräch mit Tsaida noch immer in ihrem Kopf kreisten.
Den Blick auf den Apfel gerichtet, schien es, als fiele ihr etwas ein. Sie blickte zu Orleane ya Pirras, die sich sichtlich müde und nachdenklich der Reling näherte. Leonora zog die Schultern zurück, sammelte sich kurz und sprach sie an.
„Signora ya Pirras, ein erfreulicher Zufall, Euch hier zu treffen.“
Leonora lächelte höflich und trat ein wenig zur Seite, um ihr Platz an der Reling anzubieten.
„Es ist eine Weile her, seit ich zuletzt mit Eurem Bruder Sarpedon gesprochen habe. Ich nehme an, Ihr habt ihn seit dem Turnier von Mortêc nicht mehr gesehen?“
Orleane wurde aus ihren Gedanken gerissen. Sie sah auf und blickte in Leonoras Gesicht. Kurz schien sie zu überlegen, wer da vor ihr steht. Doch dann klärte sich ihr Blick und sie erwiderte das Lächeln.
“Baronessa Leonora. Ich freue mich Euch wiederzusehen. Und ja, Ihr habt recht. Seit Eurer gemeinsamen Abreise aus Mortêc habe ich meinen jüngeren Bruder nicht wieder gesehen. Gerüchte sind an mein Ohr gedrungen. Erzählungen meiner Freundin aus dem Hause di Bellafoldi nach, ist er einem Orden beigetreten und versieht nun dort seinen Dienst an dem Götterfürsten. Also macht er genau das, wonach er immer gestrebt hat.”
Sie nahm den angebotenen Platz an der Reling ein und blickte auf das Wasser.
Leonora nickte mit dem Kopf, wobei ihr Lächeln aufrichtiger wurde.
„In der Tat, er ist nun Ritter der Ordensgemeinschaft vom blutroten Stab und Schwerte. Euer Bruder ist ein angenehmer Reisegefährte. Wir haben uns gut unterhalten, vor allem über die Herausforderungen und Pflichten, die unsere jeweiligen Ämter mit sich bringen. Er hat eine sehr klare Sicht auf die Dinge – eine Eigenschaft, die ihn wohl als Ritter auszeichnet. Ich habe den Eindruck gewonnen, dass er sich der Verantwortung seines Namens sehr bewusst ist.“
Leonora zögerte einen Moment, bevor sie fortfuhr.
„Und ja, er hat sich wohl gut eingefügt und zeigt Interesse an den Aufgaben vor Ort in Estoria. Die Baronie Tikalen mag zwar nicht das Zentrum der Macht sein, aber von Sarpedon scheint dies geschätzt zu werden. Wir hatten sogar ein paar interessante Diskussionen über die Lage an der Ostgrenze des Reiches und die Notwendigkeit, pragmatisch zu handeln. Ich glaube auch, ihm tut der neue Posten gut.“
Sie hielt ihren Apfel fast schon feierlich in die Höhe.
“Mein Bruder scheint Euch beeindruckt zu haben, Baronessa. Ja, pflichtbewusst ist er und noch wichtiger als sein Name ist ihm sein Glaube an den Herrn Praios. Es gibt sogar Stimmen, die behaupten es grenzt schon an Besessenheit und Fanatismus.” Ein Hauch von Ironie war in ihrer Stimme auszumachen. “Meine Eltern, werden diese Neuigkeiten mit Freunden vernehmen. Ein Ritter der Ordensgemeinschaft vom blutroten Stab und Schwert. Klingt imposant. Sagt, warum gehört er nicht zu Eurem Gefolge für die Jagd? Euren Worten nach scheint auch er viel von Euch zu halten, denn er führt mehr Gespräche mit Euch, als mit sonst jemanden aus seinem Haus.” Kurz hielt sie inne. “Als mit mir.”
Leonora musterte Orleane nachdenklich, bevor sie antwortete. Sie drehte den angeknabberten Apfel in ihrer Hand, als ob die Bewegung ihre Gedanken ordnen könnte, und wählte ihre Worte mit Bedacht.
„Euer Bruder hat tatsächlich einen starken Eindruck hinterlassen. Sein Glaube an Praios ist nicht nur eine Überzeugung, sondern eine treibende Kraft in seinem Leben. Es ist … faszinierend, wie klar seine Prinzipien sind. Vielleicht würde ich sogar sagen, er besitzt eine Reinheit, die nur wenigen Menschen zuteil wird. In einer Welt voller Grauzonen scheint er immer genau zu wissen, was richtig und was falsch ist.“
Sie hielt inne und biss nachdenklich in den Apfel, kaute langsam, während sie ihren Blick über das glitzernde Wasser des Yaquirs schweifen ließ. Ihre Stimme war ruhig, als sie weitersprach.
„Was die Kaiserjagd betrifft, so haben wir nicht darüber gesprochen. Es mag seltsam klingen, aber unsere Unterhaltungen drehten sich mehr um das Leben in Tikalen und die Pflichten, die mit unseren jeweiligen Positionen einhergehen. Er schien sich auf eine gewisse Art wohlzufühlen, vielleicht sogar ein wenig angekommen.“
Leonora wandte sich Orleane zu, ihre Augen suchten den Blick der anderen Frau.
„Aber ich muss zugeben, dass ich nicht viel über Euer Verhältnis zu ihm weiß. Ihr sprecht mit einer gewissen Distanz von ihm, und doch spüre ich eine Verbindung, die tiefer geht. Verzeiht, wenn ich zu direkt bin, aber … was liegt zwischen Euch?“
Die Baronessa legte den Apfel behutsam auf die Reling, als wolle sie ihre ganze Aufmerksamkeit auf Orleane richten. Ihr Tonfall war offen, ohne den Anschein von Neugierde, sondern von aufrichtigem Interesse.
Während sie sprach, verschränkte sie ihre Hände vor sich und lehnte sich leicht gegen das Holz der Reling. Die sanfte Brise des Flusses spielte mit ihren Haaren, aber sie schien es nicht zu bemerken, so sehr war sie auf die Antwort der ya Pirras konzentriert.
„Manchmal“, fuhr Leonora fort, „habe ich den Eindruck, dass Sarpedon das Gewicht der Welt auf seinen Schultern trägt, und dabei verkennt, wie sehr er von seiner Familie unterstützt wird. Glaubt Ihr, das ist der Fall? Oder täusche ich mich?“
“Sarpedon würde nie und nimmer jemanden um Unterstützung fragen, weder unsere Eltern, unseren Bruder oder sonst jemanden aus unserer Familie. Eher würde die Khom zufrieren. Er würde es als Schwäche ansehen, wenn er eine Aufgabe nicht allein bewältigen kann. Und Schwäche gibt es in seinem Wortschatz nicht. Lieber würde er unter seiner Last zerbrechen. Dabei würde jeder aus der Familie ihn unterstützen, wenn er dies benötigt.”
Tief atmete Orleane ein und aus, bevor sie weiter sprach.
“Was zwischen uns liegt? Dies kann ich Euch ganz einfach erklären. Ihr spracht von einer Reinheit, die er ausstrahlt. Dies ist gut beschrieben. Und genau diese, setzt er auch bei anderen voraus. Und nun ja, ich bin in seinen Augen nun einmal ein schwarzer Fleck.”
Orleane holte ein Amulett hervor, das sie an einer Kette um ihrem Hals trug.
“Natürlich achte auch ich die Gesetze und Lehren des Götterfürsten, wie jeder meiner Familie, doch gehört mein Innerstes ihm.”
Mit diesen Worten zeigte Orleane Leonora das Amulett. Es zeigte einen schwarzen Raben mit ausgebreiteten Flügeln.
“Der Dunkle Vater hat mir in einer schweren Zeit geholfen und noch heute fühle ich mich unter seinen Schwingen sicher und behütet. Und dies passt nicht in Sapedons Welt und dafür verurteilt und missachtet er mich.”
Langsam drehte sich Orleane um und legte ihre Hände auf die Reling.
“Dabei gehe ich, genau wie er, den Weg, den die Götter für mich ausgewählt haben, und ich bin überzeugt davon, das dieser der Richtige für mich ist.”
Sie wandte ihren Kopf zu Leonora.
“Ihr könnt dies sicher nicht verstehen, Baronessa, denn Euer Verhältnis zu Euren Geschwistern ist sicherlich ein anderes.”
Leonora betrachtete Orleane einen Moment schweigend, ihre Augen ruhten auf dem Amulett des schwarzen Raben, das so viel über die inneren Kämpfe der ya Pirras verriet. Die sanfte Brise des Yaquirs spielte mit den Locken Leonoras, ließ eine Strähne lose vor ihre Stirn fallen, doch sie schien es nicht zu bemerken. Mit einer bedachten Bewegung strich sie das Haar zurück, bevor sie mit ruhiger, fast sanfter Stimme sprach.
„Ich verstehe mehr, als Ihr vielleicht denkt, Signora ya Pirras.“
Sie lehnte sich leicht gegen die Reling, ihre Haltung dabei entspannt, aber aufmerksam, fast einladend.
„Auch ich habe Geschwister, und obwohl wir alle unter demselben Dach aufwuchsen, scheint es manchmal, als kämen wir aus völlig verschiedenen Welten.“
Leonora richtete den Blick wieder auf das Wasser, das im sanften Licht des Tages glitzerte, doch ihr Ausdruck war nachdenklich, fast melancholisch.
„Meine älteste Schwester Usvina ... Sie war eine Heldin, eine Veteranin der Dämonenschlacht. Aber was hat ihr das gebracht? Bitterkeit und eine Entfremdung von unserer Familie. Sie hat die letzten Jahre nicht mit unserem Vater gesprochen – Praios sei seiner Seele gnädig. Sie zog mit ihren Söldnern irgendwo durch die Wildnis, diente mal diesem, mal jenem Herrn, immer umgeben von Renegaten, die den gleichen Schmerz trugen wie sie.“
Ihre Finger trommelten einen Moment nachdenklich auf der Reling, bevor sie fortfuhr.
„Mein ältester Bruder hat sich ganz Praios verschrieben. Er ist Geweihter, gar Ucuriat, und so voller Licht, dass er kaum Schatten zulässt. Ein vorbildlicher Diener des Götterfürsten, aber ich habe oft das Gefühl, dass er Menschen wie Usvina, die aus diesem Licht gefallen sind, nicht mehr versteht. Vielleicht nicht einmal verstehen will.“
Leonora drehte sich leicht zu Orleane, ein fast entschuldigendes Lächeln auf den Lippen.
„Dann ist da Nurîm, meine Schwester, die wie ein Fels ist. Sie dient seit Jahren Prinz Ralman von Firdayon-Bethana als Adjutantin. Ihr Leben ist Dienst, Disziplin und offenbar völlige Enthaltsamkeit. Sie kennt kaum etwas anderes, und manchmal frage ich mich, ob sie überhaupt weiß, wie es ist, für sich selbst zu leben.“
Leonora hielt kurz inne und hob dann leicht die Hände, ein beinahe spielerischer Ausdruck erschien auf ihrem Gesicht.
„Und dann bin da ich. Die Jüngste, diejenige, die die Last der Verantwortung nur langsam trägt und sich immer noch fragt, wie sie den Erwartungen gerecht werden kann.“
Sie lachte leise, fast selbstironisch.
„Manchmal denke ich, dass meine Geschwister mich für leichtsinnig halten, weil ich es dennoch versuche.“
Ihr Blick wurde wieder ernster, als sie Orleane ansah.
„Aber wisst Ihr, was ich dabei gelernt habe? Jeder von uns trägt seine eigene Last. Und manchmal bedeutet Familie nicht, dass wir einander vollkommen verstehen, sondern dass wir einander so akzeptieren, wie wir sind. Das ist es, was ich mir für meine Geschwister wünsche, und vielleicht auch für Sarpedon und Euch.“
Ihre Augen funkelten mit Wärme, ihre Worte waren keineswegs ein höflicher Versuch, Orleane zu trösten. Dann griff Leonora wieder nach dem Apfel und biss ein letztes Mal hinein, mit herzhafter Kraft, die einen Kontrast zu den Themen des Gesprächs bildete.
„Um Eure Frage zu beantworten: Mein Verhältnis zu meinen Geschwistern? Es ist kompliziert. Aber ich glaube, das ist Familie immer, oder?“
Sie versuchte, die Schwere der Unterhaltung mit einem Augenzwinkern auszugleichen.
„Vielleicht sollte ich das nächste Mal, wenn ich meinen praiosgeweihten Bruder sehe, ein solches Amulett tragen. Nur um zu sehen, ob ich ihn ein wenig aus der Reserve locken kann.“
Leonoras verschmitztes Lächeln blieb, doch ihre Augen hielten die Tiefe ihrer Gedanken fest. Kurz darauf warf sie den Apfelrest mit Schwung in den Fluss, wo er leise platschte und von der Strömung davongetragen wurde. Sie ließ die Reling los, richtete sich auf, streckte sich leicht, der Stoff ihres Gewandes schmiegte sich kurz an ihre Figur, ein Gelenk knackte leise, bevor sie sich wieder gegen die Reling lehnte. Die Brise des Flusses spielte erneut mit ihrem Haar, das sich für einen Augenblick löste und über ihre Schulter fiel, ehe sie es abermals mit einer geschickten Bewegung zurückstrich. Dann ließ sie den Blick erneut über den Tisch mit den Speisen schweifen. Ihr knurrender Magen erinnerte sie daran, dass ein paar Äpfel kaum genug waren, um sie durch den Tag zu bringen. Sie nahm sich einen weiteren Apfel, dann ein kleines Stück Käse, und ergänzte das Mahl mit einem halbvollen Becher Wein.
Während sich Leonora bediente, warf auch Orleane einen Blick auf den Tisch, aber so richtiger Appetit wollte bei ihr nicht aufkommen. Eher das Gegenteil war der Fall. Ein leichtes Ziehen in der Magengegend machte sich bemerkbar und sie griff den Rand der Reling etwas fester an. Sie wollte sich aber nichts anmerken lassen und nahm das Gespräch wieder auf.
“Ich danke Euch für Eure Offenheit, Baronessa. Und ja, Familie kann sehr kompliziert sein.”
Sie lächelte Leonora an. Es sah gequält aus.
“Was Eure ältere Schwester angeht, wissen nur die Götter, was sie an der Trollpforte gesehen hat und wir sollten Praios dankbar sein, dass sie noch klaren Verstandes ist. Sie hat zumindest noch die Möglichkeit in den Schoß der Familie zurückzukehren. In Corden hatten wir einen Patienten mit weitaus weniger Glück.”
Ihre Gedanken schweiften ab ins Noionitenspital zu Tarino di Valentano und seinem Schicksal.
“Und Eure anderen Geschwister, gefangen in ihren kirchlichen oder weltlichen Pflichten, die sie sich selber auferlegt haben. Fern der Welt, die sie umgibt. Ist dies so erstrebenswert? Und ihr, Baronessa? Nach außen gefestigt, aber doch innerlich doch unsicher aufgrund der neu gewonnenen und ungewohnten politischen Macht. Wenn ihr mit Euren älteren Verwandten, besonders mit der werten Oberhofkämmerin sprecht, ist Eure Nervosität an dem Flackern Eurer Augenlider zu sehen. Entschuldigt, ich schweife ab. Und es steht mir nicht zu, so über Euch und Eure Geschwister zu reden. Verzeiht mir bitte.”
Beschwichtigend legte sie ihre Hand auf Leonoras Schulter, in der Hoffnung, dass sie sie nicht erzürnt hatte.
“Ich sollte mich nun besser zurückziehen, bevor ich mich um Kopf und Kragen rede. Genießt Eure Zwischenmahlzeit und ich hoffe, dass wir bald die Möglichkeit haben, dieses Gespräch auf eine andere Art und Weise fortzuführen.”
Leonora hielt inne, gerade als sie ein Käsestück in den Mund schieben wollte. Orleanes Worte überraschten sie, verärgerten sie aber nicht. Es legte sich ein nachdenklicher Ausdruck auf ihr Gesicht und sie ließ die Hand mit dem Käse sinken. Orleanes Hand auf ihrer Schulter, setzte sie ein warmes, fast nachsichtiges Lächeln auf.
„Signora ya Pirras, Ihr habt eine bemerkenswerte Beobachtungsgabe. Eure Besorgnis ehrt Euch, macht Euch aber bitte nicht zu viele Gedanken über meine Geschwister.“
Leonoras Haltung war entspannt, aber ein leiser, selbstbewusster Ton schwang in ihrer Stimme mit.
„Ich bewundere ihren Lebensweg, so verschieden er auch sein mag. Sie haben etwas, das viele nicht finden: eine klare Aufgabe und ein Ziel. Wer bin ich, das infrage zu stellen?“
Leonora lehnte sich wieder an die Reling, wobei ihre Bewegungen die ruhige Gelassenheit einer Person ausstrahlten, die es gewohnt ist, beobachtet zu werden.
„Was meine Unsicherheit betrifft, so weiß ich natürlich, dass ich noch viel zu lernen habe. Und ja, es mag sein, dass ich Fehler mache. Das halte ich für normal. Es ist schwer, nicht an sich zu zweifeln, wenn man mit Geschwistern oder anderen Verwandten konfrontiert wird, die so tun, alles im Griff zu haben.“
Ihr Lächeln wurde ein wenig kecker.
„Das Flackern meiner Augenlider könnte eher vom Sonnenlicht stammen als von tiefer Nervosität.“
Ihre Stimme wurde weicher, während sie fortfuhr.
„Tsaida ist mir um einiges voraus, sie kann bestimmt eine gute Lehrerin sein. Ich hoffe, dass sie eines Tages sagen kann, sie hätte etwas dazu beigetragen, aus mir eine würdige Vertreterin der Tribêcs zu machen.“
Leonora wandte sich leicht, sodass sie Orleane direkt ansehen konnte. Ihr Lächeln war jetzt ehrlich und offen, mit einem Hauch von Verspieltheit.
„Ihr müsst Euch nicht zurückziehen. Wir führen ein gutes Gespräch, und ich finde Eure offene Perspektive erfrischend. Bleibt doch einen Moment. Ich gebe zu, Ihr habt mich neugierig gemacht. Erzählt mir mehr von Euch, über Eure Arbeit – sie scheint zutiefst prägend zu sein.“
Mit einer eleganten Bewegung griff sie nach einem weiteren Stück Käse und bot es Orleane an.
„Ihr werdet sehen, dass die Welt an Deck viel freundlicher ist, wenn man sie mit einem Stück Käse in der Hand betrachtet.“
Dankend nahm Orleane das angebotene Stück Käse entgegen und biss ein kleines Stück ab.
“Nun, was hat sich nach unserem letzten Treffen in Mortêc ergeben? Ich habe das Noionitenspital in Corden verlassen und bin, auf dessen Bitte hin, in die Dienste von Cavalliere Dareius Amarinto getreten und arbeite nun als Dottora für das Haus Amarinto. Dabei kommen mir meine, auf der Universität Methumis, erworbenen Kenntnisse in der Heilkunde für Körper und Seele zu Gute. Anders als in Corden ist die Arbeit für die Amarintos vielfältiger. Ich muss zugeben, dass es in Corden um einiges ruhiger, aber dafür umso eintöniger war. Durch die unruhige Zeit in Sewamund wurde ich auch auf verschiedenste Art und Weise gefordert und musste bis an meine persönlichen Grenzen gehen. Leider kann ich Euch nichts Genaueres davon erzählen, da ich über gewisse Dinge Stillschweigen geschworen habe. Nur soviel, die Schlacht vor Sewamund gegen die Truppen des Irion von Streitebeck und die Geschehnisse in dessen Sog haben mich verändert. Als Heilerin, als Seelenheilkundige, aber auch als Mensch. Einige meiner Ansichten haben sich bestätigt, einige musste ich revidieren. Aber es hat mir gezeigt, dass meine Zeit des Lernens noch lange nicht vorbei ist. Dabei unterstützt mich mein Dienstherr nach Kräften. Bücher, Exkursionen, Kräuter ... er stellt mir einiges zur Verfügung, um mich weiterzubilden. Schließlich kommt es auch ihm zu Gute.”
Orleane konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Sie biss ein weiteres Stück von dem Käse ab. Der Geschmack erinnerte sie an etwas. Würzig duftend und eine leichte salzige Note. Vendraminer aus der Malurer Gegend. Ein Stück Erinnerung aus der Zeit in Methumis.
“Ich würde mir auch einen kleinen Schluck Wein gönnen. Wünscht ihr noch etwas, Baronessa?”
Leonora lächelte, als Orleane den Käse kostete. Sie schüttelte zur Antwort leicht den Kopf, nahm den Krug und füllte zwei Becher mit Wein, bevor sie Orleane einen reichte.
„Ein Schluck Wein ist sicher genau das Richtige, um das Gespräch abzurunden.“
Sie hob ihren Becher leicht, bevor sie einen Schluck nahm. Der Wein verströmte in ihr angenehme Wärme, Leonora hielt daher den Becher einen Moment in der Hand, bevor sie fortfuhr.
„Eure Worte über Euren Dienst und die Erfahrungen in Sewamund erinnern mich an meinen Vater, Pulpio Tribêc. Er war ein Mann, der das Leben in allen Aspekten genaß – vielleicht ein wenig zu sehr, würde Tsaida sagen.“
Sie lachte leise in einer Mischung aus Nostalgie und Humor.
„Er liebte gutes Essen. Wenn er am Tisch saß, wurde jede Mahlzeit ein Fest. Doch hinter diesem Lebenswandel steckte ein Mann von großer Erfahrung. Er sagte oft: ‚Leonora, der Mensch lernt am meisten, wenn er am tiefsten gefordert wird. Aber vergiss nie, dabei das Leben zu schmecken.‘ Ich glaube, er hätte Gefallen an Eurer Einstellung gefunden, dass das Lernen nie endet – solange man ab und zu einen guten Käse und einen Tropfen Weins zu schätzen weiß.“
Leonora nippte erneut an ihrem Wein, ihre Augen glitten über das Deck der Flussbarke, das sanfte Schaukeln des Schiffes trug ihre Gedanken für einen Moment fort. Dann kehrte ihr Blick zurück zu Orleane, mit einem Hauch von Vorfreude.
„Die Kaiserjagd, zu der wir unterwegs sind, wird zur Prüfung für uns alle, auf ganz unterschiedliche Art. Für mich ist sie die Gelegenheit, meine Stellung zu festigen und den Namen meiner Familie zu ehren. Für Euch vielleicht eine Gelegenheit, die Bande zu Eurem Dienstherrn zu stärken und Eure Fähigkeiten weiter unter Beweis zu stellen.“
Sie lehnte sich ein wenig vor, ihre Stimme nahm einen vertraulicheren Ton an.
„Aber ich hoffe auch, dass wir die Tage dazu nutzen können, ein wenig Freude zu finden, trotz Politik und gesellschaftlicher Erfordernisse. Ich habe gehört, Herzog Cusimo hat ein Auge für Details, wenn es um die Ausgestaltung solcher Ereignisse geht. Es wird sicher Gelegenheiten geben, die Pflicht beiseite zu legen, spätestens nach der eigentlichen Jagd.“
Sie leerte den Becher.
„Wir dürften bald da sein. Wenn Ihr nichts dagegen habt, werde ich mich auf die Ankunft vorbereiten. Ich nehme an, die Jagdgesellschaft hat bereits erste Späher ausgesandt. Es wäre ein Jammer, den ersten Eindruck zu verpassen, oder?“
Sie zwinkerte und griff erneut nach einem Apfel.
Orleane nahm den Becher Wein dankend entgegen und nippte kurz daran. Nach dem gestrigen Abend sollte sie besser nicht so über die Stränge schlagen. Aber die Höflichkeit gebot es so. Aufmerksam hörte sie der Baronessa zu. Als es auf die Bande zu ihrem Dienstherrn zu sprechen kam, schaute sie kurz verstohlen in seine Richtung und sah ihn in ein Gespräch mit Dimiona della Carenio vertieft. Dann erblickte sie auch Cariana Amarinto. Mit einem Mal wurde ihr Herz wieder schwer, aber sie verwarf diesen Gedanken wieder, als ihr Blick Leonora traf. Sie durfte sich nichts anmerken lassen und bei der ansteckenden Vorfreude der Baronessa konnte sie nicht anders, als ihr Lächeln zu erwidern.
Freude zu finden trotz Politik und Verpflichtungen, das hatte sie in den letzten Tagen wahrlich genug und das Band zu ihrem Dienstherrn war ein Thema für sich. Aber sie wusste Leonoras Unbekümmertheit zu schätzen.
“Auch ich werde mich wohl auf die Ankunft vorbereiten müssen, Baronessa. Cavalliere Amarinto wird gewiss sofort seine Vorbereitungen für die Jagd treffen. Ich hoffe sehr, dass sich in den nächsten Tagen weitere Möglichkeiten ergeben werden, um unser Gespräch fortzusetzen, obwohl wir bei der Jagd auf gegnerischen Seiten stehen werden. Darauf erhebe ich meinen Becher”, sprach Orleane und prostete ihr zu.